Von Thomas Knellwolf.
Personen aus dem Umfeld der Terrorzelle NSU fanden in der Schweiz eine neue Heimat. Nun ermitteln vier Kantone.
Als in den vergangenen Jahren viele Deutsche in die Schweiz kamen, waren nicht nur wieselflinke Kellner, patente Kleinkinderbetreuer, eifrige Assistenzärzte und eloquente Professoren darunter. Die Aussicht auf eine Festanstellung und auf die Alpen zog auch Personen an, die sich zuvor vor allem durch eine Abneigung gegen Ausländer definiert hatten: Es kamen Rechtsextreme.
Die Migration der Fremdenfeinde, vorab aus Ostdeutschland, mag ein marginales Phänomen sein. Trotzdem beschäftigt sie die Strafverfolger in mehreren Kantonen. Nicht etwa, weil die Zuzüger (auch) hier straffällig geworden wären. Vielmehr macht deren Vergangenheit Nachforschungen nötig. Einige wenige der Neuankömmlinge stammen aus dem Umfeld des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU.
Neun Männer ermordet
Bekannt war aufgrund TA-Recherchen bereits, dass die Pistole, mit der die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Deutschland neun türkisch- und griechischstämmige Männer ermordet hatten, über den Kanton Bern nach Sachsen geschmuggelt worden war. Die NSU-Ermittlungen in der Schweiz gehen aber – wie sich nun zeigt – weit über das Nachzeichnen des Wegs der Ceska-Pistole hinaus.
Die Staatsanwaltschaft Berner Oberland, welche die schweizerischen Abklärungen zum NSU-Komplex koordiniert, bestätigt: «2012 gingen sechs Rechtshilfeersuchen ein, welche weitere Abklärungen in insgesamt drei Kantonen nach sich gezogen haben.» Polizisten und Staatsanwälte in Bern, Zürich, im Baselbiet und in Graubünden haben sich mit NSU-Abklärungen beschäftigt – und tun dies zum Teil weiterhin.
Strafe wegen Hitlergruss
Einen Ausgangspunkt bildet dabei die Aussage eines früheren Rechtsextremisten, der aus Ostdeutschland in die Nähe von Basel gezogen ist. Ein unbescholtenes Blatt ist dieser Zeuge, der rund fünfzig Jahre alt ist, nicht. Laut eigenen Angaben sass er noch in der DDR eine neunmonatige Haftstrafe «bis auf den letzten Tag» ab, weil er mit dem Hitlergruss zu grüssen pflegte. Nach dem Mauerfall war er berüchtigt dafür, dass er eine Pumpgun besass. Als er bereits in der Schweiz lebte, wurde er in Deutschland wegen eines Waffendelikts verurteilt.
Fünf Tage vor Weihnachten 2011, eineinhalb Monate nach Auffliegen des NSU, wurde der Mann von der Polizei Basel-Landschaft als Auskunftsperson einvernommen. Er machte eine Aussage, welche die Ermittler in Deutschland aufhorchen liess: Beate Zschäpe, die mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt jahrelang im ostdeutschen Zwickau untergetaucht war, habe sich oft in einem Zwickauer Szenegeschäft aufgehalten.
Trinkerbauch und Kampfhund
Auch viele andere Zeugen wollten das NSU-Trio einmal irgendwo gesehen haben. Besonders machte den Hinweis aus dem Baselbiet, dass ein zweiter Zeuge, auch er ein ehemaliger Rechtsextremer, fast zum gleichen Zeitpunkt eine fast identische Aussage machte: Zschäpe habe er oft im Zwickauer Last Resort Shop gesehen. Offizieller Geschäftszweck war «Einzelhandel mit Securitybedarf (ohne Waffen), Textilien, Lederwaren, Geschenkartikeln, Tonträgern». Zu erwerben gab es auch einschlägige Kleidung und – unter den Ladentisch – verbotene CDs. Hatte sich die untergetauchte Zschäpe oft im Laden aufgehalten? Hatte sie dort ausgeholfen? Und zum früheren Besitzer ein enges Verhältnis gepflegt? Diesen Fragen gingen die Ermittler nach.
Der Last Resort Shop hatte einem Neonazi wie aus dem Bilderbuch gehört, einem mit Kampftrinkerbauch und Kampfhund, der heute, angeblich geläutert, ebenfalls in der Deutschschweiz lebt. Auf einem älteren Foto posiert der Glatzkopf mit nacktem Oberkörper und Pumpgun. In der rechtsextremen Szene Sachsens in den 90er-Jahren spielte er allerdings eine pikante Doppelrolle.
Spitzel für den Verfassunggschutz
Als V-Mann mit dem Decknamen Primus spitzelte er laut dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» ab 1992 zehn Jahre lang für den Verfassungsschutz. Die Vertrauensperson, die dem Nachrichtendienst Informationen über Gesinnungsgenossen lieferte, war als junger Erwachsener aber auch an Ausschreitungen um ein Asylbewerberheim in Zwickau beteiligt gewesen. Zahlreiche weitere Straftaten folgten. Als V-Mann sang er bei der Band Westsachsengesocks, gegen die wegen Verdachts auf Volksverhetzung ermittelt wurde. Heute, mit 41 Jahren, weist Primus über ein Dutzend Einträge im Bundeszentralregister auf, dem deutschen Strafregister. Es geht um Körperverletzung, Landfriedensbruch oder das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (wozu NS-Gruppierungen gehören).
Ein neues Leben beginnen
2007 war Primus aus Zwickau abgetaucht. Im Internet, wo er als «Irrländer» firmiert, liess sich der Weg des Mannes allerdings verfolgen. Zuerst hielt er sich in Irland, dann in Österreich und seit geraumer Zeit bei Chur auf. Der Mann, der in der Schweiz als Kleiderverkäufer, Sicherheitsmann, Konzertveranstalter und Lastwagenfahrer gearbeitet hat, sei – so stellte der Nachrichtendienst der Bündner Kantonspolizei 2012 fest – in Graubünden «bis anhin im Bereich Rechtsextremismus nie in Erscheinung getreten». In einem Bericht, der dem TA vorliegt, macht der Churer Staatsschutz allerdings auch darauf aufmerksam, dass Primus’ Auto «mit verschiedenen Klebebildern aus der REX-Szene versehen» ist.
Vor wenigen Wochen musste Primus als Zeuge bei der Bündner Staatsanwaltschaft aussagen. Er bestritt jeden direkten Kontakt zum NSU-Terrortrio. Die Angaben, der Ex-V-Mann habe Zschäpe gut gekannt, konnte laut einem deutschen Polizeibericht «nicht untermauert werden». Primus sagte laut «Spiegel» aus, es gefalle ihm gut in der Schweiz, und er wolle hier ein neues Leben beginnen. Er räumte Kontakte zu André E. ein, der mit Zschäpe zu den fünf Angeschuldigten im NSU-Prozess gehört. E. werden Unterstützung einer Terrorvereinigung, Beihilfe zu versuchtem Mord und Beihilfe zum Raub vorgeworfen. Der Prozess in München beginnt im April. Die Ermittlungen werden weitergeführt, weil weitere Helfer des Trios gefunden werden sollen. Auch eine zweite Befragung von Primus in Chur ist angesetzt.