Über 1600 Polizisten schirmen die erlaubte Neonazi-„Mahnwache“ ab auf dem Wartberg. Hunderte Demonstranten werden nach dem Durchbruch in die Nordstadt eingekesselt.
Als Rüdiger Jungkind, Sprecher der „Initiative gegen Rechts“ auf dem kleinen Lastwagen, hinab von der improvisierten Rednerbühne, mit halbstündiger Verspätung die Teilnehmer der Protestkundgebung gegen die Fackel-„Mahnwache“ begrüßt, ist noch alles friedlich. Es ist Samstag, kurz vor 16 Uhr.
Jungkind geißelt die von den Medien angeblich aufgebauschte Drohkulisse („Angst schüren vor marodierenden Horden“), es tröpfeln immer mehr mit der Bahn angereiste Demonstranten ein. Ein Ruck geht durch die Beamten der Bundespolizei, als sich ein ganzer Pulk von offensichtlich demo-erprobten Autonomen durch die westliche Bahnhofsunterführung ergießt.
Sie kümmert nicht die Ansprache der ver.di-Landesvorsitzenden Leni Breymaier, die sich ebenfalls per Megaphon müht, ihrem Abscheu über neonazistische Umtriebe Gehör zu verschaffen, ebenso wie Kai Hoffmann von der Links-Organisation alerta. Ratlos stehen nach den kurzen Ansprachen die Teilnehmer herum. Soll man sich auflösen? Immerhin haben die Veranstalter, nachdem die Stadt ihren Demonstrationszug über die Hauptverkehrsadern der Nordstadt untersagt und vom Verwaltungsgericht Recht bekommen hat, auf eine Abschlusskundgebung auf dem Leopoldplatz verzichtet.
„Hohe Gewaltbereitschaft“In dieses Vakuum der Ratlosigkeit stößt der blitzartig gestartete Pulk von rund 250 Linsksautonomen, denen Polizeichef Burkhard Metzger bei einer Pressekonferenz am späten Abend „hohe Gewaltbereitschaft“ attestiert. Mit versteinerter Miene wird Oberbürgermeister Gert Hager neben ihm sitzen. Die fünf Stunden dazwischen sind gekennzeichnet von den größten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei, die Pforzheim je erlebt hat.
Eine Chronologie:Fast schon im Laufschritt laufen Demonstranten gegen 16.30 Uhr in geschlossener Formation Richtung Schlössle-Galerie, von dort kurven- und temporeich durch die Nordstadt. Sie kommen hinter dem „Café Hasenmayer“ heraus. Der Gewalt unverdächtige Pforzheimer schließen sich an. Über der Nordstadt kreisen Polizeihubschrauber. Überall Einsatzfahrzeuge und gepolsterte Bereitschaftspolizisten. Ihre Kollegen von der taktischen Hundertschaft der Polizeidirektionen Pforzheim, Calw und Freudenstadt sind an der Kieselbronner Straße zwischen der Firma Stöber und dem Lidl-Parkplatz positioniert. Sie sind zwar nicht so gut ausgebildet und ausstaffiert wie die Hundertschaften der Landespolizei – aber sie haben Ortskenntnis. Sie wissen, wo die Demonstranten hinwollen: über das Tierheim und freies Feld nach Westen Richtung Steinhubenweg – das Nadelöhr zum Wartberg-Plateau.
Das Tempo ist unvermindert hoch, aus manchen Taschen fallen faustgroße Steine – was übrig geblieben ist, nachdem einige Gewaltbereite Steine aufgesammelt und zum Teil beim ersten Polizeiriegel an der Kieselbronner Straße auf die Polizisten geschleudert haben. Sie werfen einen Bauzaun um, die Polizei setzt erstmals Schlagstöcke ein. Einen Pressevertreter, der – mittendrin – mit der Redaktion telefoniert, springen Vermummte brutal von hinten an, zerstören sein Handy, greifen sich seine Notizblöcke, beschimpfen ihn als „Bullen-Spitzel“ in Zivil.
Auf dem verschneiten Acker hinter der Steingrube nähern sich die Demonstranten dem Absperrgitter, hinter dem die Polizei Stellung bezogen hat. Erneut fliegen Steine, Ton-Scherben, Feuerwerkskörper und Bierflaschen. Die Antwort kommt: Pfefferspray. Von hinten formiert sich eine Kette von Bereitschaftspolizisten: Sie kesseln rund 400 Antifaschisten ein - Autonome, aber ebenso friedlich gegen Nazis demonstrierende Menschen, die mitgelaufen sind.
Polizei-Zivilfahrzeug blockiertUnterhalb des Wartberg-Freibads haben sich Demonstranten mit Sturmhauben postiert. Sie blockieren ein Zivil-Fahrzeug der Polizei, schaukeln es hoch. Bereitschaftspolizisten werden energisch, drängen die Vermummten ab.
19.30 Uhr: Die abgeschirmten Neo-Nazis klettern grüppchenweise aus ihren Autos, in denen sie frierend ausgeharrt haben. Jetzt kommt ihr Auftritt, der seit Jahren die überwiegende Mehrzahl der Pforzheimer in Wallung bringt: Um zehn vor acht, dem Zeitpunkt der Bombardierung Pforzheims vor 68 Jahren, entzünden knapp 100 von ihnen die mitgebrachten Fackeln. Es herrscht – wie jedes Jahr – eine gespenstische Stille, nur unterbrochen vom Gebell der Polizeihunde auf dem Plateau und der Rasenfläche des Wartberg-Freibads.
Kundgebung aufgelöstEin paar Hundert Meter weiter ertönt am Steingrubenweg westlich des Kessels die erste von mehreren Durchsagen aus einem Polizei-Einsatzfahrzeug: Die Demonstration habe einen gewalttätigen Verlauf genommen, sie sei hiermit aufgelöst, Personalien würden grüppchenweise aufgenommen – Frauen und Unter-18-Jährige zuerst. Viele müssen bis zu fünf Stunden im Kessel ausharren.