Kassel Belastendes Gutachten wird Thema im NSU-Ausschuss

Erstveröffentlicht: 
06.04.2017

Zum elften Jahrestag des mutmaßlichen NSU-Mordes von Kassel gibt es neue Erkenntnisse, die Ex-Verfassungsschützer Temme der Lüge überführen sollen. Die Ergebnisse der englischen Forscher sollen auch im NSU-Prozess und vor dem NSU-Ausschuss eine wichtige Rolle spielen.

 

Hat der hessische Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme den Mord an Halit Yozgat mitbekommen oder nicht? Diese Frage beschäftigt auch am elften Jahrestag des mutmaßlichen NSU-Mordes in einem Kasseler Internetcafé noch immer die Ermittler und Angehörigen des Opfers. Die Antwort von englischen Wissenschaftlern, die am Donnerstag in Kassel ihre neuesten Erkenntnisse vorstellten, lautet: Ja, hat er.

 

Eine Untersuchung des Forschungslabors "Forensic Architecture" der Universität London soll beweisen, dass Temme sowohl den tödlichen Schuss gehört als auch die Leiche von Yozgat gesehen haben muss. Der Beamte, der damals am Tatort anwesend war, will nach eigener Aussage von der Tat nichts mitbekommen haben. Diese Version soll nun anhand der wissenschaftlichen Ergebnisse sowohl im NSU-Prozess in München als auch im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss widerlegt werden.

 

Die Nebenkläger wollen voraussichtlich am 10. Mai ihr neues Beweismaterial präsentieren, die Londoner Wissenschaftler werden als Sachverständige vor dem Oberlandesgericht München aussagen. Die Linke kündigte zudem an, Temme mit den Forschungsergebnissen vor dem NSU-Ausschuss konfrontieren zu wollen.

 

Alexander Bauer, Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss, sieht die Untersuchungen derweil deutlich kritischer. Da nicht beweisen sei, dass Temme tatsächlich am Tatort war, diese Tatsache aber quasi als gegeben vorausgesetzt werde, müsse man die Ergebnisse "kritisch hinterfragen", so Bauer gegenüber der hessenschau. "Wenn die Behauptungen des Gutachtens stimmen: Warum konnten andere Zeugen, die nachweislich am Tatort waren, keine Schussgeräusche zuordnen?" 

 

Internetcafé nachgebaut

 

Die Forscher hatten für ihre Aufarbeitung der Ereignisse das Internetcafé komplett nachgebaut und einen Mann mit der Größe Temmes mit einer speziellen Datenbrille durch den Raum geschickt. Sowohl eine nachgestellte Kamerafahrt in Augenhöhe Temmes sowie ein Digitalmodell hätten eindeutig gezeigt, dass der Verfassungsschutzmitarbeiter den kurz zuvor erschossenen Yozgat gesehen haben müsse.

 

Auch der Schuss, der an Temmes Sitzplatz im Café mit einer Lautstärke von mindestens 86 Dezibel ankam, sei nicht zu überhören gewesen. Dies hätten auch vier andere Zeugen aus dem Café bestätigt. 

 

Aussage bisher als glaubwürdig eingestuft


Der NSU-Mordserie fielen zwischen 2000 und 2006 mutmaßlich zehn Menschen zum Opfer. Die Aufarbeitung der Taten beschäftigt Justiz und Staatsorgane bis heute. Nebenklägern des Münchener Prozesses erscheint insbesondere die Rolle Temmes ungeklärt. Dieser gab an, weder einen Schuss gehört, noch das Mordopfer beim Verlassen des Cafés gesehen zu haben. Das Münchner Gericht stufte seine Aussagen bisher als glaubwürdig ein.

 

"Wichtig ist für uns, dass untermauert wurde, dass die bisherigen Aussagen von Temme sehr unplausibel scheinen und diese Widersprüche wissenschaftlich fundamentiert wurden", sagte Fritz Weber von der "Initiative 6. April".

 

Zum Todestag Yozgats gab es am Donnerstag auch eine Demonstration in Kassel: 350 Teilnehmer, darunter auch Familien der Ermordeten, zogen durch die Stadt und erinnerten an die Opfer des rechtsextremen NSU.