Auf dem größten der antisemitischen Massenaufmärsche, die in Wien anlässlich der Aufbringung der Friedensflotte genannten antiisraelischen Armada abgehalten wurden, wurde neben Fahnen der Hisbollah, der Hamas, der Islamischen Republik Iran sowie Flaggen des militanten Jihad auch ein Transparent mitgeführt, auf dem zu lesen war: „Der Kampf gegen Israel ist nicht Antisemitismus, sondern Antirassismus.“ [1] Angesichts solch einer Ausführung, die vielleicht in ihrer Eindeutigkeit, nicht aber in der in ihnen sich reflektierenden Argumentation hervorsticht, sondern vielmehr von den Israelkritikern unterschiedlichster Couleur geteilt, ja sogar als Ausweis für Reflektiertheit sowie Menschen- und Friedensfreundlichkeit angeführt wird, stellt sich die Frage, was für ein Begriff von Rassismus dem Antirassismus als Weltanschauung zugrunde liegt und warum dieser geradezu notwendig auf so geartete Feststellungen hinauslaufen muss.
Den Vorwurf, selbst antisemitisch zu sein, weisen
Antirassisten, wie man nicht zuletzt an dem angesprochenen
Transparent sehen kann, weit von sich; eine zum antirassistischen
Ticket gehörige Sensibilität, die sich auf Völkerverständigung
und Minderheitenschutz beruft, gilt als Beweis, dass man kein
Antisemit sein könne, weil man kein Rassist sei. Schon in dieser
Argumentation wird deutlich, dass ein bestenfalls diffuses
Verständnis des Antisemitismus vorherrscht: Er wird lediglich als
eine Spielart des Rassismus betrachtet, als einer von vielen
„Rassismen“ [2], der sich in diesem konkreten Fall eben gegen
Juden richtet, wie andererseits die Islamophobie sich Moslems als
Ziel suche. Dieses interessierte Unverständnis ist es, das dem
Gerede von „strukturelle[n] Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus
und Islamfeindlichkeit“ zugrunde liegt, wobei es mittlerweile zum
kritisch sich gebenden Repertoire der solcherart Argumentierenden
gehört, gleichermaßen reflexartig wie gehaltlos darauf hinzuweisen,
diese Konstatierung von Parallelen geschehe, „ohne billige
Gleichsetzungen anstellen zu wollen.“ [3]
Der Rassismus im
Allgemeinen entspränge dem Hass auf das Fremde und der Furcht vor
dem Unbekannten, sei also ein Vorurteil im strengen Sinne des Wortes.
Der Antisemitismus im Besonderen sei demgemäß eine solche
Fremdenfeindlichkeit gegen und Diskriminierung von Juden. Der Hass
auf den Zionismus, der in antirassistischen Kampfparolen gegen Israel
wie den eingangs zitierten sich ausdrückt, kann in diesem
Verständnis nicht als Antisemitismus begriffen werden – dies nicht
zuletzt deswegen, weil die vernunft- und zivilisationsfeindliche
Ranküne geradezu naturwüchsig zur Grundausstattung der Warner vor
Islamophobie, ihrer Vorstellung von Rassismus und der darüber
vermittelten eigenen Israelkritik gehört. [4] Unter dem Kampfbegriff
Islamophobie wird mittlerweile so gut wie jede Kritik am Islam und
dessen politischer Praxis subsumiert – auch wenn seine
Propagandisten treuherzig versichern, gegen „Kritik an einzelnen
Phänomenen des Islam überhaupt nichts [zu] haben“ [5] –, und er
wird in einem weiteren Schritt als ein den „judeophobe[n] Aspekten“
des „Diskurses“ [6] gleichwertiges, wenn nicht aktuelleres und
damit brennenderes Phänomen verstanden. Neben den bereits
aufgeführten geben etwa die Veröffentlichungen des Berliner
Zentrums für Antisemitismusforschung und seines Leiters Wolfgang
Benz oder die des konkret-Autors Kay Sokolowsky [7] – um
nur zwei weitere relativ beliebige Beispiele zu nennen – beredtes
Zeugnis von dieser Tatsache. [8]
Zum Verhältnis von
Rassismus und Antisemitismus
Materialistische Kritik
dagegen hat kenntlich zu machen, dass der Rassismus historisch die
Biologisierung von Produktivitätsgefällen darstellt. Als
gesellschaftlich notwendiger Schein kolonialer Praxis entsprang er
daraus, dass die Wertbestimmung kolonialer Arbeitskraft in Natur
aufgelöst wurde – dass die kolonialen Arbeitskräfte auf Natur,
auf quasi tierisches Dasein reduziert wurden. Sie wurden als
„Minderwertige“ projiziert und ihre gesellschaftliche Stellung
naturalisiert. Ihre Erscheinung als koloniale Arbeitskraft wurde also
für das Wesen genommen, sodass es an der Oberfläche erschien, als
ob die minderwertige Behandlung einer „natürlichen
Minderwertigkeit“ entspreche, wie auf der anderen Seite die
Kolonialisierung der „natürlichen Überlegenheit“ der Europäer
entspringe. [9] Zu Zeiten des Kolonialismus und der Sklaverei, zu
Zeiten der Durchsetzung des Weltmarkts also, heftete sich diese die
Unterdrückung rationalisierende Verkehrung an einen realen
gesellschaftlichen Unterschied, den zwischen kapitalistischer und
vorkapitalistischer Subjektivität. [10] Dieser Unterschied existiert
jedoch nicht mehr – was allerdings nicht bedeutet, dass sich die
verkehrende Projektion aufgelöst hat und verschwunden ist. Vielmehr
hat sie eine Transformation und Verallgemeinerung erfahren und
befriedigt nun ein allumfassendes psychisches Bedürfnis der
krisenhaft konstituierten kapitalen Subjekte.
Der Rassismus
ist demgemäß zu verstehen als eine objektive Verkehrung, durch den
die Einzelnen sich ihre Tauglichkeit zur Verwertung bzw. ihre
Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als Naturmerkmal halluzinieren.
Sie spalten die in der nachbürgerlichen Gesellschaft allumfassend
gewordene Angst ab, der eigenen gesellschaftlich produzierten
Überflüssigkeit überführt zu werden, und projizieren diese in die
Außenwelt. Der identitäre Wahn ist solcherart eine Ideologie der
Konkurrenz, eine Abgrenzung gegen und – letzten Endes –
Feinderklärung an den nicht zum eigenen Kollektiv Gehörigen. In
diesem wird, wie verkehrt und wahnhaft auch immer, der Konkurrent,
die Arbeitskraft und damit der Gleiche erkannt, als der er
gleichzeitig gebannt werden soll, was durch seine Reduzierung auf
Natur, die zur Verwertung nicht tauglich ist, bewerkstelligt wird.
Dadurch wird er überhaupt erst zu jenem Ungleichwertigen erklärt,
der er in der Realität des global durchgesetzten Weltmarkts und
seiner Subjektivität eben per se nicht ist. Wie sehr in dieser
Denkform der Konkurrent immer noch aufscheint, und wie wenig die
Projektion von eigener Verwertbarkeit aufgrund „natürlicher“
oder „kultureller“ Zugehörigkeit selbst von denen ganz geglaubt
wird, die solche Vorstellungen hegen, das zeigt schon das
zwangsläufig gleichzeitige, aber entgegen gesetzte Szenario,
demgemäß dieselben Zuwanderer, die doch als bloße Natur zu Wert
schöpfender Arbeit gar nicht in der Lage sein sollen, nur deswegen
„zu uns“ kämen, um „uns die Arbeitsplätze wegzunehmen“.
Gegen den vorherrschenden Rassismusbegriff wäre also kritisch
einzuwenden, dass der Rassist und Fremdenhasser am Ausländer gerade
nicht das Fremde und Andersartige – die Differenz, wie es im
postmodernen Jargon heißt – hasst, sondern vielmehr die
Gleichartigkeit. Was der Ausländerfeind also verabscheut, und
wogegen er verzweifelt seine nationale Besonderheit stellt, ist die
Gleichheit und Ununterscheidbarkeit der als Subjekte konstituierten
Individuen im Prozess der kapitalen Verwertung – und darüber
vermittelt seine eigene Austausch- und Ersetzbarkeit.
Doch in
Zeiten des durchgesetzten Weltmarktes und seiner massenhaften
Produktion von für den Fortgang der Verwertung Überflüssigen gibt
es kein natürlich scheinendes Kriterium – wie etwa die Hautfarbe
–, das den Einzelnen ihre produktive Indienstnahme und damit ihre
Zugehörigkeit zum Kollektiv der Überlegenen sichert. Gerade diese
Tatsache aber nötigt diese Einzelnen umso mehr zum Beharren auf der
eigenen Unverwechselbarkeit und der Attributierung der Konkurrenten
als Fremde oder Nicht-Dazugehörige. Genau in dieser Tatsache ist
denn auch die in den letzten Jahren immer verstärkter zu
beobachtende Fahndung nach kollektiven Identitäten zu verstehen: die
Suche nach unhintergehbarer Identität, deren Anerkennung den
Individuen ihren „Platz an der Sonne“ – d.h. an der Werkbank –
garantieren soll. Der arbeitsgerichtliche Streit etwa darum, ob Ossis
eine eigene Ethnie sind und deswegen dem Antidiskriminierungsgesetz
unterliegen, [11] ist nur eine, lediglich auf den ersten Blick
belanglos und absurd wirkende Erscheinung dieses
gesamtgesellschaftlichen Trends. Die Ununterscheidbarkeit der auf
Kapitalproduktivität und Staatsloyalität festgelegten Monaden
treibt diese zur Behauptung der Differenz. Sie treibt sie zur
Forschung nach Merkmalen, die die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv
unhintergehbar begründen und entweder die als fremd Attributierten
draußen halten, oder den Sich-selbst-Ethnifizierenden einen Zugang
zu den Futtertrögen garantieren sollen, indem sie sich als unter
Schutz zu stellende „Andere“ gerieren.
Statt nun aber die
Willkürlichkeit der kollektiven und identitären Zuschreibungen als
Ergebnis der negativen Vergleichung durch Staat und Kapital zu
kritisieren, beteiligt sich der Antirassismus an der Verschleierung
eben dieses Mechanismus. Die Projektion der kollektiven
Verschiedenheit wird nicht als dem Wunsch des kapitalen Subjekts
entsprungen kritisiert und nicht als wahnhafter Versuch denunziert,
der Gleichheit der Konkurrenz zu entgehen, sondern wird vielmehr in
der Anerkennung der „Verschiedenartigkeit der Kulturen“
affirmiert und bloß positiv gewendet. Dieser Antirassismus nimmt den
rassistischen Impuls auf, der die Verschiedenheit der Menschen nicht
als je individuelle Qualität, sondern als Ausdruck eines
unentrinnbaren Kollektivs behauptet. So schreibt etwa Iman Attia in
ihrem Buch Die „westliche Kultur’“ und
ihr Anderes: „In gesellschaftskritischer Perspektive und von
soziologischen Begriffen, Fragestellungen und Aufgaben ausgehend,
ergänzt die poststrukturalistische Sozialwissenschaft mit der
Kategorie ‚Kultur’ die bislang zentralen Kategorien der Struktur
und des Subjekts. Als Bindeglied zwischen Struktur und Subjekt ist
Kultur der Bereich, in dem Subjekte in den Strukturen handeln, sie
sich aneignen, sie hervorbringen und transformieren. […] Dieser
Prozess, in dem Subjekte und Strukturen sich aufeinander beziehen,
findet seinen Rahmen und seinen Ausdruck in der Kultur.“ [12]
Was
sich hier gesellschaftskritisch gibt, ist das genaue Gegenteil davon,
nämlich die begriffliche Verdopplung der gesellschaftlichen
Realität, statt ihrer kritischen Durchdringung: Die Annerkennung der
Menschen findet nicht als Anerkennung dieser als besondere Individuen
statt, sondern als Exemplare kultureller Kollektivsubjekte. Die
Einzelnen werden entindividualisiert und zu klar abgegrenzten
Repräsentanten fremder Kulturen gemacht, deren Kritik als
eurozentristische Anmaßung aufgefasst wird. Um auch hier nur ein
Beispiel unter vielen zu nennen, sei ein Aufsatz von Sawitri Saharso
zitiert, in dem sie ausführt, dass es rassistisch sei, die
Entfernung der Klitoris als Verstümmelung (Mutilation) zu bezeichnen
und zu verbieten: „Das Problem eines solchen Verbots ist aber, dass
viele Lebensweisen mit Praktiken der Geschlechterdiskriminierung
verbunden sind. Obwohl ich begrüßen würde, wenn wir uns alle
feministischen Überzeugungen anschließen würden, haben wir in
unserem Privatleben das Recht, geschlechterdiskriminierende Praktiken
zu wählen. Eine Praktik aufgrund von Geschlechterdiskriminierung zu
untersagen, würde bedeuten, dass all diese Praktiken nicht mehr
länger rechtens wären. Dies würde aber unzulässigerweise
persönliche Freiheiten einschränken.“ [13] Solcher Antirassismus,
der sich allen Ernstes als emanzipatorischer Sprecher für die
Unterdrückten begreift, baut auf einer positiv verstandenen
kulturellen Identität der Menschen und Völker auf, und schreckt
dabei zwangsläufig nicht davor zurück, auch noch die schlimmsten
Verbrechen als „persönliche Freiheit“ innerhalb der kulturellen
Vielfalt unter Naturschutz und damit unter Kritikverbot zu
stellen.
Der Rassismus wie der Antirassismus sind objektive
Denkformen der warenproduzierenden Vergesellschaftung und als solche
Ausdruck des Wahns mittels dessen die kapitalen Subjekte sich einer
als natürlich imaginierten, unaufkündbaren Zugehörigkeit zum
Kollektiv, zur Gemeinschaft der Unabkömmlichen versichern möchten.
Die allumfassende Nötigung, die eigene Nützlichkeit und
Vernutzbarkeit im Gange der Verwertung, welche stets nur verlangt,
niemals aber garantiert ist, zu beweisen, ist solcherart aber nicht
aus der Welt zu schaffen. Die harmonisch halluzinierte Gemeinschaft
entpuppt sich stets wieder als Zwangszusammenhang von Konkurrenten,
die ihrem Verwiesensein an den kapitalen Prozess, den doch nur sie
selbst in Gang halten, nicht entgehen können. Sie befinden sich in
einer objektiven Situation, in der sie der negativen Vergleichung in
der Konkurrenz ausgesetzt sind, welche einerseits ihre Subjektivität
permanent setzt, diese aber ebenso permanent bedroht und
hintertreibt. Dies bringt den Hass auf das gleichmachende Prinzip und
alles, was damit identifiziert wird hervor. Das „automatische
Subjekt“ (Marx), das die Einzelnen durch ihr gesellschaftliches
Handeln produzieren und reproduzieren, wird von ihnen in einem Akt
der Veräußerlichung als über ihnen stehende Macht konkretisiert
und soll als Aggressor dingfest gemacht werden: als Finanzkapital und
Spekulantentum [14], als Globalisierung, als Arroganz und
Maßlosigkeit des Westens u. ä. „Die Feindschaft der Völker gegen
die Globalisierung von außen entspricht der Feindschaft der
Kollektivsubjekte gegen den Zersetzer im Inneren. In multipler Form
entsteht so das ‚ewig jüdische Prinzip’ neu, jenes das stets
verneint.“ [15]
Die kapitalen Subjekte halluzinieren sich
ein personifiziertes negatives Prinzip, auf das sie alle krisenhaften
Phänomene der Moderne projizieren, ihm Allmacht und
Allgegenwärtigkeit unterschieben, und es für alle empfundenen Übel
und Ungerechtigkeiten verantwortlich machen. Insofern schwingt im
Antisemitismus notwendig und immer ein sozialrevolutionäres Moment
mit – die Schreckgestalt eines verneinenden Prinzips, das die
Menschen, die Völker und Kulturen ins Übel stürzt, das ihre
Identität unterwandert und zu zersetzen droht; diesem Prinzip soll
es an den Kragen gehen, um so Identität endgültig und definitiv
fest- und stillzustellen. In genau diesem Zusammenhang ist auch das
eingangs zitierte Transparent zu verstehen: Der jüdische Staat wird
als jener rassistische Aggressor projiziert, der die schützens- und
erhaltenswerten Kulturen, Differenzen und „Praktiken“ (Saharso)
der Welt bekämpft und zerstört, um sie unterjochen und ausbeuten zu
können und den an diesem Unterfangen zu hindern als antirassistische
Pflicht erscheint.
Es existiert ein fundamentaler Unterschied
zwischen Rassismus und Antisemitismus: Ersterer „ereignet sich […]
im Rahmen von Vergleichung und Konkurrenz, während der
Antisemitismus sich gegen die durch den Tausch gestiftete
Vergleichung der Individuen als kapitale Subjekte wendet.“
Letzterer rationalisiert also die Vergleichung als Verschwörung und
projiziert sie auf empirische Personen, die er ohne Rücksicht auf
ihre Besonderheiten aus der Welt schaffen möchte. „Antisemitismus
ist der barbarische Aufstand aller Ressentimentgeladenen und
Opferwütigen, egal, wie sehr sie mit welch ‚rassistischen’
Vorwänden auch immer sich untereinander selbst ans Leder wollen.“
[16] Dies ist auch der Grund, warum sich unter jenem antiisraelischen
Transparent eine auf den ersten Blick derart heterogene Masse
versammeln kann, wie auf der Demonstration in Wien am 4. Juni 2010:
Internationalistische Trotzkisten, arabische Islamisten, kurdische
Nationalisten, türkische Faschisten der Grauen Wölfe und
„Feministischer Widerstand gegen imperialistischen Krieg“ [17] –
der Bezug auf den gemeinsamen Feind, der gemeinsame Hass auf das
Abstrakte und die Sehnsucht nach unhintergehbarer Gemeinschaft
schafft die Einheit der antisemitischen Internationale; diese
ungenießbare Melange ermöglicht die Konstituierung jener Hetzmasse
von einander spinnefeindlich gesinnten Rackets.
Es ist allein
der Antisemitismus, der als allumfassende Welterklärung auftritt und
eine existentielle Feinderklärung vornimmt, die ohne Rücksicht auf
alle individuellen und sozialen Eigenschaften vorgeht und alle von
ihm Betroffenen auf bloße Opfer, auf zu vernichtendes Material
reduziert. Er ist die autoritäre Rebellion gegen die
widersprüchliche und krisenhafte Konstitution der als kapitale
Subjekte gesetzten Individuen und als solche gleichzeitig die
bewusste Exekutierung der barbarischen Züge, die die
kapitalvermittelte Vergesellschaftung in ihrem Verlauf aus sich
selbst heraus produziert. Der Antisemitismus ist somit zu
charakterisieren als fetischistische Revolte gegen das Kapital auf
der Grundlage des Kapitals, und genau darin, eine konformistische
Rebellion gegen das Kapital auf dessen eigener Grundlage exekutieren
zu wollen, gleicht sich der gesinnungsethische Antikapitalismus der
Antiglobalisierer und der Panarabisten, der Islamisten und der
Antiimperialisten, was auch erklärt, warum der Antisemitismus ein
notwendiges Moment all dieser Weltanschauungen ist; und zwar genau
jenes verbindende Moment, das ihre jeweilige Avantgarde auf der Mavi
Marmara hat zusammenfinden lassen.
Antirassismus
als Antikapitalismus
Der spontane Antikapitalismus,
für den in Deutschland paradetypisch „Die Linke“ steht, erklärt
Ausbeutung und Verelendung als Ausfluss egoistischer und raffgieriger
Absichten, fasst diese in weiterer Folge als rassistische
Diskriminierung und Ausplünderung der Völker der Dritten Welt und
ist bestrebt, darüber die Zusammenrottung der Verelendeten zum
Kollektiv der sich Wehrenden und Zurückschlagenden zu betreiben, wie
man nicht zuletzt an den Geschehnissen rund um die antisemitische
Piratenfahrt gen Gaza beobachten konnte. Es entspricht genau der
antirassistischen Weltanschauung, wenn Anette Groth von einer
„unglaublich gute[n] Atmosphäre“ inklusive Gesang auf der Mavi
Marmara schwärmt und Norman Paech erklärt, sich in diesem
„bunte[n] Treiben“ wie auf einem „Bazar“ gefühlt zu haben.
[18] Es entspricht genau dieser Disposition, dass beide nichts als
harmonische und friedliche Vielfalt der Kulturen erkannt haben
wollen, bis die israelische Soldateska diesem fröhlichen und bunten
Treiben ein gewaltsames Ende bereitet habe und dafür zurecht mit
Gewalt konfrontiert wurde, die nichts als Gegenwehr und
Selbstverteidigung gewesen sei. Der an dieser Stelle als
repräsentatives Beispiel einer sich selbst als oppositionell
halluzinierenden Organisation herangezogene BAK Shalom gibt zu
dieser Irrenlogik dann das Feigenblatt ab, indem er in seiner
Stellungnahme zur „Unterstützung der ‚Friedensflotille’“ den
Parteigenossen Höger, Paech und Groth erst Respekt ob der „widrigen
Umstände, die sie durchmachen mussten“, ausspricht und ihnen
danach ins Stammbuch schreibt, dass sie es bei der grundsätzlich
nicht verwerflichen „Infragestellung der israelischen
Blockadepolitik“ ein wenig übertrieben hätten, um schließlich
ebenfalls die Souveränität des jüdischen Staates zu untergraben,
indem er ihm kluge Ratschläge gibt und eine internationale
Untersuchungskommission fordert. [19]
Es ist der
Antirassismus selbst, der den Rassismus nicht als eine objektive
Gedankenform der globalen kapitalistischen Vergesellschaftung
begreifen kann. Er macht ihn stattdessen zu einer Chiffre für
Unrecht und Ungerechtigkeit schlechthin und schwingt sich so zum
ressentimentgeladenen Deutungsmuster für gesellschaftliche Prozesse
aller Art auf. Um auch hier wieder nur ein Beispiel zu nennen: Im
Vorfeld der berüchtigten Durban Review-Konferenz letztes
Jahr in Genf hielt das Forum für Menschenrechte in
Israel/Palästina, dem etwa Amnesty International Schweiz
und die Schweizer Caritas angehören, am 19. April 2009 eine
Israel Review-Konferenz ab. Auf dieser wurden allen Ernstes
israelische Swimming Pools zu rassistischen Unterdrückungsmaßnahmen
erklärt, die den in der palästinensischen Scholle wurzelnden
Olivenhainen das Wasser abgraben würden. [20] Wie Leo Löwenthal
bereits in den 1940er Jahren festgestellt hat, dient diese Art der
Agitation nichts anderem als dem Schüren von „Ressentiments
gegenüber den Exzessen des Luxus.“ In seiner Studie Falsche
Propheten führt er aus: „Der Agitator entwirft ein bizarres
Bild überdimensionierter luxuriöser Besitztümer, […] wo es von
Schwimmbassins nur so wimmelt.“ [21]
Der so argumentierende
Antirassismus ist eine antikapitalistische Bewegung, die sich die
Verallgemeinerung des Elends auf ihre Fahnen geschrieben hat und die,
die sich unter dieser Fahne sammeln, erwarten nur eine Form der
Belohnung: Sie dürfen ihr Mütchen an den im Luxus verkommenen
Sündern kühlen, wenn ihnen diese als Beuteopfer in die Hände
fallen. Seine Agitation zielt darauf, die Gesellschaft in identitäre,
gemeinschaftliche Elendsselbstverwaltung zu überführen. Die zu
schützenden Völker und Kollektive sind charakterisiert dadurch,
dass sie durch rigide Verzichtsmoral und das aggressive Einklagen
eines Opferstatus zusammengehalten werden und dieses Einklagen
ermöglicht es, sich als jene „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus)
zu präsentieren, die aus den Ausführungen Groths und Paechs
spricht. Dieses Einklagen ermöglicht es, sich als Opfer zu fühlen
und aufzutreten, das in der Verfolgung des imaginierten Verursachers
der als Übel und Ungerechtigkeit empfundenen gesellschaftlichen
Verhältnisse immer nur in Notwehr auf einen äußeren Aggressor zu
reagieren beansprucht. So charakterisiert auch Jürgen Habermas die
Selbstmordanschläge islamistischer und panarabistischer Rackets als
psychologisch nachvollziehbare Reaktion, mit der eine durch
„gewaltsame Entwurzelung“ „aus ihren kulturellen Traditionen
herausgerissene Bevölkerung“ auf die „aufreizend
banalisierende[…] Unwiderstehlichkeit einer materialistisch
einebnenden Konsumgüterkultur“ reagiert. [22] Es gelte
dementsprechend – so Habermas in einem anderen, gemeinsam mit
Jacques Derrida verfassten Aufsatz –, den jihadistischen Terror als
eine Bewegung zu sehen, welche den Westen „für die Gewalt einer
oktroyierten und entwurzelnden Moderne zur Rechenschaft“ zieht.
[23]
Nicht die Jihadisten mit ihrem Hass auf den Westen
sollen die Urheber der Selbstmordanschläge sein, sondern der
arrogante und überhebliche Westen, der seine Kultur dem gesamten
Erdball aufzwinge, fordere solch antirassistische Gegenwehr geradezu
heraus. Diese wird folglich auch nicht als Krieg, sondern geradezu
als – wenn auch manchmal überzogen gewaltsame – kulturbewahrende
Notwendigkeit verstanden, womit die antiwestliche Enthemmung zugleich
gegen jede Kritik immunisiert wird. Durch die Selbstentmündigung
mittels der Reklamierung des Status als bloßes Opfer verbitten sich
die Kollektive und ihre Fürsprecher nicht nur jede Einmischung,
sondern auch jede Kritik von vornherein als ethno- oder
eurozentristische Arroganz und als Rassismus. So schreibt etwa Judith
Butler in ihrem Aufsatz Unbegrenzte Haft in Hinblick auf
jihadistische Kämpfer: „Wenn wir annehmen, dass jeder Mensch so
Krieg führt, wie wir das tun, und daß dies ein Teil dessen ist, was
ihn erkennbar menschlich macht, […] dann verwenden wir einen
begrenzten und begrenzenden kulturellen Rahmen für unser Verständnis
dessen, was es heißt, menschlich zu sein.“ [24] Und sie fährt
fort: „Wenn diese Gewalt Terrorismus ist anstatt Gewalt wird sie
als ein Handeln ohne politische Zielsetzung aufgefasst, oder sie kann
politisch nicht gedeutet werden. […] Daß es ein islamischer
Extremismus oder Terrorismus ist, bedeutet einfach, daß die bereits
vom Orientalismus bewirkte Entmenschlichung auf die Spitze getrieben
wird, so daß diese Art von Krieg aufgrund ihrer Einzigartigkeit und
Außergewöhnlichkeit von den Annahmen der Universalität und vom
Schutz der Zivilisation ausgenommen wird.“ [25] Auch hier sind es
wiederum nicht die Jihadisten, die, wie man in jeder ihrer
Verlautbarungen nachlesen könnte, ganz selbstbewusst einen Kampf
gegen die Zivilisation führen und diese vernichten möchten, die an
der Barbarisierung der Verhältnisse arbeiten, sondern der
rassistische Westen mit seinen universalistischen Vorstellungen etwa
vom Kriegsrecht. Während der Kampf gegen Rassismus, wie ihn etwa die
amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern geführt hat, den
Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von universalistischen
Rechtsansprüchen kritisierte und dagegen vorging, dreht der
Antirassismus den Spieß um: Er behauptet, vernunftgeleitete Maßstäbe
seien rassistisch, weil westlich. Er denunziert und verwirft so den
Universalismus als Partikularismus – solange dieser nicht auch noch
das grausamste Verbrechen im Namen der Kultur mit einbezieht. Der
Universalismus, der Butler vorschwebt, ist der der vollendeten
kulturell-konkreten Parzellierung im Kampf gegen die abstrakten
Allgemeinbegriffe.
Der friedenssehnsüchtige Kampf
gegen Israel
Dieser Antirassismus ist – wie bereits
erwähnt – Ausdruck einer konformistischen Revolte gegen das
Kapital. Er entspringt nicht dem Wunsch nach Emanzipation, sondern
ist vielmehr das genaue Gegenteil von emanzipatorischer Umwälzung
auf dem höchsten Niveau bestehender Vergesellschaftung. Stattdessen
will er in einem einseitigen Angriff auf die als abstrakt
abgespaltenen Seiten der Warenproduktion das Konkret-Natürliche
retten und entspricht darin genau der antisemitischen Denkform. Die
wertförmige, über das Geld vermittelten Vergesellschaftung wird
nicht deswegen kritisiert, weil sie irrational und die von ihr
gesetzte Individualität als Anhängsel der Wertverwertung eine
ideologische und krisenhafte ist. Die Gesellschaft und der über sie
vermittelte Individualismus werden vielmehr denunziert, weil längst
schon keine Gesellschaft von Individuen mehr gedacht, geschweige denn
verwirklicht werden soll, sondern lediglich ein weltweiter Ethnienzoo
verschiedener Kulturen und anderer kollektiver Identitäten. „In
mir“, formuliert Butler in ihrer Kritik der ethischen Gewalt,
ist „eine andere Geschichte am Werk und es ist unmöglich zwischen
dem ‚Ich’ […] und dem ‚Du’ – der Menge der ‚Dus’ –,
das mein Begehren von Anfang an bewohnt und enteignet, zu
unterscheiden.“ [26]. In allen von uns ist eine Geschichte, eine
Struktur, ein Sein Heideggerscher Provenienz am Werk, das bedingt,
dass wir „alle nicht genau umgrenzt, nicht wirklich abgesondert,
sondern einander körperlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert
sind, einer in der Hand des anderen.“ [27]
Dass der als
Menschenliebe und Verantwortungsethik auftretende Antirassismus sich
aus trüben Quellen speist, aus genau jenem Hass auf den
Konkurrenten, der im unmittelbar rassistischen Stereotyp offen zutage
tritt und im antirassistischen nur positiv gewendet ist, sprechen die
Vertreter dieser Weltanschauung offen aus. So hadert Judith Butler
damit, dass der Westen in seiner arroganten Zentrierung auf Vernunft
und Gesundheit, die „Gefährdetheit des Lebens“ [28] nicht als
das unhintergehbare menschliche Existenzial affirmiere, sondern
stattdessen versuche, diese in seiner Verdrängung des Todes und des
Wahnsinns zu derealisieren und zu übertünchen. Es ist lediglich
eine dünne Patina der Rationalisierung die sich über ihren
todessehnsüchtigen Voyeurismus gelegt hat, wenn sie auf das Gefühl
der Reue und Trauer hinweist, dass „die Bilder mit Napalm
verbrannter Kinder“ im Vietnamkrieg ausgelöst haben. So bedauert
sie, dass die „Medien solche Bilder nicht mehr zeigen“ und uns
deswegen die Menschenleben „nicht in ihrer Gefährdetheit und
Vernichtung erscheinen […].“ „Unter den derzeitigen Bedingungen
der Darstellung“ so fährt sie fort, „können wir weder den
gequälten Schrei hören noch durch das Gesicht gezwungen oder
genötigt werden. […] [W]elche Medien werden uns diese
Zerbrechlichkeit wissen und fühlen lassen und damit an die Grenzen
der Darstellung gehen, so wie diese zur Zeit kultiviert und
unterhalten wird?“ [29]
Butlers gesamte Ethik ist eine
Apotheose des Leids als menschliches Existenzial. Den Anspruch auf
Versöhnung wird man bei ihr vergeblich suchen, vielmehr denunziert
sie ihn als anmaßende Hybris des modernen Subjekts und insofern
spielt auch der Begriff des Glücks in ihrer Philosophie keine Rolle:
Das Menschliche, das es zu schützen gelte, ist ihr vielmehr der
„Schrei menschlichen Leidens, der keine direkte Darstellung zuläßt“
[30] – eine uns in Geiselhaft nehmende „Vokalisierung der Qual“.
[31] Dies nicht etwa zu kritisieren und abzuschaffen, sondern
anzuerkennen und zum Programm einer Ethik zu machen, ist das Anliegen
von Butlers Schriften, in denen sie dezidiert die Bejahung der
„Unfreiheit im Herzen unserer Beziehungen“ [32] propagiert. Diese
Unfreiheit und damit Todesverfallenheit menschlichen Lebens nicht
anzuerkennen, darin besteht für Butler die Kardinalsünde des
Westens und seiner Subjektivität, die ihr eine einzige Veranstaltung
ist, der unhintergehbaren Verletzbarkeit allen menschlichen Lebens zu
entrinnen. Es gehe dem westlichen Denken darum, einen „‚moralischen
Narzissmus’ (zu nähren), dessen Lustgewinn in seiner Fähigkeit
liegt, die konkrete Welt zu transzendieren“ [33] – also Qual,
Leid und dem Tode Ausgesetztsein abschaffen zu wollen, was laut
Butler eine arrogante Halluzination ist.
Indem sie jedes über
Immanenz hinausgehende Denken als Ausfluss moderner Subjektherrschaft
und Selbstzurichtung denunziert, gerät ihr – wen wundert es noch –
der Zionismus ins Blickfeld, jene politische Bewegung, die sich mit
der Opferrolle der Juden nicht abfinden, sondern diese durch die
Schaffung eines verteidigungsfähigen Staates beenden oder zumindest
eindämmen will. Die Einfühlung ins Leid und die Denunziation jedes
Versuches, das Unmenschliche aus der Welt zu schaffen [34],
charakterisiert Judith Butlers Denken und bricht sich in den
altbekannten Ressentiments Bahn. So kritisiert sie etwa Emmanuel
Lévinas’ Versuch, über die Bedeutung des Holocaust für seine
Verantwortungsethik nachzudenken, als eine alternative Version des
Auserwähltheits-Anspruchs des Judentums. [35] Lévinas’
Überlegungen seien eine „skandalöse Darstellung des jüdischen
Volkes“, eine zionistische Legitimationsstrategie, die „zu einem
schrankenlosen Rückgriff auf Aggression im Namen der
‚Selbstverteidigung’“ ermächtige. [36] Während sie den
Zionismus im Allgemeinen als „mörderische Aggression“ begreift,
gesteht sie Lévinas gönnerhaft zu, dass sein Denken „hier
wirklich durch Verletzungen und Beleidigungen geprägt “ [37] ist,
die er erlitten habe. Dazu muss man wissen, dass Lévinas’ Eltern
und Brüder in Litauen der nationalsozialistischen Vernichtung zum
Opfer gefallen sind, welche für Butler gemäß ihrer Theorie
diskursiver Einschreibung [38] kaum mehr als die Verwundung durch
performative Sprechakte und diskriminierende Adressierungen ist:
Offener als an dieser Stelle kann die poststrukturalistische
Trivialisierung und Wegarbeitung von Auschwitz kaum ausfallen.
Dass
Butler nur pars pro toto für das antirassistische Weltbild
ist, wird deutlich, wenn man einen weiteren Blick in das bereits
zitierte Buch Die ‚westliche Kultur’ und ihr Anderes
wirft. Darin schreibt Iman Attia, dass es „eine deutsche Mitschuld
an der Lage von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten“ gibt, und zwar
„durch die nationalsozialistische Ermordung und Exilierung von
Juden und Jüdinnen, die den politischen Zionismus und damit die
Landnahme und Vertreibung von PalästinenserInnen forcierten.“ [39]
Der „deutsche Beitrag zur Kolonialisierung des ‚Orients’
bereits vor dem Nationalsozialismus“ so führt sie weiter aus, sei
beschränkt gewesen, da das Deutsche mit dem Osmanischen Reich
verbündet war und dessen Interessen nicht in die Quere kommen
wollte. „Im Zuge des Nationalsozialismus freilich zeigte das
Deutsche Reich kein Interesse an der Unterstützung von Jüdinnen und
Juden. [sic!] In diesem Kontext ist der deutsche Beitrag zur
Kolonisierung Palästinas im Zusammenhang mit der eliminatorischen
Politik (Holocaust) und dem zunehmenden Antisemitismus zu sehen, in
dessen Folge die Gründung eines eigenen Staates als Ausweg
eingeleitet wurde.“ [40]
Während Attia die Vernichtung des
europäischen Judentums also rationalisiert, indem sie die
Palästinenser zu deren eigentlichen Opfern erklärt, so tut Butler
dies, indem die Shoa bei ihr, wenn überhaupt, dann nur als
Verwundung vorkommt, aufgrund derer Levinas zum Zionisten wurde und
so die „mörderische Aggression“ Israels gerechtfertigt habe. In
ihrer in dem Text Sprache, Politik, Zugehörigkeit
geführten Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Elementen
und Ursprüngen totaler Herrschaft etwa ist mit keinem Wort von
Antisemitismus und Vernichtung die Rede. Der Nationalsozialismus
firmiert hier als jene „Zeiten“, in „denen Menschen deportiert
wurden, ihre Rechte verloren, aus ihren Häusern vertrieben oder als
Menschen zweiter Klasse geführt wurden.“ [41] Anders darf er auch
nicht vorkommen, geht es Butler doch darum, Israel und die USA als
die Erben dieser Politik darzustellen; als Erben, die diese Politik
sogar noch übertreffen, da die „außergesetzliche Ausübung von
Souveränität“ [42] zwar „nicht neu“ sei, der „Mechanismus“
aber, mit dem die USA und Israel sich dieses Instruments bedienten,
um ihre Ziele zu erreichen, eine „Einmaligkeit“ darstelle. [43]
Die Anschläge von 9/11 betrachtet Butler dagegen als tätige
„Dezentrierung“, mittels derer Al-Qaida den USA die konstitutive
Verwundbarkeit des Lebens vor Augen geführt habe. Der Jihadismus ist
ihr also quasi eine Schickung des Seins, die die hybrishafte
Seinsvergessenheit souveräner Subjekte anklagt, um so zum „Verlust
der Überheblichkeit der Ersten Welt“ [44] beizutragen. Die USA
aber hätten diese „Erfahrung der Demütigung“ [45] nicht genutzt
und stattdessen zum Zwecke der Wiederherstellung ihres Subjektstatus’
den War on Terror als einen „Kreislauf der Gewalt im Namen
der Gerechtigkeit“ [46] gestartet. Indem die Vereinigten Staaten
sich so gegen das Sein abdichteten, indem sie Ordnung stifteten kraft
der Verteufelung und Vernichtung der im Islam dingfest gemachten
Differenz, machten sie „die Gewalt im Namen ihrer Verleugnung zum
Dauerzustand“ [47], eine Gewalt, die sich nicht nur im offenen
Krieg äußere, sondern auch in der universalistischen Kultur, welche
die USA der Menschheit aufzwängen. In diesem Zusammenhang spricht
Butler der Burka „wichtige kulturelle Bedeutungen“ als
Notwehrmaßnahme gegen die rassistische Oktroyierung westlicher Werte
zu: Diese stehe „für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und
Religion, zu einer Familie“, sie sei „eine Übung in
Bescheidenheit und Stolz“ und diene „als Schleier […], hinter
dem und durch den die weibliche Handlungsfähigkeit wirken kann.“
[48] Demgemäß fasst sie Kritik an der Burka als
„kulturimperialistische Ausbeutung des Feminismus“ [49], als Teil
eines Programms der „Dezimierung islamischer Kultur“, das zur
„Ausbreitung von US-amerikanischen kulturellen Annahmen führt, wie
Sexualität und Handlungsfähigkeit zu organisieren und darzustellen
seien.“ [50]
Diese Gewalt wird für Butler wohl nur noch von
der Israels übertroffen: Der jüdische Staat ist für sie der
Inbegriff des National-Staates im Gegensatz zum post-souveränen
Staat, dem Staat der Selbstbestimmung, den Butler sowohl durch den
Internationalen Strafgerichtshof [51] als auch in Palästina
heraufdräuen sieht, dem Staat der Selbstbestimmung, der das
Territorium denationalisiert und so die Souveränität deformiert.
[52] Israel dagegen als Nationalstaat par excellence gewinne seine
Souveränität durch Vertreibung, Entrechtung und der Einrichtung von
Gaza als „Open-Air-Gefängnis“ [53]; allesamt „Permutationen
der Staatsmacht“ [54], mit denen es nationale Ordnung in die von
Differenz geprägten Menschen einschreibt. Mittels dieser
Einschreibung – in Bezug auf Israel kennt Butler plötzlich
Einschreibungen, die nicht rein diskursiv sind, die mehr sind als die
„Verletzungen und Beleidigungen“, die Lévinas durch den
Nationalsozialismus erlitten habe – realisiert Israel seine
Souveränität als „spezifische Anordnung von Macht und
Zwangsmitteln, die eigens dazu bestimmt ist, die Lage und den Zustand
des Enteigneten zu schaffen und zu erhalten“ [55] und ist so für
Butlers Weltanschauung der Inbegriff eines rassistischen
Apartheidsystems schlechthin. Dementsprechend bezeichnet sie Gaza
auch als Ghetto und solidarisiert sich mit der Hisbollah [56], die
sie als Widerstandsgruppe für die „Selbstbestimmung des
libanesischen Volkes“ apostrophiert [57] und mit der Hamas, die sie
gemeinsam mit der Hisbollah, den „progressiven sozialen Bewegungen“
und der „globalen Linken“ zurechnet, in der Butler auch sich
selbst verortet [58] – auch wenn sie diese Solidarität als
kritische verstanden wissen will, weil sie, wie schon Habermas und
Derrida, die Gewaltfrage im Kampf gegen „Kolonialismus und
Imperialismus“ etwas anders beantwortet sehen möchte. [59] Womit
sich der Kreis geschlossen hat und wir wieder bei dem eingangs
zitierten Transparentslogan angelangt wären: Der Kampf gegen
vernünftige Universalität und damit der Kampf gegen
allgemeinmenschliche Emanzipation, als welcher sich der Antirassismus
heute darstellt, fällt notwendig mit dem Kampf gegen Israel zusammen
– was man sowohl an dessen Theorie aufzeigen kann, als auch an der
Praxis, etwa der Demonstrationen rund um die Verteidigung
israelischer Souveränität gegen die Blockadebrecher von der Mavi
Marmara.
Anmerkungen:
[1]
Bilder dieses Aufmarschs sind zu finden
unter:
http://www.flickr.com/photos/49643818@N03/sets/72157624078673959/.
[2]
Gudrun Harrer, Die Angst vor dem „Muselblut“, in: Der
Standard, Album vom 28.08.2010, S. A11.
[3] Ebd.
[4]
Als partes pro toto seien hier zwei jener Bücher genannt, welche
Gudrun Harrer in dem erwähnten Standard-Artikel der
geneigten Leserschaft als Werke von „Spezialisten“ empfiehlt:
Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und
Projektionen in Europa und Nahost, hrsg. v. J. Bunzl u. A.
Senfft, Hamburg 2008 und Islamophobie in Österreich, hrsg.
v. J. Bunzl u. F. Hafez, Innsbruck – Wien - Bozen 2009.
Die
in diesen beiden Bänden versammelten Aufsätze bieten mehr als genug
Anschauungsmaterial für den hier konstatierten Zusammenhang. Der
Aufsatz Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Überlegungen
zum neuen Europa von Matti Bunzl dürfte den Herausgebern gleich
dermaßen gefallen haben, dass sie in wortidentisch in beiden
Sammelbänden veröffentlichten. In diesem erklärt Bunzl die
Beschäftigung mit dem Antisemitismus für unerheblich, da er „sich
ausgelebt“ habe, in die „Bedeutungslosigkeit“ versunken,
„irrelevant“ und „obsolet“ geworden sei (S. 61 bzw. 39f.) und
damit lediglich eine Kategorie der Vergangenheit darstelle: „Europa
muss sich dem Problem des Antisemitismus stellen, und zwar unter
Anerkennung seiner besonderen Geschichte. Dringlicher ist jedoch die
Frage der Islamophobie, sowohl hinsichtlich der Zukunft Europas wie
auch der geopolitischen Gesamtlage“, da sonst „eine weitere
Zunahme des Antisemitismus […] unser geringstes Problem“ wäre.
(S. 73f. bzw. 48)
[5] Harrer, Die Angst vor dem
„Muselblut“, a. a. O., S. A11.
[6] John Bunzl,
Einleitung, in: Zwischen Antisemitismus und
Islamophobie, a. a. O., S. 15.
[7] Kay Sokolowsky,
Feindbild Moslem, Berlin 2009.
[8] So stellte etwa
Wolfgang Benz am 26. 05. 2010 in der Sendung kulturzeit auf
3sat in Bezug auf die vom dänischen Künstlerduo „Surrend“
vorgenommene Bezeichnung des Deutschland-Korrespondenten der
Jerusalem Post als Stürmer-Journalisten und als
Teil der „jüdischen[n] Lobby in Deutschland“ fest, mit
Antisemitismus habe dies nichts zu tun.
[9] Vgl. dazu: Peter
Schmitt-Egner, Rassismus und Wertgesetz. Zur begrifflichen Genese
kolonialer und faschistischer Bewusstseinsformen, in:
Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, hrsg. v.
H.-G. Backhaus, Nr. 8/9, Frankfurt/M. 1976.
[10] Vgl. dazu und
zu den Widersprüchen, die dem Rassismus daraus erwachsen: Clemens
Nachtmann, Rasse und Individuum. Plädoyer für eine vollendet
künstliche Amoral, in: Bahamas, Nr. 58/2009, S.
53ff.
[11] Vgl. dazu etwa: Christian Fahrenbach:
„Ossi“-Vermerk beschäftigt Arbeitsgericht, unter:
http://www.morgenweb.de/service/archiv/artikel/687146685.html: „Das
Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), vereinfacht
Antidiskriminierungsgesetz genannt, verbiete eine Absage mit dem
Argument ‚Ossi’. Das Gesetz wolle schließlich Benachteiligungen
aufgrund der ‚Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft’
ausschließen. ‚Die beiden Teile Deutschlands haben sich während
der Trennung auseinandergelebt’, erklärt Nau [der Rechtsanwalt der
ostdeutschen Klägerin; AG]. ‚Die Ostdeutschen hatten teilweise
Wortbildungen und Sitten, die wir nicht kannten’, führt er aus.
Die Richter müssen also entscheiden, ob der ‚Ossi’ eine eigene
Ethnie ist. ‚Der Begriff >ethnische Herkunft< ist weder in
der ursprünglichen europäischen Richtlinie noch im daraus
abgeleiteten deutschen Gesetz genau definiert’, erklärt Heiko
Habbe, Rechtsanwalt und Fachmann für
Antidiskriminierungsrecht.“
[12] Iman Attia, Die
„westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von
Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009, S.
18f.
[13] Sawitri Saharso, Gibt es einen multikulturellen
Feminismus? Ansätze zwischen Universalismus und Anti-Essenzialismus,
in: Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus,
hrsg. v. B. Sauer u. S. Strasser, Wien 2008, S. 19.
[14] So
macht etwa der sozialdemokratische österreichische Bundeskanzler
Werner Faymann vaterlandslose Spekulanten für die ausbleibende
Bildungsreform in Österreich und andere Angriffe auf die
Gerechtigkeit verantwortlich: „Wir sind für eine gemeinsame
Schule, für ganztägige Schulformen. Da betrachte ich solche
Initiativen und schon gar nicht Sie persönlich als Gegner, sondern
als Unterstützung. Es ist legitim, zu sagen, ich hätte gerne von
allem das Doppelte und das gleich. Aber das funktioniert nicht. Nicht
durch die Schuld eines Landes allein, sondern durch eine
internationale Entwicklung haben Spekulationen der Realwirtschaft so
viel Geld weggenommen, dass die Staaten jetzt einfach zu wenig haben.
[...] Auf der anderen Seite liefert die Spekulation der Finanzmärkte
nichts an die öffentliche Hand ab. Für öffentliche Aufgaben, für
das, was wir eine soziale und gerechte Welt nennen, ist dann weniger
da.“ (Der Standard, 28./29.08.2010, S. 8)
[15] Uli
Krug, Pazifistische Bruderschaft. Antirassisten und
Nationalrevolutionäre gemeinsam gegen Zionismus und Globalisierung,
in: Bahamas, Nr. 37/2002, S. 16.
[16] Clemens
Nachtmann, Drittes Reich, Dritte Welt, Dritter Weg. Über
Rassismus und Antirassismus, in: Bahamas, Nr. 43,
2003/04, S.58.
[17] Siehe unter:
http://www.flickr.com/photos/49643818@N03/4669495160/in/set-72157624078673959/.
[18]
Vgl. dazu den Report Mainz der ARD vom 07.06.2010.
(http://www.youtube.com/watch?v=zm8-32abifM&feature=player_embedded)
[19] Vgl. http://bak-shalom.de/index.php/2010/06/06/stellungnahme-des-bak-shalom-zu-den-reaktionen-auf-den-stopp-der-free-gaza-flottille/.
[20]
Vgl.
http://www.jpost.com/servlet/Satellite?cid=1239710727591&pagename=JPost%2FJPArticle%2FShowFull.
[21]
Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zur faschistischen
Agitation, in: Ders., Falsche Propheten. Studien zum
Autoritarismus, Frankfurt/M. 1990, S. 42.
[22] Jürgen
Habermas, Fundamentalismus und Terror, in: Ders., Der
gespaltene Westen, Frankfurt/M. 2004, S. 19.
[23] Jürgen
Habermas/Jacques Derrida, Der 15. Februar – oder: Was die
Europäer verbindet, in: Habermas, Der gespaltene Westen,
a. a. O., S. 51.
[24] Judith Butler, Unbegrenzte Haft,
in: Dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays,
Frankfurt/M. 2005, S. 109.
[25] Ebd., S. 108.
[26]
Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen
2002, Frankfurt/M. 2007, S. 102.
[27] Ebd., S. 136.
[28]
Judith Butler, Gefährdetes Leben, in: Dies., Gefährdetes
Leben, a. a. O., S. 170.
[29] Ebd., S. 177.
[30]
Ebd., S. 170.
[31] Ebd., S. 165.
[32] Butler, Kritik
der ethischen Gewalt, a. a. O., S. 124.
[33] Ebd., S.
141.
[34] Ebd. S. 142f.
[35] Vgl. ebd., S. 125ff.
[36]
Ebd., S. 128f.
[37] Ebd. S. 128.
[38] Vgl. dazu: Judith
Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen,
Frankfurt/M. 2006.
[39] Attia, Die „westliche Kultur“
und ihr Anderes, a. a. O., S. 82.
[40] Ebd., S. 83.
[41]
Judith Butler/Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik,
Zugehörigkeit, Zürich - Berlin 2007, S. 33 f.
[42]
Judith Butler, Unbegrenzte Haft, in: Dies., Gefährdetes
Leben, a. a. O., S. 119.
[43] Ebd., S. 112.
[44]
Judith Butler, Gewalt, Trauer, Politik, in: Dies.,
Gefährdetes Leben, a. a. O., S. 57.
[45] Ebd., S.
43.
[46] Judith Butler, Erklärung und Entlastung oder:
Was wir hören können, in: Dies., Gefährdetes Leben,
a. a. O., S. 34.
[47] Ebd., S. 35.
[48] Butler,
Gefährdetes Leben, a. a. O., S. 168.
[49] Butler,
Gewalt, Trauer, Politik, a. a. O., S. 59.
[50]
Butler, Gefährdetes Leben, a. a. O., S.
168.
[51] „Ich glaube nicht, daß der Internationale
Strafgerichtshof Souveränität kriminalisiert hat, aber es ist schon
der Fall, daß er eine Reihe internationaler Schutzmechanismen
entwickeln will, die nicht auf Basis der National-Staaten formuliert
sind, wie es die Genfer Konvention tat. Das Versprechen ist also, daß
ein postnationales Verständnis dessen entwickelt werden soll, was
Menschenrechte sein könnten.“ (Butler/Spivak, Sprache,
Politik, Zugehörigkeit, a. a. O., S. 68)
[52] Vgl. ebd.,
S. 70.
[53] Ebd., S. 10.
[54] Ebd., S. 12.
[55]
Ebd., S. 9.
[56] Judith Butler u.a., Solidaritätserklärung
mit den Menschen in Libanon und Palästina, unter:
http://www.islinke.de/sol_libanon.htm.
[57]
Butler, Unbegrenzte Haft, a. a. O., S. 119.
[58] Vgl.
Judith Butler on Hamas, Hezbollah & the Israel Lobby,
unter:
http://radicalarchives.org/2010/03/28/jbutler-on-hamas-hezbollah-israel-lobby/.
[59]
Judith Butler, In diesem Kampf gibt es keinen Platz für
Rassismus, in: Jungle World Nr. 30/2010.
(http://jungle-world.com/artikel/2010/30/41420.html)