Leipzig: Tatort Lindenau

Leipzig: Tatort Lindenau

Wir haben ein ungewöhnlich dickes Kampagnen-Update für euch zusammengestellt, und es war nicht zu vermeiden, dass diesmal das “Blaulichtmilieu” den Schwerpunkt ausmacht. Neben der Einstellung des Bauordnungsverfahrens gegen das Nazi-Zentrum geht es um die Nachttanz-Demo am Sonnabend – inklusive Kritik an der Polizei. Die spielt auch eine eigenwillige Rolle bei den jüngsten Naziangriffen in Lindenau. Zudem setzen wir uns mit dem Versuch des Verfassungsschutzes auseinander, die Kampagne “Fence Off” als “linksextremistisch” hinzustellen.

 

Bauordnungsverfahren eingestellt


Mit einiger Verspätung informierte die Stadtverwaltung in der vergangenen Woche darüber, wie es im Bauordnungsverfahren gegen das Lindenauer Nazi-Zentrum weiter geht – gar nicht, denn “das bauordnungsrechtliche Anhörungsverfahren zu dem durch die NPD genutzten Gebäude Odermannstraße 8 ist abgeschlossen”, und zwar ergebnislos. Das zuständige Dezernat Stadtentwicklung und Bau teilte der Presse mit, “dass sich derzeit keine rechtlich haltbaren Anhaltspunkte feststellen lassen, die eine bauordnungsrechtliche Nutzungsuntersagung rechtfertigen würden.”

Damit ist nun offiziell, was die Stadt bei der jüngsten Stadtratssitzung am 18.Mai nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit einräumen mochte und bei uns schon zwischen den Zeilen zu lesen war (siehe Kampagnen-Update #08). Über die Inhalte und Resultate des Bauordnungsverfahrens klärt die Stadt allerdings nicht auf, und so bleibt der Verdacht im Raum, dass die Behörden von Anfang an von falschen Angaben des Innenministeriums ausgegangen sind.

300 bei Nachttanz-Demo


Unterdessen gab es am Samstagabend erneut eine Demonstration gegen das Nazi-Zentrum: Mehr als 300 Menschen schlossen sich der Nachttanz-Demo “Beats Up & Shut Down” an, die von der Angerbrücke aus u.a. durch die Odermannstraße gezogen ist. Zu Beginn versuchten fünf jugendliche Nazis, zum Demo-Treffpunkt zu gelangen, wurden von der Polizei aber dorthin zurückgeschickt, woher sie kamen: zum Nazi-Zentrum. Dort standen sie auch noch rum, als die Demo daran vorbeizog.





Im Nachhinein kritisieren sowohl die Kampagne “Fence Off” als auch die Leipziger Linksjugend das Einsatzverhalten der Polizei. Diese versuchte zum einen, mitunter skurrile Auflagen durchzusetzen – beispielsweise waren hohle Plastik-Fahnenstangen untersagt, weil darin angeblich Feuerwerkskörper versteckt werden können. Zum anderen wollten die Beamten sämtliche Demo-TeilnehmerInnen vorab kontrollieren. Diese für Leipzig untypische Praxis ist im Kontext des Versammlungsrechts bundesweit umstritten und konnte von der Polizei nicht durchgesetzt werden.

Naziübergriffe in Lindenau (I): 20./21. Mai


Während die Polizei großen Eifer an den Tag legt, wenn es um eine Aufgabe geht, die ihr nicht obliegt, nämlich AntifaschistInnen zu disziplinieren, hatten Nazis in den vergangenen Tagen freie Hand im Leipziger Westen. Das nutzen diese aus und haben gleich mehrfach zugeschlagen:

In der Nacht um 21. Mai ist eine Nazigruppe durch Lindenau gezogen. Die 20 Vermummten versuchten, in Ateliers einzudringen und ein Transparent in Brand zu setzen. Außerdem wurden BesucherInnen des Lindenow-Kunstraumfestivals attackiert und rund um die Odermannstraße PassantInnen angegriffen und geschlagen. (Siehe Kampagnen-Update #08 und Bericht bei chronik.LE)

Schlimm genug, aber so schlimm scheinbar auch wieder nicht, um von der Polizei ernstgenommen zu werden. Diese informierte über die Angriffe nicht, was ihr Kritik durch chronik.LE, ein Stadtratsmitglied sowie eine Bundestagsabgeordnete einbrachte.

Darauf reagierte die Polizei am 27.Mai in der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Darin rechtfertigt sich die Polizei, sie habe nach den Übergriffen “sofort Einsatzkräfte in größerer Zahl vor Ort geschickt”, doch “die Fahndung nach den Tätern sei ohne Erfolg geblieben.” – Kleine Denksportaufgabe: Wenn in der Odermannstraße, in unmittelbarer Nähe des Nazi-Zentrums, Nazis zuschlagen und dann “sofort” weg sind – sind sie dann unauffindbar? Oder könnte es nicht sein, dass sie sich wenige Meter weiter hinter den Zaun der Odermannstraße 8 verzogen haben, wie sie es schon nach früheren Übergriffen und in dieser besonderen Nacht sogar mehrmals gemacht haben?

Die Polizei wählt Antwort C, eine viel originellere “Erklärung”: Die Opfer der Naziübergriffe lügen und überhaupt werde das Thema durch eine “bestimmte Zielgruppe” missbraucht. Polizeisprecher Uwe Voigt sagte wörtlich:

“Bei Sachverhalten, die mit der politischen Szene zusammenhängen, sind Schnellschüsse aus polizeilicher Sicht wenig hilfreich und zielführend, nur weil sie einer bestimmten Zielgruppe in ihre Argumentation passen. […] Die Angaben von den Geschädigten gegenüber der Polizei unterschieden sich immer von den Angaben, die diese Personen gegenüber bestimmten Internetplattformen gemacht haben.”

Außerdem könne man insbesondere Leipzigs Polizeipräsident Horst Wawrzynski “im Zusammenhang mit rechtsextremen Straftaten sicher nicht den Vorwurf der Untätigkeit unterstellen.” Das machte bislang zwar niemand, aber im Unterschied zu den Opfern der Übergriffe in Lindenau musste sich Wawrzynski, als er selbst von Nazis “wiederholt bedroht worden” ist, auch nicht nachsagen lassen, er habe “unterschiedliche Angaben” gemacht und “Schnellschüsse” gefordert, “nur” weil sie in seine “Argumentation passen.” Nein, in diesem Fall, bei dem niemand zu Schaden kam, ließ Wawrzynski mit einem anderen Maß messen – und seinen Sprecher sofort bei der “BILD” anrufen.

  • Siehe auch Kampagnen-Update #02. Darin wird berichtet, wie die Polizei in der Auseinandersetzung um das Nazi-Zentrum schon einmal gelogen hat: Die Auftaktdemonstration der Fence-Off-Kampagne wurde von Beamten auseinandergeknüppelt. Erst auf Nachfragen von JournalistInnen und nach Veröffentlichung eines Beweisfotos gab die Polizei den Schlagstockeinsatz zu.

Naziübergriffe in Lindenau (II): 27./28.Mai


Eine Woche später folgten ähnliche Szenen: In der Nacht zum Sonnabend, 28.Mai, versuchten mindestens zehn Nazis, BesucherInnen eines Kulturprojekts in der Zschocherschen Straße zu bedrohen, waren dort aber nicht willkommen. Kurze Zeit später griffen Nazis in Plagwitz mehrere Personen an. Und im Anschluss an die Nachttanz-Demo am Sonnabend (s.o.) wurden durch fünf Nazis die Scheiben eines alternativen Hausprojekts in der Josephstraße mit Steinen eingeschmissen. Das sah dann so aus:





Auch darüber berichtet die Polizeidirektion Leipzig in ihren Presseinformationen nicht. In einer hinreichend wahrheitsgemäßen Darstellung würde sie sowieso kein gutes Bild abgeben: Nachdem die Scheiben eingeworfen wurden, erschienen zwei Polizisten erst nach einer satten halben Stunden am Ort des Geschehens. Wiederum konnten keine Verdächtigen ermittelt werden, obwohl bei der Ankunft der Polizei und in deren Sichtweite eine Nazigruppe die Odermannstraße 8 in Richtung Lindenauer Markt verließ.

Hetzveranstaltung hinter dem Zaun


Unterdessen geht der Veranstaltungsbetrieb in der Odermannstraße 8 weiter. Am Freitag, 27.Mai, sprach dort der Rassist und Holocaust-Leugner Wolfgang Juchem zum Thema “Völkermord auf leisen Sohlen”. Juchem gilt als Veteran der rechten Szene, er ist ein häufig gebuchter Referent und tritt für die von ihm geführte “Aktion Freies Deutschland”(AFD) auf. Was er in Lindenau erzählte, ist kein Geheimnis – zu seinem Vortrag kursieren mehrere inhaltsgleiche Mitschnitte von früheren Veranstaltungen dieser Art:

Juchem spricht von der “Ausländerfrage” und echauffiert sich über angebliche “Armeen von Scheinasylanten und Asylbetrügern”, die Deutschland “systematisch neu besiedeln” wöllten. Dies bewirke eine “genetische Veränderung des deutschen Volkes durch Hereinholen großer Menschenmassen aus fernen Kulturbereichen und deren Kreuzung mit einheimischen Deutschen”, was einen “kriminellen Eingriff in die Evolution” darstelle. Dahinter stünden “internationale deutschfeindliche Langzeitstrategen” und “satanische Deutschenhasser”, genauer gesagt “mächtige Aufpasser jenseits unserer Grenzen, insbesondere in New York, in Washington, in Tel Aviv und Jerusalem”.

Noch deutlicher wird Juchem in den von ihm vertriebenen Broschüren. Darin leugnet der Antisemit deutsche Kriegsverbrechen und bezeichnet die Shoah als “Greuelpropaganda”. Im seinem Vortrag ruft er zudem zur Unterstützung und Wahl der NPD auf.

Verfassungsschutz tadelt Kampagne: “Rückgriff auf Theorien weiterer Ideologen wie Stalin”
Vor kurzem meldete das Landesamt für Verfassungsschutz, dass es über Hinweise verfüge, nach denen die Kampagne “Fence Off” nicht näher bezeichnete “linksextremistische Bestrebungen” verfolge und “maßgeblich von Autonomen initiiert” worden sei.Darüber berichteten wir im letzten Kampagnen-Update. Das wollten wir genauer wissen, fragten nach – und bekamen mit einiger Verspätung wirklich eine Antwort. Sie umfasst, je nach Zählweise, eine ganze Seite oder eine halbe Satire. Im Schreiben heißt es nämlich:

“Dem Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen liegen tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne des Sächsischen Verfassungsschutzgesetzes vor, dass an der Kampagne ‘Fence off’ Linksextremisten beteiligt sind.”


Das ist ausgesprochen dick aufgetragen und nicht ganz folgenlos: Eine Klassifizierung als “extremistisch” legitimiert die Beobachtung der Kampagne und ihrer MitstreiterInnen durch den Verfassungsschutz, das heißt Observation, den Einsatz von Überwachungstechnik und die Anstiftung weiterer Ermittlungen. Eine Klassifizierung als “extremistisch” ist automatisch eine Denunziation. Allein das kann man zweifelhaft finden. Die Satire beginnt, wenn dann die “tatsächlichen Anhaltspunkte” aufgezählt werden:

“Die Kampagne verwendet das Symbol der linksextremistischen „Antifaschistischen Aktion / Bundesweite Organisation“ auf ihrer Homepage und ihren Veröffentlichungen.”

Klingt schlüssig. Vorsichtshalber haben wir es trotzdem überprüft: Links das Logo der “Antifaschistischen Aktion / Bundesweite Organisation” (AA/BO), rechts das unter anderem von uns verwendete Antifa-Logo.



Beim genaueren Vergleich fallen Abweichungen in Details auf, die dem VS entgangen sind. Das betrifft nicht nur den Unterschied zwischen Rechteck und Kreis: Die AA/BO (links), eine bundesweite Vernetzung antifaschistischer Gruppen, wurde 1992 gegründet. Das Antifa-Logo (rechts) gabs schon vorher – es ist abgeleitet von einem Symbol aus den 1920er Jahren und wurde von der AA/BO nicht “erfunden”. Es ist außerdem unwahrscheinlich, dass die Kampagne “Fence Off”, die es seit drei Monaten gibt und gegen ein Nazi-Zentrum agiert, das seit zweieinhalb Jahren steht, mit der vor mehr als zehn Jahren aufgelösten AA/BO in Verbindung stehen kann.

Wir zweifeln ferner, ob von einer Organisation, die seit einem Jahrzehnt weg vom Fenster ist, eine Gefährdung für den deutschen Staat ausgeht (ZeitzeugInnen sagen, dass das selbst zu Lebzeiten der AA/BO ein Streitpunkt war). Ganz sicher kann so eine Gefährdung jedenfalls nicht ausgehen von einem speziellen Emblem oder ästhetisch verwandten Entwürfen. Aber vielleicht vom Text drumrum:

“Im Aufruf für die Kundgebung ‘Push It To The Limit’, die im Rahmen der Kampagne durchgeführt wurde, heißt es in typisch (antideutscher) linksextremistischer Diktion: ‘Es geht also auch, aber nicht nur gegen Nazis, und das geht nicht mit, sondern nur ohne Deutschland’.”

Wenn das ein Indiz für mangelnde Verfassungstreue ist, sind wir geständig: Wir haben uns schuldig gemacht, weil wir Deutschland und seine FreundInnen nicht zu unserer Kundgebung eingeladen haben. In der Regel ist und in diesem Falle war es tatsächlich so, dass sich BesucherInnen im Namen Deutschlands sowieso reinmogeln. Bei der angesprochenen Kundgebung waren das uniformierte Polizisten und eventuell nicht-uniformierte VS-Mitarbeiter.

Finden wir nicht gut, das sagen wir (was das Grundgesetz eindeutig hergibt) hin und wieder auch öffentlich und setzen deshalb nicht auf demonstrative Gastfreundschaft. Stattdessen haben wir – darum gehts uns – Deutschland und seine Nationalisten kritisiert. Dem VS geht es aber nicht um die Kritik, sondern um die “Diktion”, also den Sprachstil. Der VS zieht uns wie bei einem Schulaufsatz einen Punkt für die polternde Form ab (was doch Ansichtssache ist), und er ermahnt uns, wie man es in einem paternalistischen Staat erwarten muss, dass der Ton die Musik macht.

Das ist ausgesprochen albern, zumal für einen Inlandsgeheimdienst, aber der VS reitet ersthaft darauf herum – eben weil er uns inhaltlich nicht widerlegt. Muss er auch nicht, sagt das Behördenhandbuch. So klärt uns der VS-Brief schließlich darüber auf, dass eine “extremistische Bestrebung” schon dann nachgewiesen sei,

“…wenn es tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie auf die Beseitigung bzw. Außergeltungssetzung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet ist […] Im ‘Sächsischen Handbuch zum Extremismus und zu sicherheitsgefährdenden Bestrebungen’, S. 238, werden die charakteristischen Merkmale des Linksextremismus benannt.”

Auch das haben wir akribisch geprüft. Laut besagtem “Handbuch” lauten die Merkmale des “Linksextremismus” wie folgt:

  • “Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus als ‘wissenschaftliche’ Anleitung zum Handeln; daneben, je nach Ausprägung der Partei oder Gruppierung, Rückgriff auch auf Theorien weiterer Ideologen wie Stalin, Trotzki, Mao Zedong und andere.”
  • “Bekenntnis zur sozialistischen oder kommunistischen Transformation der Gesellschaft mittels eines revolutionären Umsturzes oder langfristiger revolutionärer Veränderungen.”
  • “Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats oder zu einer herrschaftsfreien (anarchistischen) Gesellschaft.”
  • “Bekenntnis zur revolutionären Gewalt als bevorzugter oder, je nach den konkreten Bedingungen, taktisch einzusetzender Kampfform.”

Wir freuen uns schon über Komplimente. Aber dass wir “revolutionäre Gewalt” anwenden, die “Diktatur des Proletariats” ausrufen wollen und uns bei russischen oder chinesischen Experten eigens Rat geholt haben, ist ein übles Gerücht. Wenn diese Gerüchte über uns wahr wären, ständen keine Silfragen zur Debatte, sondern die Auflösung einer tatsächlich undemokratischen Organisation: des Verfassungsschutzes.

  • Lesetipp: Über die mangelnde Seriosität von Einschätzungen des Verfassungsschutzes berichtet das antifaschistische a.i.d.a.-Archiv aus München. Das a.i.d.a.-Archiv war im Verfassungsschutzbericht als “linksextremistisch” bezeichnet worden. Einer gerichtlichen Prüfung hielt diese staatliche Diffamierung nicht stand.