Leipzig: „Eins-zwei-neun“

Achtung

Fans, Fanprojekt und Rechtshilfe im Visier der Sächsischen Generalstaatsanwaltschaft - Willkommen in Sachsen. Dem Bundesland, in dem es mit der Wertschätzung von Grundrechten und demokratischen Standards nicht besonders weit her ist. Im November 2014 erhielten Fans und Verein der BSG Chemie Leipzig im Rahmen einer hochoffiziellen Preisverleihung zum Sächsischen Demokratiepreis einen Anerkennungspreis für die Arbeit mit von Flucht betroffenenen Kindern und Jugendlichen. Im selben Monat startete ein bei der Dresdner Staatsanwaltschaft angelegtes Ermittlungsverfahren wegen der Bildung einer Kriminellen Vereinigung.

Das Verfahren nach §129, das später von der Generalstaatsanwaltschaft des Landes übernommen wurde richtete sich gegen 14 „Beschuldigte“, denen verschiedene Delikte – Körperverletzung, Sachbeschädigung und Beleidigung – vorgeworfen wurden. Unter Ihnen waren auch einige, die regelmäßig den Norddamm im Leutzscher Alfred-Kunze-Sportpark bevölkern, Fans der BSG – aktiv in Verein und Fanszene. Betroffen waren auch Mitarbeiter des Fanprojektes und wir als Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig. Im November 2016 wurde das Verfahren ohne Ergebnis von der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft eingestellt, die Beschuldigten erhielten allesamt einen Brief, in dem sie von der Beendigung des Verfahrens informiert wurden.


Der Umfang und die Dimension der Ermittlungen wurde nun mit Einsicht in die Akten bekannt. Die Sächsischen Behörden haben das volle Repertoire an Überwachung eingesetzt um an Informationen zu kommen: langfristige Telefonüberwachungen, Funkzellenabfragen, Observationen von Personen und Objekten, Einsatz von Videoüberwachungstechnik und sogenannten IMSI-Catchern gehörten ebenso dazu, wie das Erstellen von Bewegungsprofilen und der Analyse des Telefon- und Internetverhaltens. Unmengen von Datensätzen wurden generiert, allein 56.000 Verkehrsdatensätze – also aufgezeichnete Sprach und Textnachrichten – sind in den drei Jahren entstanden.

 

Von den mehreren hundert „Drittbetroffenen“ der Ermittlungen wurden 177 darüber benachrichtigt, dass sie „mit-abgehört“ worden. Unter Ihnen sind Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten – allesamt Personen mit einem gesetzlich attestierten Schutz als „Berufsgeheimnisträger“, aber auch Lokal- und Landespolitiker, SozialarbeiterInnen, Fußball- und Vereinsfunktionäre, Familienangehörige und ArbeitskollegInnen. Ein weitaus größerer Teil an Betroffenen wurde nicht informiert.


Die Überwachung und Kriminalisierung von sozialpädagogischen Mitarbeitern des Leipziger Fanprojektes ist eine von vielen ermittlungstaktischen Absurditäten des §129-Verfahrens. Hier lässt es sich „eindrucksvoll“ illustrieren, wie wahllos die Behörden im Rahmen ihrer Überwachungsmaßnahmen agierten und welche haarsträubenden Schlüsse sie aus ihren Observationen zogen. Bildungsfahrten, Räumlichkeiten des Fanprojekts und sozialpädagogische Angebote für und mit Fans waren Teil von Ermittlungsmaßnahmen. Die Kommunikation mehrerer Mitarbeiter des Fanprojektes wurde über einen längeren Zeitraum mitgeschnitten und ausgewertet. Die Grundvoraussetzung für sozialpädagogische Arbeit – ein Höchstmaß an Vertrauen und Klientenschutz – wurde damit quasi ohne Rücksicht auf Verluste ausgehebelt.


Auch wir, das Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig – ein eingetragener Verein, der sich satzungsgemäß u.a. der Präventionsarbeit und der Vermittlung von Rechtsbeiständen verpflichtet fühlt – war seit seiner Gründung Teil der Ermittlungen und Überwachung. Gespräche mit AnwältenInnen, Kanzleibüros, dem deutschen Konsulat in Prag oder anderen Institutionen wurden dokumentiert und akribisch ausgewertet . Die Organisation von öffentlichen Informationsveranstaltungen und die juristische Unterstützung von Fußballfans durch Institutionen wie uns, wurde im Rahmen der Ermittlungen zur Unterstützungshandlung der Kriminellen Vereinigung „uminterpretiert“. Rechtsstaatliche Basisbanalitäten wie die Vermittlung von RechtsanwältInnen oder die Aufklärung über Prozesskostenhilfe somit plötzlich zum Gegenstand „staatsgefährdenden“ Verhaltens.


Die Anhaltspunkte, warum es sich bei den Betroffenen um eine „Kriminelle Vereinigung“ handeln kann sind dabei so dünn wie skurril: eine „gemeinsame Identität“ reicht ebenso aus wie „gemeinsame Treffen“ in Fanprojekt-Räumen oder soziokulturellen Zentren, das „Versenden von SMS“ oder dass „man aus seinem Selbstverständnis heraus Nazis ablehnt“. An Absurdität ist die Ableitungs- und Kombinationslogik der Ermittler kaum zu überbieten. Dass der der Ermittlung zugrunde liegende § 129 insbesondere wegen seiner »Gesinnungsschnüffelei« politisch äußerst umstritten ist, erklärt ein wenig den Kontext des Ganzen: So stellt er die Bildung oder Mitgliedschaft in einer »kriminellen Vereinigung«, bzw. das Werben für eine solche unter Sanktionen, die zwischen einer Geldstrafe und einem Knastaufenthalt von bis zu fünf Jahren variieren.

 

Welche Anforderungen eine Vereinigung allerdings erfüllen muss, um auch das Prädikat „kriminell“ verliehen zu bekommen, ist weitgehend unklar. Im aktuellen Verfahren reichte es augenscheinlich, dass bestimmte Personen häufig miteinander kommunizierten, sich trafen oder gemeinsame Hobbys hatten. Einig ist sich die Justiz insoweit, dass erst ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mindestens drei Menschen mit dem Zweck der Begehung von Straftaten die Einschlägigkeit des § 129 begründet.

 

In der konkreten Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ist der Paragraph in der juristische Literatur und Rechtsprechung indes höchst umstritten. Ob nach § 129 bzw. seine historischen Äquivalente nun dem „Untergrundverein“, „der staatsfeindlichen, staatshemmenden Verbindung“ oder der „kriminellen Vereinigung“ nachgejagt wurde oder nicht, grundlegend ist zumindest der Gedanke des Kollektivstrafrechts. Danach interessiert es nicht, ob den angeklagten Menschen ein konkreter Bezug zu den ihnen vorgeworfenen Taten nachgewiesen werden kann. Solange die verfolgten Delikte der Vereinigung zuzurechnen sind, der die Beschuldigten angehört haben sollen, ist eine Strafbarkeit hinreichend fundiert.


Das Ermittlungsverfahren wurde Ende November 2016 „mangels hinreichenden Verdachts“ eingestellt, wohlgemerkt nach drei Jahren nahezu kompletter Aushebelung verschiedener Grundrechte!

 

Ihr Ziel – die Errichtung eines Kontrollschirms über große subkulturelle Personenkreise, angefangen bei Stadtteil-BewohnerInnen über Kulturschaffende und Spätverkaufseckensteher bis hin in die Fanszene der BSG, haben die Ermittler dabei erreicht.

 

Gruppenstrukturen, Freundeskreise und Persönlichkeitsprofile sind vermutlich ebenso ausgespäht und dokumentiert wurden, wie die »Ernährungs«- oder Fernsehgewohnheiten oder die privaten Affären- und Liebeleien.

 

So unangenehm das alles ist, etwas Gutes hat die Sache: Es sollte wachsam machen und das Bewusstsein schärfen, dass staatliche Kriminalisierung schneller passieren kann als man denkt. Wer glaubt, die Sache beträfe ihn nicht, der irrt. Dass subkulturelle ProtagonistInnen – egal ob Fußballfans, Graffiti-Leute oder BesucherInnen von Punkkonzerten – samt ihrem Umfeld „qua ihrer Interaktion“ zum Hort von gesellschaftskritischer Schwerstkriminalität gemacht werden, ist sicherlich nicht ganz neu. Trotzdem verdeutlicht es immer wieder die »Irrationalität, Verselbständigung und Verwilderung des Rechtssystems« – in Sachsen nochmal in seiner absurdesten, völlig außer Kontrolle geratenen Form.


Als Forderung kann daher nur der solidarische Umgang mit allen Betroffenen und die Abschaffung des sich immer wieder selbst bloßstellenden § 129 stehen!


Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig e.V., 24. April 2017