Wutbürgerinnen mit Kopftuch: In Hamburg-Altona hat sich ein nachbarschaftlicher Protest gegen Polizeikontrollen von Jugendlichen mit migrantischem Aussehen formiert
Von Christoph Twickel
Getränkekisten stehen herum, ein paar Rohrstühle mit blauem Plastikbezug
– das Hinterzimmer des Azra-Kiosk ist kein wirtlicher Ort. Aber es ist
der einzige im Viertel, in dem sich Mustafa Yeltan, Marlon Esteban und
Pio Mussa, alle Anfang zwanzig, willkommen fühlen. »Hier sind alle Orte
verschwunden, wo wir immer gechillt haben«, sagt Mustafa, der gerade
seine Ausbildung als Fahrzeuglackierer abgeschlossen hat. Die Bolzplätze
an der Holstenstraße? Da steht heute ein Erlebnisbad und ein
Schulneubau. Der ehemalige Gewerbehof mit der Moschee und dem türkischen
Kulturverein? Abgerissen für Wohnungsneubau. Und die Reeperbahn? »Du
kommst ja nirgendwo rein als Schwarzkopf«, sagt Mustafa. Früher gab’s
noch den »Passion Club«, da waren sie willkommen. »Wissen Sie, wie sie
den genannt haben? Kanakendisko, « sagt Pio.
Keiner will sie haben, die Schwarzköpfe: Das ist das Gefühl unter den
männlichen Jugendlichen vom Azra-Kiosk in Altona-Altstadt. Seit der
Nacht vom 11. auf den 12. Juli kennt ganz Hamburg das Gebiet als
»Stolperviertel«. So titulierten Zeitungen – einer Pressemeldung der
Polizei folgend – das Viertel, in dem die »Krawallnacht an der
Holstenstraße« (Hamburger Abendblatt) stattfand. »Jugendliche und
Anwohner attackieren Polizisten« – titelte die Welt. »Randale-Mob greift
Polizei an« schrieb die Hamburger Morgenpost.
Weg versperrt
An jenem Abend hatten sie sich – wie immer während des Fastenmonats
Ramadan – gegen halb elf nachts am Azra Kiosk getroffen, um dann im Park
zum Fastenbrechen zu gehen. Plötzlich hätten ihnen zwei Dutzend
Polizisten den Weg versperrt und ihre Ausweise verlangt. »Die meisten
von uns waren an dem Tag schon zwei oder drei Mal kontrolliert worden«,
sagt Pio. »Also haben wir gesagt: Nein, machen wir nicht, laßt uns in
Ruhe!« Ein Wort gab das andere, die Polizisten kesselten sie ein und
erzwangen die Personalienfeststellung – mit Pfefferspray, Handschellen
und Schwitzkasten. Die Nacht endete mit 16 Festnahmen, einem Nasenbruch,
einem ohnmächtigen Jugendlichen und anderthalb Dutzend Anzeigen wegen
Beamtenbeleidigung, Landfriedensbruch und Widerstand gegen die
Staatsgewalt. Die Polizei erklärte zunächst, man habe die Jugendlichen
kontrolliert, weil sie mit Laserpointern Beamte geblendet hatten. Später
war von geblendeten Autofahrern die Rede. Gefunden wurden die
Laserpointer nicht.
Eltern, Freunde und Anwohner kamen dazu, um zu protestieren. Und
natürlich waren auch Lokalreporter vor Ort. »Nicht daß sie wieder
schreiben von Salafisten und Islam«, bittet ein Jugendlicher in einem
Youtube-Video der Dokuaktivisten von »Utopie TV«. Es half nicht viel.
»Drohen uns bald Verhältnisse wie in Paris?« fragt etwa die Hamburger
Morgenpost in Anspielung auf die Banlieue-Riots von 2005.
Problemstadtteil Hamburg-Altona? Eben gerade nicht. Vielmehr erlebt der
Stadtteile eine rasante Gentrifizierung. »Altona-Altstadt gehört zu den
beliebtesten Wohnstandorten der Stadt« jubiliert ein Immobilienfonds,
der keine 200 Meter vom Kiosk entfernt 65 Eigentumswohnungen plant. Im
Viertel boomen Wohnprojekte und Baugemeinschaften. Der »Bauverein der
Elbgemeinden« hat vis-à-vis vom Kiosk schicke Miet- und
Eigentumswohnungen errichtet. Früher war dort die Grundschule, die
Mustafa, Marlon und Pio besucht haben. »Die kontrollieren uns wegen den
ganzen Neubauten«, glaubt Pio. »Die wollen den Yuppies zeigen, daß hier
alles sicher ist.«
Tatsächlich fanden allein in den beiden Tagen vor der berüchtigten Nacht
47 Identitätsfeststellungen und 17 Platzverweise statt, wie eine
Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft ergeben hat.
Polizeilicher Alltag sei das, meint Wolfgang Brand, Leiter der
Schutzpolizei. Schon 2012 hätte man einen »Schwerpunkteinsatz« in dem
Gebiet gefahren. »Damals hat das gar kein Aufsehen erregt.«
Kragen geplatzt
Dieses Mal ist es anders. Dieses Mal ist nicht nur den Jugendlichen,
sondern auch Eltern und Anwohnern der Kragen geplatzt. Auf einer
Versammlung im nahegelegenen August-Lütgens-Park macht sich am Sonntag
nach den Ereignissen die Empörung Luft. Mütter mit Kopftuch, bärtige
Väter mit türkischem Akzent, Kids mit kurzrasiertem Haarschnitt: Zu Wort
melden sich die, die die deutsche Mehrheitsgesellschaft gerne als
integrationsunwillige Problemfälle taxiert. Sie schimpfen über
Polizeiwillkür gegen »unsere Jugendlichen« und über die Medien. Laut
Welt soll einer der Azra-Kids gerufen haben: »Der nächste Polizist, der
das Stolperviertel betritt, ist tot.« Stolperviertel? Diese Bezeichnung
hat von den über 200 Nachbarn noch nie einer gehört. Ein 11jähriger
Junge berichtete darüber, wie ihm ein Zivilpolizist seinen Fußball
abgenommen und in den Müll geworfen hat. Warum? Jemand hatte sich über
eingeschossene Fensterscheiben beschwert.
Racial Profiling ist in Deutschland zunehmend ein Thema. Meist ist es
der Hartnäckigkeit einzelner Betroffener zu verdanken, daß rassistisch
motivierte Polizeikontrollen und Übergriffe in die Medien kommen – etwa
der Fall des schwarzen Architekturstudenten aus Kassel, der gegen eine
Polizeikontrolle im Zug geklagt und im Oktober 2012 in zweiter Instanz
Recht bekam. An den Altonaer Protesten ist bemerkenswert, daß sie
kollektiv und nachbarschaftlich entstanden sind.
Über 1000 Menschen kommen am 20. Juli zu einer Demonstration unter dem
Motto »Es gibt hier kein Problem mit der Sicherheit – es gibt ein
Problem mit der Polizei!« Für viele ist es die erste Demo ihres Lebens.
Vom Lautsprecherwagen aus bringt der Rapper Nate57 aus dem benachbarten
Karoviertel seinen Hit »Immigranten«: »Und ich frag mich wann werden wir
akzeptiert / Wann werden sie gegen uns den Haß verlieren / Wir bleiben
nur Immigranten, sollen am Rand krepieren/ Sie gießen Öl in das Feuer,
bis wir randalieren«. Ein Song der Jungs wie Mustafa, Marlon und Pio aus
der Seele spricht. Das Video hat auf Youtube 800000 Klicks. Als die
Demonstration an der Polizeiwache Mörkenwache, die für die Kontrollen
verantwortlich ist, vorbeifährt, kochen die Gemüter hoch: »Kommt raus –
Mann gegen Mann – ihr Schweine!« Aaliyah J.*, eine der Mütter, fährt die
Kids an: »Hört auf damit! Wenn ihr solche Worte sagt, seid ihr nicht
besser als die!«
Vater Marrokaner, Mutter Deutsche, hier aufgewachsen – Aaliyah spricht
mit norddeutschem Einschlag: »Ich sag immer: Ich bin eine Hamburger
Deern«. Aaliyah ist eine der Frauen, die den Protest in Altona tragen.
Wir sitzen im Park, und sie erzählt aus ihrem Leben: Warum sie sich für
das Kopftuch entschieden hat (»Es hat mich gestört, daß ich als Frau
immer nur nach meinem Aussehen beurteilt werde«), warum sie schon mit 16
Jahren geheiratet hat (»Mein Vater war sehr streng, und ich wollte raus
aus dieser Umklammerung«). »Ich sag nicht, daß die alle Engelchen
sind«, meint Aaliyah. »Es sind halt Jugendliche«. Vor ein paar Wochen
tauchten bei Aaliyah und ihrem Lebensgefährten zwei Polizisten auf – um
drei Uhr morgens. Ihr Sohn hatte die Vorladung zu einer
Gerichtsverhandlung vergessen. »Die haben rumgebrüllt, mitten in der
Nacht, die Nachbarn sind alle aufgewacht«, empört sich die Mutter. »So
wird man doch kriminalisiert!«
Mist gebaut
Daß es unter ihnen welche gibt, die mal Mist gebaut haben – das räumen
die Azra-Kids gerne ein. Aber würden sie so ins Visier der Polizei
geraten, wenn sie blond wären und Leon oder Erik hießen? »Wenn die mich
mal mit nem Joint erwischen, bin ich bei denen gleich als Dealer
abgestempelt«, sagt Pio. »Wenn ich hier wirklich Tüten verkaufen würde,
das würden meine Eltern sofort mitbekommen. Jeder hier hat derbe Respekt
vor seinen Eltern.«
Die Polizei ließ verlauten, die Maßnahmen in Altona zielten auf eine
»lose Gruppierung«, »mehrheitlich mit Migrationshintergrund«, die
»bereits deliktisch in Erscheinung getreten« sei. Racial Profiling? Der
oberste Schutzpolizist Wolfgang Brand dementiert: »Die polizeilichen
Maßnahmen haben ihren Grund im Verhalten der Jugendlichen, nicht in
rassistischen Einstellungen.« Die Kids vom Azra-Kiosk machen andere
Erfahrungen: Bei einer Kontrolle ein paar Tage vor der Krawallnacht habe
einer der Polizisten einen dunkelhäutigen Freund mit den Worten »den
Schwatten nehm ich auch noch mit« in Gewahrsam genommen. »Das habe ich
mit eigenen Ohren gehört«, sagt Pio.
Immerhin: Seit den Protesten gegen die Polizeigewalt, haben die
Kontrollen deutlich abgenommen. Vertreter der Jugendlichen und der
Nachbarn sitzen in einem Runden Tisch mit der Polizei und den Behörden
zusammen. Zivilpolizisten umrundeten mit ihren Autos weiterhin den
Kiosk, erzählen die Jungs im Hinterzimmer vom Azra-Kiosk. Die
uniformierten Beamten aber kämen kaum noch. »Die grüßen sogar höflich«,
sagt Mustafa. »Deren Chefs haben wohl gesagt, sie sollen die Füße
stillhalten. Komisch, oder? Wo wir doch so kriminell sind!« sagt Marlon
und grinst – ein wenig bitter.