Der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 – Drei plus X

Phantombilder Heilbronn Kontext

Der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007, der dem neonazistischen NSU zugeschrieben wird, weist vier Besonderheiten auf.

• Alle vorliegenden Indizien und Hinweise führen zu Tätern, die nicht mit den namentlich bekannten NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos identisch sind.

• Mit den Phantombildern, die mithilfe des schwerverletzten Polizisten und anderer Zeugen erstellt wurden, wurde nie öffentlich gefahndet. Warum?

• Wenn der Geheimdienst polizeiliches Vorgehen hintergeht, dann ist das ärgerlich und gewollt. Wenn Geheimdienste hingegen bei der Aufklärung eines Mordanschlages auf Polizisten ein Problem werden, dann gerät die institutionelle Hierarchie ins Wanken.

• Nach diesem Mordanschlag bricht die Terror- und Mordserie des NSU ab. Gibt es einen Zusammenhang?

 

  Am 25. April 2007 waren die beiden Polizeibeamten, Michèle Kiesewetter und Martin Arnold »im Rahmen des sogenannten Konzeptionseinsatzes ›Sichere City‹ zusammen mit weiteren Kollegen der Bereitschaftspolizei in Heilbronn (eingeteilt). Es gab keinen konkreten Auftrag für die Beamten, die ab 13.00 Uhr auf Streife gewesen sind. Sie sollten in der Heilbronner Innenstadt polizeiliche Präsenz zeigen und Kontrollen von verdächtigen Personen und Fahrzeugen durchführen.« (Polizei Heilbronn)


Über den Tatablauf der tödlichen Ereignisse gab die Polizei weiter bekannt, dass die beiden Beamten auf der Theresienwiese eine Mittagspause gemacht hatten, als sie gegen 13.55 Uhr von unbekannten Tätern angegriffen wurden. Martin Arnold wurde schwer verletzt, die Beamtin Michèle Kiesewetter starb noch am Tatort.


Die Motive flogen wie Herbstblätter durch die Zeitungslandschaft: »Die Fahnder leuchten viele Milieus aus. Mal suchen sie die Täter unter Obdachlosen, dann in den Zirkeln der organisierten Kriminalität, auch Sinti- und Roma-Familien werden in den Blick genommen. Von einem Fall simpler Beschaffungskriminalität ist auch immer einmal wieder die Rede. Für einen rechtsextremistischen Hintergrund gab es nie Hinweise, zumindest wurden sie von der Polizei nicht öffentlich gemacht.« (FAZ vom 8.11.2011)


Nicht viel später stellt sich das Phantom, nach dem man monatelang suchte, als eine Ente heraus. Das Wattestäbchentheater. Danach verschwand der Mordanschlag aus den Schlagzeilen.


Bis zum Jahr 2011 galt der Mordanschlag auf die beiden Polizisten als unaufgeklärt. Dann kam die überraschende Wende. Im ausgebrannten Campingwagen der beiden NSU-Mitglieder, die sich dort das Leben genommen haben sollen, werden neben zahlreichen Waffen, auch die fehlenden Dienstwaffen gefunden. Damit scheint bewiesen zu sein, dass der Mordanschlag in Heilbronn 2007 ebenfalls auf das Konto des NSU geht. Als Motiv wird ein Anschlag auf »zwei Repräsentanten des Staates« genannt, was suggerieren soll, dass die Polizeibeamten zufällig als Opfer ausgesucht wurden. Es sollte also keinerlei Verbindungen zwischen den Polizeibeamten und den Tätern gegeben haben.


Woher kennen Ermittler und Generalbundesanwaltschaft das Motiv der Täter?


Warum sollten NSU-Mitglieder wahllos Polizisten ermorden, auf die Gefahr hin, dass sie Polizisten töteten, die möglicherweise ihre rassistische und/oder neonazistische Gesinnung teilten? Warum sollten NSU-Mitglieder ausgerechnet in Heilbronn, in Baden-Württemberg Polizisten ermorden, wo gerade dort zahlreiche Polizisten Mitglieder des Ku-Klux-Klans waren? Warum sollen NSU-Mitglieder plötzlich etwas machen, was sie neun Jahre nicht getan haben?

Fragen, die doch recht naheliegend sind und von den Ermittlern weder gestellt, geschweige denn beantwortet wurden.


Bei einem Anschlag auf Polizisten darf man davon ausgehen, dass nicht ›Pannen‹ die Ermittlungen leiten, sondern der unbedingte Willen, den Mordanschlag auf Kollegen aufzuklären. Umso überraschender ist der Aufwand, mit dem auch in diesem Fall die Verhinderung der Aufklärung betrieben wurde. Ein Umstand, der fürs Erste schwer zu erklären ist.


Die beiden Polizeibeamten hatten ihre Mittagpause nicht auf der allseits beliebten Theresienwiese gemacht: »Die Heilbronn-Ermittler sagen, Kiesewetter und ihr Kollege wurden erschossen beziehungsweise verletzt, als sie auf der Theresienwiese in Heilbronn Mittagspause machten. Die Bewegungsdaten der beiden Beamten an jenem Tag sagen möglicherweise anderes. Danach machten sie bereits um 11:30 Uhr an dem Trafohaus auf dem Festplatz eine Pause. Anschließend fuhren sie zu einer Schulung ins Polizeipräsidium. Um 13:45 Uhr machten sie sich von dort wieder auf den Weg mit direktem Ziel Theresienwiese, wo sie etwa um 13:55 Uhr eintrafen. Kurz danach wurden sie angegriffen. Waren sie vielleicht sogar mit den Tätern verabredet?« (kontextwochenzeitung.de vom 19.6.2013)


Ein weiterer Umstand stellt sich fünf Jahre später deutlich anders dar: Bis dahin ließ man die Öffentlichkeit wissen, dass es keine Hinweise gab, die zu den möglichen Tätern führten.


Sowohl Polizei als auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft wissen es seit über fünf Jahren besser: Martin Arnold wurde schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Als er in der Lage war, sich an das Geschehene zu erinnern, schilderte er, dass er eine Person im Rückspiegel gesehen habe, bevor er von dieser schwerverletzt wurde.


Mithilfe seiner Erinnerungen wurde ein Phantombild erstellt – was für eine Fahndung nach den möglichen Tätern mehr als hilfreich ist. Dann passierte wieder einmal etwas recht Ungewöhnliches: Das Phantombild wurde nie veröffentlicht: »Die zuständige Staatsanwaltschaft untersagte damals die Veröffentlichung der Phantomzeichnung. Den Unbekannten konnte es nicht geben, schließlich jagte der gesamte baden-württembergische Ermittlungsapparat längst eine angeblich durch die Lande reisende Killerin, das ›Phantom‹ von Heilbronn.« (stuttgarter-zeitung.de vom 29.08.2013) 

Warum wurde mit dem einzig konkreten Hinweis auf die Täter nicht gefahndet?


»Die Redaktion (der Südwest Presse, d.V.) konnte in die geheimen Ermittlungsakten zum Polizistenmord blicken: Die Zeugen berichten von bis zu sechs Tätern – tatsächlich passt nicht ein Phantombild zu Böhnhardt, Mundlos oder Zschäpe. Es sind Aussagen und Phantombilder abgedruckt, die vom Polizisten Martin A. stammen – dabei wird von den Behörden kommuniziert, er könne sich nicht an die Tat erinnern. Im geheimen Bericht der Sonderkommission ›Parkplatz‹ ist vermerkt, A. habe ›klare und konkrete Erinnerungen‹. (Südwest Presse vom 10.6.2013)


Auch die Internetzeitung ›Kontext‹ hatte Einblick in die Ermittlungsakten:


»Kontext konnte mehrere Phantombilder aus den Ermittlungsakten einsehen. Das Bild, das nach Angaben von Martin A. von dem Mann erstellt worden war, der sich den beiden Polizisten auf seiner Wagenseite näherte, zeigt weder Mundlos noch Böhnhardt. Auch die anderen Phantombilder, die die Polizei aus Zeugenaussagen erstellen ließ, ähneln den beiden Männern nicht.« (kontextwochenzeitung.de vom 19.6.2013)


Warum leugnen bis heute Polizei und Ermittler, dass sich der schwer verletzte Polizeibeamte Martin Arnold sehr wohl erinnern konnte? Was störte an seinen Erinnerungen, die alles andere als vage waren: »›Er hatte klare und konkrete Erinnerungen an die Situation, die er sich immer wieder vor seinem inneren Auge abrief und beschrieb‹, hielten die Ermittler zur Erstellung des Phantombildes mit Arnold fest.« (Kontext vom 17.7.2013)


Warum wurde nicht mit den Phantombildern, die andere Zeugen erstellt hatten, gefahndet? Warum wurde alles unternommen, um den Mordanschlag nicht aufzuklären?


Dass mit den erstellten Phantombildern nicht öffentlich gefahndet wurde, ist die eine Sache. Ganz sicher jedoch wurden die Phantombilder mit den Fotos abgeglichen, die in den zahlreichen Dateien der Polizei und des Verfassungsschutzes liegen. Was hat dieser Abgleich ergeben? Passierte etwas Ähnliches wie mit der Telefon- und Adressliste, die 1998 in der Garage in Jena gefunden wurde? Eine Telefon- und Adressliste, die deshalb verschwinden musste, weil diese Telefon-und Adressliste nicht nur zu Neonazis geführt hätte, sondern auch zu vier V-Leuten.


Fest steht eines: Die Phantombilder ähneln weder Uwe Mundlos noch Uwe Böhnhardt. Fest steht auch, dass einige Phantombilder Neonazis ähnlich sind, die auch der Polizei und dem Verfassungsschutz (gerade in Baden-Württemberg) sehr bekannt sind. 

 

Wenn Ermittler Spuren und Hinweisen nicht nachgehen, die den Mordanschlag an Kollegen aufklären können, wenn sie ihren eigenen Kollegen entmündigen, dann handelt es sich nicht um eine Panne. Es müssen Umstände sein, die schwerer wiegen als eine tote Polizistin und ein schwerverletzter Polizist zusammen.


Alleine die uns hier vorliegenden Indizien sind von einer Brisanz, die das ganze Konstrukt vom ›Zwickauer Terrortrio‹, von einer neonazistischen Terrorgruppe aus exakt drei Mitgliedern als verantwortliche für diesen Überfall, ad absurdum führen würde.


Mit den Phantombildern ist belegt, dass an dem Mordanschlag auf die beiden Polizisten mehr als die bisher benannten Mitglieder des NSU beteiligt waren – jenseits der Frage, wo sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum Zeitpunkt der Tat aufgehalten hatten. Diese Annahme wird durch Aktenvermerke verstärkt, wonach Zeugen gesehen haben, dass sich ein blutverschmierter Mann in der Nähe des Tatorts zu einem Audi 80 geschleppt und dabei dem Fahrer etwas zugerufen habe, was dem osteuropäischen Sprachraum zugeordnet wurde.


Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, dass Polizei und Ermittler nicht jeder verdächtigen Spur, nicht jedem Tatverdacht folgten. Sinn macht dies nur, wenn am Ende dieser Spuren Personen (und Zusammenhänge) stehen würden, die man – aus welchen Gründen auch immer – schützen will und muss.


Drei plus X


Das würde jedenfalls den geradezu kafkaesken Umgang mit der V-Frau ›Krokus‹ erklären, die seit einem Jahr darum ringt, nicht länger als V-Frau des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg verleugnet zu werden.


Für gewöhnlich schützen Verfassungsschutzämter ihre V-Leute. In diesem Fall wird sie bedroht – vom LfV Baden-Württemberg und von Neonazis, die sich von ihr verraten fühlen. Der Grund ist einfach und gefährlich: Sie ist eine Quelle, die es nicht geben darf.


Für die Öffentlichkeit und die verschiedenen Untersuchungsausschüsse gab es die V-Frau ›Krokus‹ jahrelang nicht, die seit Oktober 2006 für den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg gearbeitet hatte. Angesetzt war sie auf Neonazis. Ihren Zugang zur Neonaziszene rund um Schwäbisch Hall bekam sie durch einen ›unglücklichen‹ und ›ärgerlichen‹ Umstand: Ihre langjährige Freundin liierte sich mit einem führenden Neonazi dieser Gegend: mit dem NPD-Funktionär Matthias Brodbeck. Der Umstand, dass ›Krokus‹ selbst keine Neonazi-Frau war, war für den LfV geradezu ideal: Ihre Informationen wurden als vertrauenswürdig und sicher eingestuft: »›Dem Grunde nach handelt es sich bei Informant ›Krokus‹ um die ›geborene Quelle‹. Sie ist zuverlässig, verschwiegen und überaus einsatzwillig (...)‹, heißt es in einem vertraulichen Papier. Die V-Frau wurde intern stetig besser beurteilt, von Glaubwürdigkeitsstufe F bis hinauf zur zweitbesten Bewertung B.« (spiegel.de vom 13.6.2013) 


Dank dieses persönlichen Zugangs konnte sie sehr detaillierte Berichte und Mitteilungen über die Neonaziszene machen. Den sicherlich größten Fund machte sie, als sie wenige Tage nach dem Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn ihrem V-Mann Führer berichtete, dass es einer Neonazi-Frau gelungen war, den geheim gehaltenen Ort des schwerverletzten Polizeibeamten Martin Arnold herauszubekommen. Diese Frau arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus in Ludwigsburg, wo Martin Arnold zuerst untergebracht war.


Dass dieser Hinweis so zuverlässig und glaubwürdig war, wie ihre Informationen zuvor, unterstreicht ein weiteres Indiz: »Auf der bekannten Adressliste des NSU-Mitglieds und mutmaßlichen Mörders Uwe Mundlos, die 1998 in der Garage in Jena gefunden, aber nie ausgewertet wurde, sind mehrere Namen aus Ludwigsburg aufgelistet. Darunter eine Frau, die tatsächlich als Krankenschwester im Klinikum Ludwigsburg gearbeitet hat.« (Thomas Moser/Kontextzeitung vom 19.6.2013) 


Die Bedeutung dieser Mitteilung liegt auf der Hand: ›Krokus‹ würde bezeugen können, dass der Verfassungsschutz frühzeitig davon wusste, dass Neonazis in den Mordanschlag in Heilbronn verwickelt waren. Von genau dieser Spur wollen aber die Ermittlungsbehörden bis heute nichts gewusst haben.


Unauffindbar und unaufhaltsam? 


Die unterschlagenen und bis heute nicht verfolgten Spuren, die auf weitere neonazistische Beteiligte und/oder Mitglieder des NSU, verweisen, ist die eine Seite.


Es gibt jedoch noch eine andere dunkle Seite, die alle Ermittler geradezu elektrisieren müsste, wenn es um Aufklärung ginge. Warum bricht die Mordserie der NSU auf ›Ausländer‹ mit dem Mordanschlag auf die beiden Polizeibeamten 2007 ab? Gehen wir von der offiziellen Version aus, dann hatten die Ermittler keine Spur zu neonazistischen Tätern! Dann gab es für den NSU weder Fahndungsdruck, noch die Angst, aufzufliegen. Dann wäre nur noch eine Frage zu beantworten: Warum sollte der NSU mit seinen Morden aufhören, nachdem der Überfall auf die beiden Polizisten erfolgreich ausgeführt wurde. Was hat sie davon abgehalten, weiterzumachen, wenn sie niemand aufhalten konnte?


Lebendige Schatten


Der damals schwerverletzte Polizeibeamte Martin Arnold wird im NSU-Prozess in München als letzter Zeuge geladen. Das Innenministerium will an der Entmündigung des Polizisten festhalten: »Im Innenministerium Baden-Württemberg sieht man der Vernehmung des Polizisten A. mit Unbehagen entgegen. Die Landespolizeiführung, so ein Sprecher, werde das Gericht ausdrücklich auf die ›Traumatisierung‹ des 31-Jährigen hinweisen.« (stuttgarter-zeitung.de vom 29.08.2013)


Was es mit dieser Art von Fürsorgepflicht auf sich hat, worum es tatsächlich gehen könnte, formulieren zumindest die Freunde von Martin Arnold: »Aus dem Umfeld des Kommissars A. wird berichtet, ihn quäle die Vorstellung, was wäre, wenn sein Attentäter noch frei herumlaufe.« (s.o.)

 

Hat der wiedergenesene Polizist Martin Arnold gute Gründe, seinen eigenen Kollegen zu misstrauen und Angst davor, diese öffentlich zu äußern?


Wolf Wetzel


Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?  

Unrast Verlag 2013