Parolen, Graffiti, Anschläge

Erstveröffentlicht: 
10.01.2017

Die Anzahl der Fälle von politisch motivierter Kriminalität im Stadtteil Sonnenberg ist laut Landeskriminalamt im vergangenen Jahr sprunghaft angestiegen. Dabei sind die aufsehenerregendsten Fälle in der Statistik noch nicht einmal enthalten.

Von Swen Uhlig und Michael Müller

 

Susanne Schaper ist das wahrscheinlich prominenteste Opfer von rechten Straftätern im Stadtteil Sonnenberg. Nachdem das an der Zietenstraße gelegene Büro der Landtagsabgeordneten der Linken in eineinhalb Jahren mehrfach attackiert worden war, kündigte ihr Vermieter den Mietvertrag. Sie musste das Büro aufgeben, verlagerte ihre Aktivitäten ins Stadtzentrum. Unbekannte hatten in der Zeit zuvor Tierkadaver und Hundekot an der Tür hinterlassen, Glasscheiben zerstört, Farbbeutel gegen die Hauswand geworfen und Graffiti-Schriftzüge wie "Nazi-Kiez" gesprüht. Allein 18 derartige Anschläge habe sie in 17 Monaten gezählt, berichtet sie. "Die Gruppe der rechten Aktivisten in unserem Viertel ist nicht unbedingt groß, aber sehr aktiv", sagt Schaper. "Und sie will Andersdenkende mit Gewalt einschüchtern."

 

Eine aktuelle Auflistung des Landeskriminalamtes bestätigt nunmehr die Befürchtungen, die sich aus den Schilderungen Schapers ergeben. Abgefragt hat die Liste beim Sächsischen Innenministerium der Landtagsabgeordnete Volkmar Zschocke (Grüne), der selbst in Chemnitz lebt. Nach dieser Auflistung ist die Anzahl der Fälle von sogenannter politisch motivierter Kriminalität im Stadtteil Sonnenberg im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. Gegenüber acht dokumentierten Fällen im Jahr 2014 und insgesamt zehn Fällen ein Jahr später hat sich die Anzahl im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2015 fast versechsfacht: Insgesamt 57 Straftaten listet das Landeskriminalamt (LKA) auf, die es rechten Tätern zuordnet.

 

Unter den Fällen sind vor allem Schmierereien an Hauswänden - mehr als drei Viertel aller politisch motivierten Straftaten von rechts auf dem Sonnenberg entfallen laut LKA auf dieses Delikt. Dokumentiert sind aber auch Hasskommentare im Internet und in der Öffentlichkeit artikulierte rechte Parolen. Nur in wenigen Fällen sind die Verantwortlichen dafür bisher ermittelt und verurteilt worden. In einem Fall wurde ein Mann zu einer Geldstrafe in Höhe von 1200 Euro verurteilt, weil er im Februar 2016 auf der Straße rechte Parolen gegrölt hatte.

 

In anderen Fällen sind die Ermittlungsverfahren eingestellt worden - entweder aus Mangel an Zeugen oder Beweisen oder weil die Beschuldigten sich wegen anderer, zumeist schwerwiegenderer Straftaten ohnehin vor Gericht verantworten müssen. Der weitaus größte Teil der Fälle aus dem vergangenen Jahr ist hingegen nach wie vor ungeklärt: "Polizeiliche Ermittlungen dauern an", heißt es hier von Seiten des Landeskriminalamtes.

 

Neben der politisch motivierten Kriminalität von rechts gibt es auch eine von links. Auch die wird vom LKA aufgelistet. Allerdings fällt die Anzahl der dokumentierten Fälle deutlich kleiner aus: Den 57 Straftaten von rechts stehen 2016 exakt fünf gegenüber, die das LKA linken Tätern zuordnet. Grünen-Politiker Volkmar Zschocke, der die Auflistung abgefragt hatte, wundert sich daher auch. "Ich wollte eigentlich wissen, ob sich eine Gewaltspirale, also ein Hochschaukeln von linken und rechten Straftaten auf dem Sonnenberg tatsächlich in den ermittelten Straftaten widerspiegelt", sagte er der "Freien Presse". Die Antworten zeigten aber nun ein völlig anderes Bild.

 

Unter den Straftaten, die das LKA linken Tätern zuordnet, sind zwei Schmierereien an Hauswänden, zwei Hasskommentare im Netz, aber auch ein Brandanschlag auf ein Auto. Anfang November war nachts ein an der Humboldtstraße geparkter Pkw in Flammen aufgegangen. In der Woche zuvor war auf einer linken Internetseite ein ausführliches Dossier über mutmaßliche Protagonisten der rechtsextremen Szene auf dem Sonnenberg veröffentlicht worden. Der Tatort des Autobrandes befand sich in unmittelbarer Nähe einer der dort genannten Adressen; auch das Kennzeichen des Autos sollte zu einzelnen Ausführungen in dem Dossier passen.

 

Dieser Brandanschlag wiederum soll Grund gewesen sein für einen Anschlag auf das Kulturzentrum Lokomov ein paar Tage später - ein Racheakt, wie vermutet wird. Der Fall vom 8. November 2016 taucht in der Auflistung des LKA von Fällen der politisch motivierten Kriminalität von rechts allerdings nicht auf -ebenso wie der Farbbeutelanschlag auf das Lokomov vom März 2016. Der Grund ist simpel: Obwohl sich die Einrichtung an der Augustusburger Straße in unmittelbarer Nähe zum Sonnenberg befindet, gehört sie gleichwohl zum Stadtteil Gablenz.

 

Unbekannte Täter hatten in der Nacht des 8. November mittels Pyrotechnik eine große Schaufensterscheibe der Bar an der Ecke Clausstraße zu Bruch gebracht. Der Fensterrahmen wurde teilweise aus der Verankerung gedrückt. Schnell machte der Verdacht eines gezielten Angriffs die Runde. Das Lokomov hatte sich an einem Projekt zu den Morden des NSU-Trios beteiligt.

 

"Ein politisch motivierter, insbesondere rechtsmotivierter Hintergrund der Tat kann derzeit weder bestätigt noch ausgeschlossen werden", sagte eine Sprecherin damals. Und an dieser Bewertung habe sich seither nichts geändert, sagt sie heute. "Die Ermittlungen werden nach wie vor intensiv geführt." Aus dem Umfeld des Trägervereins des Lokomov ist zu erfahren, dass seit dem Vorfall eine Reihe von Zeugen befragt wurden. Der Verdacht habe sich dabei eher erhärtet, heißt es.

 

Der grüne Landtagsabgeordnete Valentin Lippmann kritisiert, den Ermittlungen sei nicht von Beginn an die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt worden. "Wie schon im Fall des Anschlags auf die Moschee in Dresden Ende September ist auch der Tatort am Lokomov nicht unmittelbar nach der Tat gründlich auf Spuren untersucht worden", sagte er nach einer entsprechenden Anfrage bei Innenminister Markus Ulbig (CDU). Zwischen der Tatortuntersuchung und der Tatortarbeit einschließlich Spurensuche und -sicherung hätten in beiden Fällen mehrere Stunden gelegen - und eine Reinigung durch den Eigentümer. "Offensichtlich wird solchen Straftaten nicht von Anfang an die notwendige Priorität bei der Tatortsicherung eingeräumt", so Lippmann.

 

Aber konnten die Polizeibeamten, als sie erstmals am Tatort erschienen, die mögliche Tragweite des Vorfalls überhaupt erkennen? Ja, meint Lippmann. Denn das Lokomov war nicht zum ersten Mal Ziel eines Angriffs. Seit Sommer 2014 habe es dort wiederholt Vorfälle gegeben - Volksverhetzung, Beleidigung, Sachbeschädigung und dergleichen. Mehrere Beschuldigte wurden später verurteilt.