Martin Arndt sammelt im Auftrag der Stadt Erinnerungen an die Gewaltausbrüche des Sommers 1992
Seit 2015 bauen Sie im Rahmen eines von der Stadt finanzierten Projekts ein Archiv zu den Ausschreitungen vor dem »Sonnenblumenhaus« vor 25 Jahren auf. Was sind die Archivalien?
 
Den Ausgangspunkt bildeten kleine, private »Archive« von Bürgerinnen und
 Bürgern, die damals gesammelt haben, was ihnen in die Hände kam - das 
sind natürlich zunächst oft Mediendokumente, schwerpunktmäßig aus den 
lokalen Zeitungen. Die Flugblätter, die damals von den Rechten in Umlauf
 gebracht wurden und die von der Gegenseite. Wir haben alle Unterlagen 
aus dem damaligen Alternativen Jugendzentrum übernommen, darunter ist 
eine zeitgenössische Chronologie der der Ereignisse, die natürlich auch 
viele Details enthält, die man im Nachhinein ansonsten vergisst.
Das ist »deutsches« Material. Mai-Phuong Kollath vom Sprecherrat der Migrantenorganisationen im Land hat kürzlich gesagt, man müsse den Betroffenen mehr zuhören.
 
Es gehört zu den Zielen unseres Projekts, die Perspektiven der 
Betroffenen rekonstruieren zu helfen. Dazu gibt es bereits Ansätze. Vor 
fünf Jahren hat etwa die Heinrich-Böll-Stiftung eine Reihe von 
Zeitzeugeninterviews aufgezeichnet, mit damaligen Bewohnern des Heims 
für vietnamesische Vertragsarbeiter, zum Beispiel auch mit Wolfgang 
Richter, dem damaligen Ausländerbeauftragten der Stadt, der ja im 
»Sonnenblumenhaus« war, während es angegriffen wurde, und mit 
Gegenaktivisten. Während viele vietnamesische Zeitzeugen noch in der 
Stadt sind und mit dem nach den Ereignissen gegründeten Verein Diên Hông
 auch eine Adresse haben, ist es sehr schwierig, Stimmen der damaligen 
Roma-Flüchtlinge zu finden, gegen die sich die rassistische Mobilmachung
 zuerst gerichtet hatte. Viele von diesen kamen aus Rumänien und wurden 
nach dem entsprechenden Abkommen vom September 1992 zurückgebracht. Ihre
 individuellen Blickwinkel sind bisher tatsächlich ein blinder Fleck. 
Immerhin spielen Roma als Gruppe inzwischen eine größere Rolle in der 
Erinnerung. Am Dienstagabend wird mit Romani Rose vom Zentralrat der 
Sinti und Roma erstmals ein Vertreter der Roma an einer 
Gedenkveranstaltung teilnehmen.
Haben Sie Kontakt zu »Tätern«, zu Leuten, die damals dabeistanden und das nun vielleicht bereuen?
 
Tatsächlich haben sich zwei Personen bei uns gemeldet, die damals 
ungefähr eine solche Rolle gespielt haben. Bisher haben wir es noch 
nicht geschafft, uns mit diesen Zeitzeugen hinzusetzen und ausführliche 
Interviews zu führen, aber auch das gehört auch zu den Zielen unseres 
Projekts. Unsere Finanzierung läuft noch ein Jahr, so dass ich hoffe, 
dass das möglich sein wird.
Welche Rolle spielt »Lichtenhagen« inzwischen in der Stadt? Haben die Vorfälle einen festen Platz in ihrem öffentlichen Gedächtnis?
 
Es ist zumindest so, dass die Stadt diesmal recht viel Geld in die Hand 
genommen hat. Neben unserem Archivprojekt, dessen Einrichtung alle 
demokratischen Fraktionen in der Bürgerschaft zugestimmt haben, gibt es 
ja noch weitere Aktivitäten, etwa das Kunstprojekt, bei dem dezentral 
fünf Stelen in der Stadt aufgestellt werden, auch vor Institutionen, die
 eine negative Rolle spielten, die damals versagt haben - also die 
Politik, die Polizei, die Medien. In diesen Institutionen ist man 
inzwischen durchaus dazu bereit, sich auch kritisch mit dem eigenen 
Handeln in der damaligen Situation zu befassen. Die »Ostseezeitung«, die
 damals eine sehr negative Rolle spielte, veranstaltet am Mittwoch eine 
Podiumsdiskussion. Ich finde es in diesem Zusammenhang auch 
bemerkenswert, dass die Stadt inzwischen offiziell den Begriff »Pogrom« 
verwendet.
Was sagen diese Vorfälle vor einem Vierteljahrhundert heute jungen Rostockern?
 
Diejenigen, die ohnehin politisch interessiert sind, beschäftigen sich 
viel mit dem Thema. In der vergangenen Woche gab es zwei 
Podiumsdiskussionen im Peter-Weiss-Haus, die beide sehr gut besucht 
waren, oft von sehr jungen Leuten. Aber auch Veranstaltungen mit 
Rostocker Schulklassen zeigen, dass die Ereignisse nicht vergessen sind.
 Wenn es auch vielen heutigen Schülern, die um die Jahrtausendwende 
geboren sind, schwerfällt, die Ereignisse zum Beispiel zeitlich richtig 
einzuordnen. Solche Veranstaltungen zeigen aber auch: Bis heute halten 
sich in familiären Überlieferungen hartnäckige Legenden. Etwa diejenige,
 die Ausschreitungen seien vor allem von busseweise angekarrten Neonazis
 verübt worden und hätten mit der Stadt nicht viel zu tun gehabt. Oder 
die Geschichte von den Geflüchteten, die Möwen gegrillt hätten. Das 
zeigt, wie notwendig ein Projekt wie unser Archiv tatsächlich war und 
ist.
Was hat das Pogrom in der Stadtgesellschaft bewirkt? Wären solche Szenen wie damals heute in Rostock noch möglich?
 
Im vergangenen Juli und August hat es ja eine Situation gegeben, die ein
 wenig an 1992 erinnerte. Vor einer Unterkunft für minderjährige 
Geflüchtete im neben Lichtenhagen gelegenen Stadtteil Groß Klein 
versammelten sich abends regelmäßig Gruppen von etwa 20 bis 40 Personen,
 darunter auch bekannte Neonazis. Diesmal wurde die Situation genau 
beobachtet, nicht nur von linken Aktivisten, sondern auch von der 
Polizei. Auf Anweisung des Sozialsenators Steffen Bockhahn (LINKE) wurde
 die geplante Einrichtung einer weiteren Unterkunft in dem Stadtteil 
abgebrochen und die Flüchtlinge auf andere Einrichtungen verteilt. Die 
Rechten mögen das als Sieg gefeiert haben, aber das zeigte auch, dass 
die Politik heute aufmerksamer reagiert als vor 25 Jahren. Nicht nur in 
Rostock, sondern in den neuen Bundesländern überhaupt sind in den 
letzten beiden Jahrzehnten doch bedeutende zivilgesellschaftliche 
Strukturen entstanden, die ein »Lichtenhagen«, also eine tagelange 
Belagerung mit Volksfestcharakter, bei der man mit der Familie auf dem 
Weg zum Strand vorbeischaut, schwer vorstellbar erscheinen lassen.
