Das Volk gegen ein Prozent

Erstveröffentlicht: 
01.12.2011

Der Antisemitismus der »Occupy«-Bewegung ist keine Randerscheinung, sondern ihr fest eingeschrieben – sowohl ihren Aktionen wie ihren Denkweisen.

 

Eigentlich verbietet es ja bereits der gute Geschmack, sich in irgendeiner Weise positiv auf die »Occupy«-Bewegung zu beziehen. Denn wenn eine politische Bewegung im Brustton der Überzeugung behauptet, für 99 Prozent der Menschheit zu sprechen, sollte eigentlich jeder, der zumindest den Anflug einer Ahnung davon hat, wozu solche Allmachtsphantasien führen können, tunlichst auf Distanz gehen. Wo immer die Sehnsucht nach Kollektivität – und das heißt: nach dem Aufgehen in der Masse, nach der Unterdrückung jeglicher Individualität – derartige Urstände feiert, droht Unheil in Form von sanktionslüsternen Feldzügen gegen alle, die der Abweichung auch nur verdächtigt werden.

Dass die »Occupy«-Bewegung demonstrativ als »bunte Truppe« daherkommt, die durch keinerlei Hierarchien und Ideologien gekennzeichnet sei, ist dabei gerade kein Widerspruch, sondern vielmehr Ausdruck ihres volksgemeinschaftlichen Selbstverständnisses, das in jener Parole kulminiert, die ein Teilnehmer einer Berliner »Occupy«-Demonstration im Oktober auf einem selbstgebastelten Pappschild verkündete: »Eine Welt ohne 1 % ist nötig (und längst überfällig).« Wie diese Welt erreicht werden soll, zeigte ein anderes Schild, auf dem aufgeknüpfte Menschen abgebildet waren, ein weiteres zeigte einen Strick, unter dem das Wort »Alternativlos« stand. In Hamburg wurde derweil auf einem Plakat gefordert: »Bring your Banker to your Henker!«

 

Zwar stellen längst nicht alle ihre eliminatorischen Sehnsüchte derart offen zur Schau, doch darüber, dass die Welt von einer kleinen Minderheit beherrscht wird, die beseitigt gehört, herrscht Einigkeit. Und deshalb ist es weder ein Zufall, dass sich allerlei Verschwörungstheoretiker in der »Occupy«-Bewegung pudelwohl fühlen, wie Peter Nowak (Jungle World 47/2011) gezeigt hat, noch überrascht es, dass der Antisemitismus bei vielen Aktivistinnen und Aktivisten ein festes Zuhause hat. Auf der Homepage von »Occupy Frankfurt« beispielsweise fand sich ein inzwischen gelöschter Beitrag, in dem es hieß: »Eine kleine mafiaartig organisierte Gruppe, deren Mitglieder sich wohl schon über Generationen hinaus gegenseitig die Posten zuschieben, missbraucht die jüdische Glaubensgemeinschaft für ihre Ziele.« Die »Pogrome des Mittelalters« seien gerechtfertigt gewesen, da sie den »einflussreichen Geldverleihern« gegolten hätten. Darüber hinaus wird auf dem Wiki der Internetseite das Video »Fabian, der Goldschmied« empfohlen, in dem die gleichnamige Hauptfigur – die nicht anders denn als Synonym für »den Juden« zu verstehen ist – den Geheimbund der »Erleuchteten« gegründet hat und seitdem das Weltgeschehen lenkt. Produziert wurde der Film, der auch auf zahlreichen rechten Websites zu finden ist, vom Scientologen Michael Hinz alias Michael Kent, unterstützt von Jan Udo Holey alias Jan van Helsing, einem geschichtsrevisionistischen und antisemitischen Verschwörungstheoretiker, sowie dem ebenfalls verschwörungsideologischen Kopp-Verlag.

»Fabian, der Goldschmied« soll ein Beitrag zur »Zinskritik« sein, die vor allem auf den Antisemiten Silvio Gesell zurückgeht und bei der Frankfurter »Occupy«-Gruppe hoch im Kurs steht: Auf einer ihrer Demonstrationen sprach Bernd Senf, ein ehemaliger Professor für Makroökonomie und Didaktik der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, der sich an Gesells »Freiwirtschaftslehre« orientiert und das »Zinseszins-System« für den »Krebs des sozialen Organismus« hält. Zudem wurde auf Schildern die Einführung des »Freigelds« gefordert, das den »Zinskritikern« als Lösung aller ökonomischen Probleme gilt, und es wurden Flugblätter verteilt, in denen es im Duktus von Joseph Goebbels hieß: »Dieses Land gehört uns, nicht den Plutokraten!« Auch in Köln beklagten sich Demonstrierende im Interview eines lokalen Fernsehsenders über das »private Zinsgeldsystem«, hinter dem »bestimmte Leute« stünden, deren Namen »geheimgehalten« würden. Es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wer damit gemeint war.

 

Doch auch jenseits der deutschen Grenzen ist der Antisemitismus bei den »Occupy«-Protesten verbreitet. In Wien etwa warben Demonstrierende für den Kopp-Verlag sowie die antisemitische Internetseite »Alpenparlament« und warnten vor »Freimaurern«, »Illuminaten« sowie der »Rothschild-Dynastie«. Die wenigen Teilnehmenden, die sich gegen Verschwörungstheorien, Antisemitismus und Esoterik wandten, wurden aus der Demonstration hinausgedrängt. In den USA – dort also, wo die bislang größten »Occupy«-Proteste stattfanden – trugen Demonstrierende Schilder, auf denen Parolen wie »Die Menschheit gegen die Rothschilds«, »Wall-Street-Juden«, »Tötet die Google-Juden« und »Google: Jüdische Millionäre« zu lesen waren. Die Aktivistin Patricia McAllister, die für den Los Angeles Unified School District arbeitet, gab ein Interview, in dem sie sagte, sie wolle »die zionistischen Juden, die unsere Banken und die US-Notenbank kontrollieren«, aus dem Land werfen. Die Anti-Defamation League veröffentlichte zudem zahlreiche Statements von Demonstrierenden, in denen eine vermeintlich jüdische Kontrolle der Politik, der Banken und der Medien beklagt und der israelische Geheimdienst Mossad allerlei weltpolitischer Verbrechen bezichtigt wird.

Diese offenkundige Judenfeindlichkeit wird bislang zwar nur von einer Minderheit zum Ausdruck gebracht, doch erschöpft ist der Antisemitismus der »Occupy«-Bewegung damit längst nicht, wie der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in einem Beitrag für die Jüdische Allgemeine feststellt: »In der von den Turbulenzen der ­internationalen Finanzmärkte erzürnten Bewegung lassen sich immer wieder zwei Tendenzen ausmachen: die zur Personalisierung und die zur Moralisierung ihres Protestes. Beides verweist auf eine Kapitalismuskritik, die strukturell antisemitisch ist.« Denn durch sie werde an ein Gesellschaftsverständnis appelliert, »das abstrakte Strukturen nicht begreift, dafür aber konkrete Menschen in die Verantwortung für ein System nehmen möchte, das zugleich als anonym und unfassbar verklärt wird«. Darin liege »bereits eine der großen Paradoxien der Antiglobalisierungsbewegung: Hinter einer ökonomischen Struktur anonymer Mächte wird nach konkret identifizierbaren Menschen gefahndet, die verantwortlich gemacht werden können« – und die jenes eine Prozent ausmachen sollen, das die »Occupy«-Bewegung im Visier hat.

 

Nun verfolgen zwar die meisten Aktivistinnen und Aktivisten ihrem subjektiven Verständnis nach vermutlich keine antisemitischen Ziele und würden wohl auch nicht behaupten, dass die von ihnen auf ein Prozent bezifferte Minderheit, die die restlichen 99 Prozent unterdrücke, durchweg aus Juden bestehe. Doch darum geht es auch gar nicht. Ihr struktureller Antisemitismus besteht vielmehr – wie bei jedem Antikapitalismus, der personalisierend und moralisierend auftritt, weil er die Struktur der kapitalistischen Vergesellschaftung nicht versteht – darin, eine Differenz zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten im Kapitalismus auszumachen und Letzteres zu dämonisieren: das Geld, die Spekulation, den Zins, das Finanzkapital. Das Konkrete – sprich: die körperliche Arbeit, das Handwerk, das Indus­triekapital – wird demgegenüber für unproblematisch, ja sogar für gut gehalten.

Die Nationalsozialisten spitzten diesen vermeintlichen Gegensatz zu: Hier die »jüdische Nicht-Arbeit«, dort die »deutsche Arbeit«; hier das »raffende«, das angeblich unproduktive und mühelos sich vermehrende Kapital, dort das »schaffende«, weil vermeintlich produktive und nicht auf Bereicherung zielende. »Die globalisierungskritische Denklogik meint, die Probleme in den Griff bekommen zu können, wenn der verteufelte Teil des Kapitalismus angegriffen wird«, analysiert Samuel Salzborn, »und fühlt sich dabei einer anonymen, unheimlichen und scheinbar omnipotenten Macht ausgesetzt.«

Um diese abstrakte Macht angreifen zu können, muss sie konkrete Gesichter bekommen, also personalisiert werden. Und um den Angriff zu rechtfertigen, bedarf es des Hinweises auf die moralische Niedertracht der Träger dieser Macht und auf die Legitimität des eigenen Handelns – das bereits durch die Behauptung, 99 Prozent der Menschen zu repräsentieren, als unhinterfragbar hingestellt wird. Im antisemitischen Weltbild wird das Abstrakte dabei in den Juden persona­lisiert, den angeblichen Drahtziehern und wichtigsten Profiteuren von Kapitalismus und Krise. Sie stehen in den Augen des Antisemiten für all das, was er weder begreift noch aushalten kann: Individualismus, Intellektualität, Kosmopolitismus, Emanzipation – und die Zirkulationssphäre. Der reale Vorteil, den er aus dieser Sichtweise bezieht, ist »halbdurchschaute Ideologie«, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in den »Elementen des Antisemitismus« schreiben. Und der eigentliche Gewinn, »auf den der Volks­genosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. Je weniger sonst herauskommt, umso verstockter hält man sich wider die bessere Erkenntnis an die Bewegung.« Das gilt zweifellos auch für jene, die unter dem »Occupy«-Label aktiv sind.