Regierungsrücktritt in Bulgarien: Revolte im Armenhaus der EU

Erstveröffentlicht: 
20.02.2013

Erst verbrannten sie ihre Rechnungen, dann fackelten sie Polizeiwagen ab: In Bulgarien ist die Bürgerwut über die Strompreise zu einer Revolte eskaliert, die Premier Borissow und seine ganze Regierung aus dem Amt fegt. Im ärmsten Land der EU ist die soziale Lage desaströs.

 

In den Ohren vieler Bulgaren klang die Formulierung wie blanker Hohn. Angel Semerdshiew, der gefeuerte Chef der bulgarischen Energie- und Wasser-Regulierungsbehörde DKEVR, sprach in einem Radiointerview in der vergangenen Woche in Sofia kleinlaut davon, dass es beim Ablesen der Stromzähler und dem Errechnen des Stromverbrauchs "Systemprobleme" gegeben habe. Doch da waren die Proteste bereits in vollem Gange - die wütenden Bulgaren hatten ein Problem mit dem gesamten System.

 

Nahezu im Handumdrehen schlugen die Demonstrationen gegen die Strompreise in eine allgemeine Revolte gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der konservativen Regierung unter dem Ministerpräsidenten Bojko Borissow um. An diesem Mittwoch nun trat die Regierung zurück, vorgeblich, "um dem Volk, das uns an die Macht brachte, diese zurückzugeben", wie Borissow seinen Schritt begründete. Doch der bullige 53-jährige Karate-Meister und Ex-Polizist will für die kommenden Wahlen, die voraussichtlich von Juli auf April verlegt werden, vor allem das Schlimmste verhindern: Seine Partei, die Bewegung "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB), steht wegen ihres Sparkurses, ihrer schlechten Sozialpolitik, ihres unentschlossenen Kampfes gegen Korruption und verzögerter Reformen vor einer Wahlniederlage.

Die Regierung verzögert eine Liberalisierung des Energiemarkts

 

Der Ökonom Petar Ganew vom Sofioter Institut für Marktwirtschaft (IME) verweist vor allem auf die "sehr schwierige soziale Lage" im Land. "Die absolute Armut ist in den letzten Jahren stark gewachsen", sagt Ganew. "Viele Arbeitsplätze sind verlorengegangen und die Einkommen allgemein gesunken."

Dass die Revolte sich ausgerechnet an den Strompreisen entzündete, ist nicht verwunderlich. Drei ausländische Stromkonzerne, das österreichische Unternehmen EVN und die tschechischen Firmen CEZ und Energo-Pro, haben den bulgarischen Strommarkt unter sich aufgeteilt. Seit längerem stehen sie wegen angeblich unlauterer Markt- und Preispolitik unter Druck, während die Regierung eine von der EU geforderte Liberalisierung des Energiemarkts verzögert. Zwar ist der bulgarische Staat an den Strom-Monopolisten mitbeteiligt, doch für große Teile der Öffentlichkeit sind die "ausländischen Konzerne" die Sündenböcke.

 

Mit den Stromrechnungen, die die Bulgaren Anfang Februar erhielten, begann die Revolte. Nachdem die Strompreise bereits im Sommer vergangenen Jahres um 13 Prozent erhöht worden waren, bekamen die Menschen die Erhöhung erst jetzt, in der kalten Jahreszeit wirklich zu spüren, denn viele heizen mit Strom. Seitdem brennt Bulgarien: Bereits bei den ersten Demonstrationen gegen die Strompreise vor zehn Tagen zündeten Protestierende Firmenwagen von Energieversorgern an und zerrissen ihre Rechnungen. So ging es in den vergangenen Tagen und Nächten weiter: Demonstranten fackelten Autos der Energieversorger ab, zerschlugen Stromzähler, griffen Einsatztruppen der Polizei an.

 

Etwa ein Viertel der Bulgaren lebt unter der Armutsgrenze


Den bulgarischen Politologen Ivan Krastev überrascht das Ausmaß der Gewalt nicht. "Die Sparpolitik der vergangenen Jahre war sehr drastisch, jetzt haben wir gute finanzielle Daten", sagt Krastev. "Die schlechte Nachricht ist: Finanzielle Stabilität führt in Ländern wie unserem nicht zu mehr Ruhe, sondern zu politischen Krisen und sozialen Revolten."

Tatsächlich sind einige bulgarische Finanzeckdaten mustergültig: Das Haushaltsdefizit lag 2011 bei traumhaften zwei Prozent, die Staatsverschuldung beträgt nur rund 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Vom Internationalen Währungsfond und der EU gab es viel Lob dafür. Doch andere Reformen wie die des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme wurden vernachlässigt. Ausländische Investoren halten sich mit einem Engagement in Bulgarien eher zurück. In den vergangenen Jahren gingen mehrere hunderttausend Arbeitsplätze verloren, die Regierung ließ Renten und Gehälter im öffentlichen Dienst einfrieren, die Abwanderung von Arbeitskräften aus dem Land erreicht Rekordniveau. Unter den Daheimgebliebenen lebt etwa ein Viertel unter der Armutsgrenze.

 

Die sozialen Zustände in Bulgarien und die Revolte im Land, so fordert der Politologe, müsse die Europäische Union als Fanal ernst nehmen. Er verweist auf die sozialen Proteste vor einem Jahr in Rumänien und auf den gärenden Unmut der ungarischen Bevölkerung mit der Sozialpolitik der Orbán-Regierung. "Was wir jetzt in Bulgarien erleben, ist auch eine politische Konsequenz aus der Art und Weise, wie die Euro-Krise gelöst wird", so Krastev. "Solche außerparlamentarischen Proteste werden wir an der Peripherie Europas künftig öfter erleben."