Rechtsextreme Terrorserie: Mutmaßlicher Komplize festgenommen

Erstveröffentlicht: 
13.11.2011

Rechtsextreme Terrorserie

Mutmaßlicher Komplize festgenommen


Die Bundesanwaltschaft hat einen weiteren Verdächtigen im Zusammenhang mit der "Zwickauer Zelle" festnehmen lassen. Holger G. aus Hannover soll die Gruppe bis in die jüngste Zeit unterstützt haben. Unter anderem soll er in Stuttgart ein Wohnmobil angemietet haben, das bei der Ermordung der Polizistin Michéle Kiesewetter 2007 eine Rolle spielte, teilte die Bundesanwaltschaft mit und bestätigte damit Informationen des SWR-Hörfunks. Holger G. soll morgen dem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof vorgeführt werden.

Unterdessen teilte die Linkspartei in Sachsen-Anhalt mit, sie habe ein Bekennervideo der Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" erhalten. Die DVD habe in dieser Woche im Briefkasten eines Parteibüros gelegen, sagte Parteisprecherin Anke Lohmann. Landeschef Matthias Höhn erklärte, das Video sei auch als Drohung der Rechtsterroristen an den politischen Gegner zu verstehen.

Auf dem Propagandavideo offenbaren die Täter laut Bundesanwaltschaft Täterwissen über die neun Morde an Migranten in mehreren deutschen Städten. Außerdem bezeichnet sich die Gruppe als "Nationalsozialistischer Untergrund" und drohte mit weiteren Anschlägen.

 

Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich besorgt über die Neonazi-Mordserie: Die Vorgänge ließen Strukturen erkennen, "die wir uns so nicht vorgestellt haben. Deshalb heißt es, immer wieder wachsam sein, gegen jede Form von Extremismus. In diesem Fall wahrscheinlich auf Extremismus von der rechten Seite." Sie hoffe, dass die Untersuchungen bald so abgeschlossen sind, dass es vollkommene Klarheit über die Hintergründe der Taten und Täter gebe.

 

Friedrich spricht von Rechtsterrorismus

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sprach erstmals von Rechtsterrorismus in Deutschland. Es sehe so aus, "als ob wir es tatsächlich mit einer neuen Form des rechtsextremistischen Terrorismus zu tun haben".

 

Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) rückte die Mordserie in die Nähe des Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Die Taten zeigten ein Maß an offenbar politisch motivierter Menschenverachtung, die tief erschütternd sei, sagte Kauder der "Bild"-Zeitung. Die Ermittlungen müssten angesichts der Dimension der Verbrechen, "die nahe an den Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion kommt, alle Hintergründe restlos aufklären".

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kündigte eine umfassende Aufklärung der Mordserie und möglicher Ermittlungspannen sowie der Rolle der V-Männer an. Die Ministerin zeigte sich "sehr erschüttert" über das Ausmaß der Verbrechen und das offenbar dahinter stehende Netzwerk. Es sei gut, dass sich die Parlamentarische Kontrollkommission in Kürze des Themas annehmen werde. Schließlich gehe es bei den Taten um einen Zeitraum von zehn Jahren. Geklärt werden müsse, ob man im rechtsextremistischen Spektrum nicht genau genug hingesehen habe.

 

"Verharmlost und ignoriert"

Grünen-Chefin Claudia Roth warf der schwarz-gelben Koalition vor, die Gefahr des Rechtsextremismus verharmlost und ignoriert zu haben. So habe Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) mit einer "kruden Extremismus-Formel bürgerschaftliches Engagement demotiviert und Organisationen, die sich gegen Rechtsextremismus stark machen, ein Stück weit kriminalisiert".

Der Vorsitzende des für die Kontrolle der Geheimdienste zuständigen Bundestagsgremiums, Thomas Oppermann, erklärte, er sei schockiert, dass es einer rechtsextremen Bande gelinge, über zehn Jahre unbehelligt Morde in Deutschland zu begehen. "Der Thüringer Verfassungsschutz hatte 24 Aktenordner, aber keine Ahnung."

 

Türken in Deutschland schockiert

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, kündigte Protestaktionen gegen rechtsextremen Terrorismus an. "Ich rufe die Deutschen auf, sich daran zu beteiligen und zu sagen: Das akzeptieren wir in unserem Land nicht." Er sei erschrocken darüber, dass in Deutschland Menschen wegen ihrer Herkunft getötet werden. "Ich erwarte schnellstmögliche Aufklärung."

Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek, bezeichnete die Vorfälle nicht als "Angriff auf eine bestimmte Gruppe, sondern auf die Grundfesten unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft".

 

"NPD als Flaggschiff der Rechtsextremen versenken"

Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte als Konsequenz aus der Mordserie von Neonazis ein verschärftes Vorgehen gegen den Rechtsextremismus. An einem Verbot der NPD führe jetzt "kein Weg mehr vorbei", sagte Zentralrats-Präsident Dieter Graumann. Dieses "Flaggschiff" der Rechtsextremisten müsse endlich "politisch und juristisch versenkt werden".

 

Graumann fügte hinzu, jetzt sei die "ganze Gesellschaft" gefordert. Die Vorfälle seien ein "Schock". Es müsse einen "resoluten Ruck" gegen den Rechtsextremismus geben. Offensichtlich seien die bisherigen Warnungen des Zentralrates von der Politik nicht ernst genug genommen worden.

 

Ermittler werten "Propagandavideo" aus

Bislang vermutet die Bundesanwaltschaft, dass auf das Konto der rechtsextremen Terroristen zehn Morde gehen. Zwischen 2000 und 2006 wurden neun Männer mit Migrationshintergrund in verschiedenen deutschen Städten regelrecht exekutiert, zudem soll der Mord an einer Polizistin in Heilbronn im Jahr 2007 auf das Konto der Neonazi-Gruppe gehen.

 

Außerdem rollt die Polizei zwei ungeklärte Anschläge in Nordrhein-Westfalen wieder auf. Es müssten jetzt alle "Straftaten, die über ähnliche Muster verfügen", noch einmal untersucht werden, sagte NRW-Innenminister Jäger. Dies seien ein Nagelbombenanschlag in einer überwiegend von Türken bewohnten Straße in Köln im Jahr 2004 mit 22 Verletzten sowie ein Anschlag auf jüdische Aussiedler an einer S-Bahn-Haltestelle in Düsseldorf im Jahr 2000. Bei dem Anschlag waren zehn Menschen durch eine Splitterbombe verletzt worden, zwei von ihnen lebensgefährlich. Eine Frau hatte ihr ungeborenes Baby verloren. Mehr dazu auch bei wdr.de.

 

Die Bundesanwaltschaft sagte auf Anfrage, die Neonazis hätten ein Bekennervideo an mehrere Absender versandfertig vorbereitet. "Der Spiegel" berichtete, ihm liege eine DVD mit dem 15-minütigen Film vor. Darauf rühmten sich die Rechtsterroristen mit der Mordserie sowie einem Anschlag in NRW. Die Bundesanwaltschaft sprach gegenüber tagesschau.de von einem Propagandavideo, das Täterwissen im Hinblick auf die Mordserie zeige. Die Gruppe nenne sich "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), sagte ein Sprecher.

Offen bleibt, ob es weitere Mitwisser gibt und warum die Neonazis ausgerechnet nach Zwickau gingen, um von hier ihre Taten zu planen und auszuführen. Tatsache ist: Seit Jahren gibt es eine braune Achse von Thüringen, wo die Terroristen zunächst aktiv waren, nach Zwickau, wo die Rechtsextremen seit 2001 lebten. In der Region Südthüringen und Westsachsen sind Neonazis seit vielen Jahren äußerst aktiv und gut miteinander vernetzt.

 

Ein langjähriger Kenner der Szene sagte gegenüber tagesschau.de, er vermute, die Neonazis seien damals mit Hilfe von führenden Rechtsextremen aus Thüringen untergetaucht.