„Das ist eine völlig neue Qualität des Skandals“

Erstveröffentlicht: 
30.09.2016
Offenbar ließ ein Referatsleiter des BfV gezielt Akten vernichten, um unangenehme Fragen zum NSU zu vermeiden.
  • Die Untersuchungsakten belegten die vorsätzliche Vernichtung der V-Mann-Akten, sagte die Obfrau der Grünen im Ausschuss.
  • Laut eines Mitarbeiters war den Beteiligten klar: Das Schreddern der Akte sei ein spezieller Vorgang gewesen.

 

Am Morgen des 9. November 2011 herrschte in der Abteilung zwei des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) „ein absolutes Durcheinander“. Die Mitarbeiter dort sollen unter anderem rechtsradikale Terrorbestrebungen aufklären und abwehren. Der „Welt“ liegen die Aussagen von drei Zeugen vor, die an diesem Tag im Einsatz waren und die die Situation gegenüber dem Bundeskriminalamt (BKA) beschrieben haben. Führende Angestellte der Abteilung seien „kopflos und konfus“ gewesen.

 

Für die Hektik im BfV war Beate Zschäpe verantwortlich. Sie hatte sich am Tag zuvor auf einer Polizeistation in Jena gestellt. Gemeinsam mit ihren Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos war sie 1998 aus ihrer Heimatstadt Jena geflohen. Das Trio wurde damals verdächtigt, Rohrbomben gebastelt zu haben.

 

13 Jahre waren die drei auf der Flucht. Nachdem Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 erschossen in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden wurden, irrte Zschäpe durch Deutschland, um dann am 8. November 2011 gegen 13 Uhr in Jena mit einem Anwalt in einer Polizeiwache aufzutauchen. 

 

Order zur oberflächlichen Aktenrecherche


Zwei Stunden später wurde ein Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz aktiv. Der Mann mit dem Decknamen Lothar Lingen suchte ab 15.14 Uhr in der Datenbank des Verfassungsschutzes nach Informationen über sogenannte V-Männer, also Informanten, die aus Thüringen über die rechtsradikale Szene berichtet hatten.

 

Am nächsten Morgen – nach anderslautenden Aussagen sogar schon am 8. November selbst – löste Lingen dann den Aufruhr im Bundesamt aus. Er lief „vollkommen aufgebracht“ über den Flur, wie es ein Zeuge beschreibt, und erteilte jedem seiner Mitarbeiter, der greifbar war, einen Auftrag: Die Thüringer V-Mann-Akten sollten so schnell wie möglich durchgesehen werden. Die Beamten des BfV sollten ausschließlich nach den Namen Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt suchen.

 

Auf Informationen über mögliche Unterstützer etwa oder andere Details sollten die Mitarbeiter nicht achten, erinnert sich ein Zeuge. Es ging offenbar nur um eine schnelle, oberflächliche Suche. In wenigen Stunden überflogen Lingens Mitarbeiter die Akten und meldeten zurück, dass die drei Namen in den Schriftstücken nicht auftauchen würden. 

 

Wichtige Akten wurden geschreddert


Zu diesem Zeitpunkt wussten die Sicherheitsbehörden bereits, dass bei Mundlos und Böhnhardt eine DVD gefunden wurde, auf der sich ein Nationalsozialistischer Untergrund zu zehn Morden bekannt hatte. Die Behörden wussten auch, dass die beiden mehrere Helfer hatten und unter Aliasnamen operiert hatten. Trotzdem ordnete Lingen nicht an, die Akten aufzubewahren und in Ruhe durchzuarbeiten. Im Gegenteil.

 

Er setzte eine Mitarbeiterin aus dem Archiv in den nächsten Stunden massiv unter Druck. Sie solle die Akten der Thüringer V-Männer umgehend schreddern lassen. Man könne sich „nicht des Eindrucks erwehren“, so ein Mitarbeiter des BfV später, dass es Lingen ausschließlich darum ging, die Akten „so schnell wie möglich“ vernichten zu lassen. Warum nur hat er das getan? Das interessierte im Oktober 2014 auch die Bundesanwaltschaft.

 

Wie seine Kollegen wurde Lothar Lingen von BKA-Beamten als Zeuge vernommen. Lingen wurde sogar nach Karlsruhe zur Bundesanwaltschaft zitiert. Lingens Aussage im Beisein eines Bundesanwaltes war bislang nicht bekannt. Sie wirft ein neues, ein grelles Licht auf die NSU-Affäre und das Verhalten von Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz. 

 

Unangenehme Fragen sollten gar nicht erst aufkommen


Lingen sagte laut Protokoll: „Mir war bereits am 10./11. November 2011 völlig klar, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren wird. Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der – ja nun auch heute noch intensiv gestellten – Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert worden sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS (Thüringer Heimatschutz) und in Thüringen, nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht.“

 

Damit gibt Lingen zu, dass es ihm darum ging, gezielt Akten vernichten zu lassen, um unangenehme Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Lingen sagt in seiner Aussage außerdem, dass er die Erfahrung gemacht habe, dass „vorhandene Akten, nach denen gefragt wird, zu endlosen Prüfaufträgen führen könnten“. Seine entwaffnende Analyse: „Vernichtete Akten können aber nicht mehr geprüft werden. Dies war ein Reflex, der bei meiner Entscheidung eine Rolle spielte.“

 

Mitglieder des aktuellen NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages sind über die neuen Informationen entsetzt. Irene Mihalic, Obfrau der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss, sagte der „Welt“: „Die Untersuchungsakten belegen eindeutig, dass Lingen die V-Mann-Akten vorsätzlich vernichtet hat. Das ist eine völlig neue Qualität des Skandals.“ 

 

„Das Verschweigen der vorsätzlichen Aktenvernichtung“


Die Vernichtungsaktion im Bundesamt für Verfassungsschutz wurde bereits im Sommer 2012 durch die Arbeit des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages bekannt. Der damalige langjährige Präsident des BfV, Heinz Fromm, trat daraufhin zurück. Das Bundesinnenministerium setzte einen ehemaligen Mitarbeiter des BfV als Sonderermittler ein, der einen in großen Teilen geheimen Bericht verfasste.

 

In den veröffentlichten Teilen des Reports ist von dem offensichtlichen Vorsatz von Lothar Lingen, die Akten vor allem schnell vernichten zu lassen, nichts zu lesen. In dem Bericht wird vielmehr der Eindruck vermittelt, dass Lingen lediglich aufgefallen sei, dass die V-Mann-Akten schon lange hätten vernichtet werden müssen, es sei dabei um Formalien, Aufbewahrungsfristen und Arbeitsvermeidung gegangen.

 

Der Vorgang blieb nebulös und ist es nun, nach dem Bekanntwerden der Aussage Lingens, mehr denn je. Vor allem „das Verschweigen der vorsätzlichen Aktenvernichtung“, so Mihalic, „torpediert alle bisherigen Aufklärungsbemühungen im NSU-Komplex“. 

 

Lingen beantwortet die kniffligen Fragen nicht


Lingen hatte bereits im Jahr 2012 vor dem ersten NSU-Ausschuss des Bundestages ausgesagt, konnte aber bei den zentralen Punkten die Aussage verweigern, weil gegen ihn ein Disziplinarverfahren anhängig war. Das ist inzwischen abgeschlossen. Die genaue Strafe für Lingen ist unbekannt, er ist aber bereits nach dem Bekanntwerden des Skandals aus dem BfV zum Bundesverwaltungsamt in Köln versetzt worden.

 

Am Donnerstag war Lingen nun erneut geladen, musste öffentlich vor dem zweiten NSU-Ausschuss des Bundestages aussagen. Der Mann mit gestutztem Bart, graublonden Haaren, weißem Hemd, grauem Anzug und Brille beantwortet die kniffligen Fragen nicht: Warum hat er die Akten vernichten lassen? Warum hat er bei der Bundesanwaltschaft den Vorsatz bei der Vernichtung zugegeben?

 

Lingen verweigerte die Aussage, um sich nicht selbst belasten zu müssen, da er Sorge habe, dass das Ermittlungsverfahren gegen ihn wieder aufgenommen wird. In der Tat prüfen nun Anwälte von Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Lothar Lingen erneut anzuzeigen.

 

Mit der Mauertaktik von Lothar Lingen will sich die Opposition nicht zufriedengeben, so Irene Mihalic: „Wir werden zu klären haben, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz oder dessen Mitarbeiter Zusammenhänge bewusst verschleiern, damit die Vorgänge vor und während des Untertauchens des NSU-Trios nicht transparent werden.“

 

Lothar Lingen verweigerte am Donnerstag offenbar auch deswegen vor dem Ausschuss die Aussage, weil er nicht mit den Äußerungen seiner Kollegen über den Ablauf der Aktenvernichtung konfrontiert werden wollte. Denn die Aussagen werfen diverse unangenehme Fragen auf. 

 

De Maizière wollte im BfV aufräumen


Eine Dienstbesprechung hätte es vor der Durchsicht der Akten nicht gegeben, niemand hätte gewusst, dass es darum ging, die Akten vernichten zu lassen. „Herr Lingen“ hätte nur gesagt, es gäbe einen eiligen Auftrag „von oben“, die Akten der Thüringer V-Männer durchzusehen. Ob es wirklich auch für Lingen einen Befehl „von oben“ gab oder ob er auf eigene Faust die Vernichtung durchgesetzt hat, ist ungeklärt.

 

Ein Zeuge beschreibt, dass nicht nur Lingen, sondern auch dessen Vorgesetzter in „besonderem Maße kopflos“ wirkten. Dann fügt jener Zeuge einen Satz an: „Eine weitere Erklärung möchte ich Ihnen und mir gern ersparen.“ Die Vernehmungsbeamten fragten nicht nach. Der Ausspruch erinnert an einen Satz von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der nach einer Terrorwarnung sagte, dass genauere Informationen die Bevölkerung verunsichern könnten.

 

Es war auch das Innenministerium von Thomas de Maizière, das vor der Sommerpause versprochen hatte, im BfV mit organisatorischen Mängeln aufzuräumen. Damals war bekannt geworden, dass ein Mitarbeiter des BfV mehrere Handys eines V-Manns im Panzerschrank versteckt gehalten hatte. Ein Bezug zum NSU ließ sich auf den Handys jedoch nicht finden.

 

Seit diesem Vorfall war das Verhältnis zwischen Mitgliedern des NSU-Ausschusses und dem Bundesinnenministerium bereits angespannt. Die Aussage von Lothar Lingen reißt nun alte und neue Wunden auf, es stellen sich mit neuem Nachdruck neue und alte Fragen, die zum Teil seit dem Jahr 2012 unbeantwortet sind.

 

So behauptet Lingen bei der Bundesanwaltschaft etwa, es seien im Fall des V-Mannes „Tarif“ nur ein Aktenordner und zwei Aktenmappen überhaupt vernichtet worden. Andere Zeugen bestreiten das, da ist von bis zu sechs Aktenordnern die Rede. Bis heute ist dem Ausschuss unklar, wie viele Akten etwa von „Tarif“ existiert haben, wie viele Akten vernichtet wurden und welche Dokumente wieder in anderen Ordnern gefunden werden konnten. 

 

Mindestens mit einer Quelle in Thüringen hatte er zu tun


Gegenüber dem BKA behaupten die BfV-Mitarbeiter, dass 87 Prozent der „Tarif“-Akten rekonstruiert worden sind. Der Ausschuss hat kaum eine Möglichkeit, diese Information zu überprüfen. Zudem: Die entscheidenden 13 Prozent jedoch könnten fehlen. Der V-Mann „Tarif“ behauptet selber, ein Unterstützer des Trios habe ihn gebeten, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe unterzubringen, als diese sich abgesetzt hatten. Er hätte das auch dem BfV weitergemeldet. Sein V-Mann-Führer beim BfV bestreitet das. So steht im NSU-Komplex oft Aussage gegen Aussage.

 

Auch ruft die Äußerung von Lingen, dass man „acht, neun, zehn Quellen“ in Thüringen eingesetzt hatte, in Erinnerung, dass bei mindestens drei dieser Quellen, die auch über das Umfeld von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt berichtet haben, die Klarnamen, also die reale Identität, nicht bekannt ist. Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses wissen also nicht in jedem Fall, wer sich hinter den V-Männern, deren Akten man zerstören ließ, verbirgt. Man hat nur das Wort des BfV, dass es sich dabei nicht um bekannte Mitglieder oder Unterstützer des NSU handelt.

 

Lingen und auch seine ehemaligen Kollegen haben gegenüber den Beamten des BKA und der Bundesanwaltschaft zudem behauptet, dass die Thüringer V-Männer „kleine Lichter“ und „Blinde“ waren, dass in den vernichteten Akten daher nichts zum NSU oder deren Mitgliedern gestanden habe. Doch der „Welt“ liegen Dokumente vor, die diese Einschätzung infrage stellen. So geht aus Akten des BfV hervor, dass Lingen dienstlich mindestens mit der Betreuung einer Quelle in Thüringen zu tun hatte: Deckname „Teleskop“. „Teleskop“ hatte unter anderem über Tino Brandt berichtet, der wiederum das Trio im Untergrund unterstützt hatte.

 

Eine Aussage eines der Mitarbeiter des BfV beim BKA lässt zudem aufhorchen: Er sagte, dass allen Beteiligten klar war, dass die Vernichtung der Akten ein spezieller Vorgang war. Nachdem er erfahren hatte, dass „plötzlich“ die Akten geschreddert werden sollten und alles schnell gehen sollte, „entwickelte sich eine absolute Eigendynamik, jeder merkte, dass alle nervöser und nervöser wurden. Man spürte, dass da etwas ‚Großes‘ auf uns zukommen würde.“ Warum die Mitarbeiter des BfV wirklich so nervös wurden, muss nun der NSU-Ausschuss herausfinden.