Stadt Kiel: Hilfe nur noch für „eigene“ Obdachlose

Erstveröffentlicht: 
09.04.2017

Ortsfremde Wohnungslose sollen die Stadt verlassen. Experten kritisieren „Rechtsbruch“.

 

Obdachlosen in Kiel droht bald ein strengerer Wind. Die Landeshauptstadt plant eine „Nachjustierung und Schärfung“ bei den Hilfen für Menschen ohne Wohnung. Ein Punkt sorgt dabei für großen Wirbel: Nur Kieler sollen volle Unterstützung erhalten, Obdachlose aus anderen Regionen bekommen ein Bett für eine Nacht – und eine Fahrkarte zurück zu ihrem letzten Aufenthaltsort. Nach Auskunft der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe wäre das ein bundesweit einzigartiges Vorgehen – und „komplett rechtswidrig“.

 

„Es zieht überraschend viele Obdachlose zu uns, sogar aus Süddeutschland“, sagt Kiels Sozialdezernent Gerwin Stöcken. „Die Gründe dafür kennen wir nicht, möglicherweise haben wir in der Vergangenheit Fehlanreize gesetzt.“ Mit anderen Worten: Die Hilfe für Obdachlose war an der Förde offenbar so gut, dass sich das weit über die Stadtgrenzen hinaus herumgesprochen hat. Derzeit sind 28 Prozent der Wohnungslosen keine Kieler.

 

Mit dem neuen Konzept will die Stadt dem Anschein entgegentreten, in Kiel sei ausreichend Wohnraum vorhanden. „Die Hilfe für Wohnungslose darf nicht in die großen Städte delegiert werden“, sagt Stöcken. „Insofern sind unsere Pläne ein deutlicher Fingerzeig an andere Kommunen, sich entsprechend zu kümmern.“

 

Den Vorwurf, Obdachlose vertreiben zu wollen, weist Sozialdezernent Stöcken zurück: „Finanzielle Aspekte spielen keine Rolle. Wir wollen uns sehr intensiv um die Kieler kümmern, die ihre Wohnung verloren haben. Wer aber anderswo wohnungslos geworden ist, für den ist die Heimatkommune zuständig.“ Zudem müsse man sich fragen, warum Menschen ihre sozialen Bindungen abbrächen oder therapeutische Einrichtungen verließen und nach Kiel gingen. „Oft flüchten sie vor dem, was ihnen widerfahren ist oder was sie angerichtet haben“, glaubt Stöcken. „Aber damit machen sie es sich zu einfach.“

 

Kritiker halten Kiels Obdachlosen-Pläne für „Hochgefährlich“


Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sorgen die Kieler Ideen für Fassungslosigkeit. Geschäftsführer Thomas Specht nennt sie „ein Modell der Hilfeverweigerung“, das „komplett rechtswidrig“ sei. Er sagt: „Wir wissen von keiner anderen Kommune in Deutschland, die auf ähnlich dreiste Art und Weise gegen Obdachlose vorgehen will.“

 

Auch Jo Tein vom „Hempels“-Vorstand ist erschüttert. Das Straßenmagazin hatte zuerst über die Pläne berichtet. „Das Konzept, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, indem ein ,Wir‘ und ein ,Die‘ konstruiert wird, ist ethisch und politisch hoch gefährlich“, warnt Tein. Wenn erst einmal eine Unterscheidung zwischen Einheimischen und Ortsfremden gemacht werde, könne das andere Kommunen motivieren, ihre Leistungen ebenfalls einzuschränken. „Und das ist ein Unding bei Menschen in existenzieller Not“, sagt Tein.

 

Ihm sei auch keine Statistik bekannt, die für Kiel eine besonders hohe Belastung durch zugereiste Wohnungslose belegt. „Städte haben grundsätzlich eine besonderte Anziehungskraft, auch für Wohnungslose“, sagt Tein. „Aber ist es nicht legitim, anderenorts neu zu beginnen, wenn man in Schwierigkeiten geraten ist oder mit der Vergangenheit abschließen will?“

 

Während das Positionspapier der Stadt die Hilfen für zugereiste Wohnungslose beschränkt, sieht es vor, die Kieler Obdachlosen noch besser zu betreuen. Aufgelegt werden soll ein Präventionsprogramm, das greift, wenn jemand seine Wohnung zu verlieren droht. Passiert es doch, soll mit Schulden- und Suchtberatung geholfen werden. Die Hoffnung ist, dass am Ende wieder eine eigene Wohnung steht. Dabei sollen die Wohnungslosen mehr gefordert werden. „Die Betroffenen konkurrieren heute mit solventen Mietern, wir wollen sie deshalb so stärken, dass sie aus eigener Kraft ihr Leben ändern“, erklärt Kiels Sozialdezernent Gerwin Stöcken. Kurzformel: „Bring dich in Form.“

 

Auch dieser Ansatz bleibt nicht ohne Kritik. „Das Fördern und Fordern als Konzept der Schröder-Ära funktioniert bei diesem Klientel meist nicht“, ist sich Jo Tein sicher. „Man muss akzeptieren, dass sie über längere Zeiträume nicht leistungsfähig und nicht leistungsbereit sind. Gerade junge Menschen dürften sich  den im vorliegenden Verwaltungskonzept geforderten strikten Mitwirkungspflichten entziehen.“

 

Aber was kann dann helfen? Tein: „Immer wieder die Hand reichen, bis in ihnen der Wunsch erwacht, etwas zu ändern. Mit Bestrafung ist das nicht zu schaffen.“

 

Die Stadt will ihre Pläne im Laufe des Jahres mit den Trägern der Obdachlosenhilfe diskutieren. Sozialdezernent Stöcken verspricht: „Wir werden nichts mit der Brechstange durchsetzen.“