Hauptsache Provokation: 1983 feierten Anarchos die ersten großen Chaostage von Hannover. Sie kippten Bier, prügelten sich mit Skins und zerschlugen Fenster. Dirk Eisermann fotografierte den deutschen Punk-Urschrei. 30 Jahre später suchte er die Krawallmacher von einst - und erkannte sie kaum wieder.
(Auf spiegel.de gibts 'ne Reihe Fotos dazu)
Fast drei Jahrzehnte hatte Dirk Eisermann nichts mehr von ihnen gehört.
Doch dann ließ ihn diese Frage plötzlich nicht mehr los: Was macht
eigentlich der "Pisskopf" heute? Und die "Ratte"? "Conny von der
Wildweiberfront" und all die anderen?
Um das herauszufinden, recherchierte Eisermann zweieinhalb Monate,
sprach mit Sozialarbeitern, Kneipenbesitzern, Regionalzeitungen,
verbrachte Stunden in Internetforen, flog nach London. Insgesamt 3500
Kilometer legte er zurück auf der Jagd nach Punks wie "Pisskopf", von
denen er nur die Spitznamen kannte.
Zuletzt hatte er sie im Juli 1983 gesehen, wie sie zusammen mit etwa
1200 anderen Punks mit Zebrahosen, Lederjacken, Nietengürteln und bunten
Irokesenkämmen lärmend durch Hannover zogen. Sie kippten Dosenbier,
streckten Fußgängern die Zunge raus, flohen vor der knüppelnden Polizei,
zerschlugen Schaufenster und prügelten sich mit einigen der 300 Skins,
die ebenfalls nach Hannover gekommen waren. Dirk Eisermann versuchte,
ihnen mit der Kamera auf den Fersen zu bleiben.
Das Chaos aus der biederen Provinz
Kein einfacher Auftrag, selbst für einen erfahrenen Fotografen wie ihn,
der sich auf Straßendemos zu Hause fühlte. Es gab keinen Zeitplan, keine
zentrale Kundgebung, keine Reden. Nichts war organisiert, das einzige
Programm war das gewollte Chaos: Polizisten in die Irre führen,
vermeintliche Spießbürger provozieren, Angst und Abscheu erzeugen. Und
die Verwirrungstaktik ging auf, nicht nur die Polizei fragte sich:
Trafen sich da nur schmuddelige, aber harmlose Paradiesvögel? Oder würde
gleich ein gewaltbereiter Mob zum Sturm aufs Rathaus blasen?
Drei Tage lang, vom 1. bis 3. Juli 1983, wurde Hannover von dieser
Stimmung der Unsicherheit erfasst. Die sonst so bodenständige
Landeshauptstadt verwandelte sich über Nacht zur Metropole der Anarchie -
und schrieb Geschichte: Ausgerechnet im biederen Hannover begann die
Tradition der Chaostage.
Hier hatten Punks schon am 18. Dezember 1982 den ersten Chaostag
ausgerufen, nachdem die örtliche Polizei begonnen hatte, systematisch
die Daten dieser unangepassten Außenseiter zu sammeln, die sie offenbar
für die neuen Linksterroristen hielt. Und hier gelangten die Punks ein
halbes Jahr später mit ihrem zweiten Deutschlandtreffen erstmals ins
Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit: Denn um das Durcheinander zu
maximieren, hatten sie ihre Erzfeinde, die Skins, eingeladen - zur
Verbrüderung gegen die Polizei. Ein soziales Experiment, das scheitern
musste: "Sieg Heil"-Rufe erschallten, Steine flogen, Reporter kamen,
unter ihnen Dirk Eisermann, dessen Fotos im Juli 1983 im SPIEGEL
veröffentlicht wurden.
Emotionale Aufnahmen waren das, die wilde Jugendliche
zeigten: Holger etwa, Spitzname "Fritz", der dem Betrachter den
Mittelfinger zeigt und trotzig seine pelzig-belegte Zunge
entgegenstreckt. Oder Sven, Spitzname "Ratte", der auf einem Bürgersteig
liegend seiner weißen Ratte einen innigen Kuss gibt. Und Klaus erst,
genannt "Igel", der irgendwo eine benutzte Sexpuppe gefunden hatte und
es witzig fand, ihr die Plastikbrust abzuschneiden, um sie sich wie eine
Trophäe über die Lederjacke zu hängen. Hauptsache provozieren, mal
derb, mal kreativ. Je verrohter und unausstehlicher die Punks nach außen
wirkten, umso eher glaubten sie, dem Bürgertum seine Prüderie und
Engstirnigkeit vorhalten zu können.
30 Jahre später sind die Punks aus den Schlagzeilen verschwunden und
haben längst ihren Ruf als Bürgerschreck der Nation verloren. Einer der
Väter der Chaostage von damals, Peter Altenburg, Rufname Karl Nagel,
arbeitet heute als Softwareprogrammierer. Nimmt er sein gestreiftes
Stirntuch ab, schimmert darunter eine Vollglatze - keine Spur von der
einst hochgesprühten, grell gefärbten Haarpracht. Nagel ist verheiratet,
hat eine Tochter und sagt Sätze wie diese: "Man kann nicht sein Leben
lang rebellieren, ohne daran kaputtzugehen". Oder: "Chaos lässt sich
nicht ewig aufrechterhalten."
Vorbei die Zeiten, als er aus reiner Verweigerungshaltung heraus über
Nacht seine Ausbildung schmiss, biedere Wollpullis gegen Leder tauschte,
sich einen langen Eisennagel um den Hals hängte und froh war, dass er
schon an seinem ersten Tag als Punk "einen auf die Fresse" bekam: "Ein
paar Stunden später hatte ich meine erste Freundin, das passte."
Ratten und Randale
Neben ihm sitzt auf einer Holzbank am Hamburger Großneumarkt Dirk
Eisermann, ein freundlicher Mann mit wohltemperierter Stimme, Halbglatze
und Brille. Eisermann hat hier, neben einem Sushi-Restaurant und einem
Griechen, sein Fotostudio. Es riecht nach gegrilltem Fleisch und
geschmortem Gemüse, als die beiden Männer über Rebellion, Ratten und
Randale fachsimpeln.
Nagel war es gewesen, der Eisermann und einen SPIEGEL-Autoren 1983
sicher durch das Chaos von Hannover lotste - und als Dank dafür wenig
später Dutzende hochwertige Aufnahmen bekam, die er in einem
Punk-Fanmagazin abdruckte. Und Nagel war es, der fast 30 Jahre später
Eisermann anrief, um ihn zu fragen, ob er diese Bilder in sein Punk-Fotoarchiv
ins Internet stellen dürfe. Wie sich die Zeiten geändert hatten: Der
Normen-Brecher von einst erkundigt sich bei einem Fotografen brav nach
Bildrechten, aus Angst, sonst "Ärger am Arsch" zu bekommen.
Nagel war offenbar nicht der Einzige, der sein Leben deutlich geändert
hatte, das spürte Dirk Eisermann sofort nach dem überraschenden Anruf.
Er stöberte in Internetforen. "Unter dem Foto eines wild dreinblickenden
Punks entdeckte ich den Kommentar: 'Arbeitet der nicht heute in
Frankfurt als Versicherungsvertreter?' Ich fand diesen Wandel
faszinierend." Das war die Initialzündung. Der Fotograf holte nun seine
alten Aufnahmen heraus und machte sich auf die Suche nach den
Lebensgechichten der Jugendlichen, die er einmal 1983 flüchtig getroffen
hatte.
Karpfenfischer und Ordnungshüter
Eine mühselige Detektivarbeit. Einige Gesichter blieben namenlos, manche
Ex-Punks wollten nicht mit ihm reden, von anderen gab es nur dubiose
Spitznamen - "Pisskopf" etwa blieb unauffindbar. Nach monatelanger
Recherche hatte Eisermann aber doch zwölf Alt-Punks gefunden, die nicht
nur bereit waren, mit ihm zu reden - sondern sich sogar ein zweites Mal
von ihm fotografieren ließen. Beeindruckende Porträts sind daraus
entstanden, denn viele der Draufgänger von damals sind heute in der
Mitte jenes Bürgertums angekommen, das sie früher bespuckt hatten.
Die "Ratte" etwa: Sven Olav Thater, Bildhauer in Ostfriesland,
verheiratet, drei Kinder. Oder Conny, einst aktiv in der
"Wildweiberfront:" Sie geht heute als Personalberaterin mit braver
Kurzhaarfrisur und in adrettem Businessanzug zur Arbeit. "Die Conny",
schwärmt Alt-Punk Nagel noch heute, "war superhart drauf und konnte
ordentlich zulangen." So wie Sven Brux, der 1983 mit einer Lederjacke
durch Hannover lief, auf die er geschrieben hatte: "Trinken für den
Frieden - Schwerter zu Zapfhähnen." Heute ist Brux Vorsitzender des
Verbandes Deutscher Karpfen-Angelclubs. Auch hauptberuflich hat er die
Seiten gewechselt: Als Sicherheitschef beim FC St. Pauli muss er im
Stadion nun Chaos bekämpfen und Ordnung erzwingen.
Von Brüchen in den Lebensbiografien möchte Fotograf Eisermann trotzdem
nicht reden. Das klingt ihm zu hart, zu abrupt, für ihn ist es "kaum
verwunderlich, im Alter bürgerlicher zu werden". Und jene, die einfach
so weitergemacht haben wie in ihrer Jugend? "Viele sind längst tot",
sagt Karl Nagel abrupt. "So einen Lebensstil hältst du nicht ewig
durch."
Manchmal ist den Alles-Verweigerern von damals ihre neue Spießigkeit
allerdings unangenehm. "Johnny" zum Beispiel, seinen echten Namen möchte
er nicht in den Medien lesen. Es gibt eine Aufnahme von ihm, wie er
sich 1983 in Hannover eine blutende Platzwunde auf der Stirn zudrückt,
während die Polizei seine Personalien für einen Flaschenwurf aufnimmt.
Heute arbeitet er als Lackierer und wohnt bei seiner Mutter.
Die Wut des Punks
"Als ich ihn auf der Eckbank seines Wohnzimmers fotografieren wollte,
hat er vorher noch schnell eine Kunstblume vom Tisch genommen und ein
Sitzkissen weggelegt", erzählt Eisermann. Insignien der Piefigkeit, die
ihm offenbar immer noch suspekt sind. "Johnny", glaubt Fotograf
Eisermann, sei eine zerrissene Persönlichkeit. "Er lebt in einer ganz
bürgerlichen Welt, verspürt in sich aber immer noch die Wut des Punks."
Die Wut des Punks, sie mag auch bei Karl Nagel nachgelassen haben, auch
wenn er sich immer noch als "Meister des Chaos" bezeichnet und in einer
Punk-Band spielt. Ungebrochen ist aber seine Freude über desorientierte
Polizisten. "Die Bullen hatten 1983 unglaubliche Probleme", erzählt er
begeistert und legt im Stakkatotempo nach: "Da gab es Punks, die haben
einfach nur Eis gegessen. Oder in der Fußgängerzone rumgegammelt und gar
nichts gemacht. Und anderswo ging es plötzlich richtig ab. Die Polizei
war völlig überfordert, sie wusste nicht, wohin sie gehen musste. So
viel Spaß hat es nie wieder gemacht."
Bei späteren Chaostagen sei die Gewalt dann zu sehr eskaliert, und die
Punks von heute, na ja, sagt Nagel, man müsse sich ja nur anschauen, wer
ihre Maskottchen seien: Hunde statt Ratten. "Damit kannst du niemanden
mehr provozieren."
Dann steht er auf, verabschiedet sich bei Eisermann, der ihm ein Freund
geworden ist, und freut sich, mit ihm bald wieder etwas zu trinken,
einen Milchkaffee vielleicht.
Weitere historische Punk-Fotos finden Sie im Punk-Fotoarchiv.