Berxwedan jiyan e
Erst der dauerhafte Kampf für ein freies Leben gibt diesem eine Bedeutung
Agît Derik - Ciwanên Azad
Der Kampf um die Wahrheit und Gerechtigkeit ist universell, allgegenwärtig und nicht vergänglich. Einst äußerte er sich in dem kurzen Satz „baş bifikiri, baş bipeyivi, baş biki“ (a.d. kurd.: denke schön, spreche schön, handle schön – Zarathustra), mal im „en el haq“ (a.d. arab.: Ich bin die Wahrheit/ Ich bin Gott – Halladsch`î Mansur), mal im „sapere aude“ (a.d. lat.: wage es zu denken – Emmanuelle Kant) oder „cogito ergo sum“ (a.d. lat.: Ich denke also bin ich – Renes Decartes). Heute sind es die Sätze „jin, jiyan, azadî“ (a. d. kurd.: die Frau, das Leben, die Freiheit) und „berxwedan jiyan e“ (a.d. kurd.: Widerstand heißt Leben – Mazlum Dogan), die der Suche nach einem erfüllten Leben Richtung geben.
Wir befinden uns weltweit in einer außerordentlichen Phase der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Bestehende politische Systeme brechen zusehends zusammen. Jahrhunderte bzw. Jahrtausende alte gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen wandeln sich rasant. Dass sich diese Entwicklungen nicht immer zugunsten demokratischer Vorstellungen abzeichnen, sehen wir anhand der faschistischen bzw. fundamentalistischen Bewegungen wie PEGIDA, Front National und dem AFD in Europa oder dem IS/ der AKP im Mittleren Osten, der sich im Zentrum aller weltweiten Umbrüche befindet. Viele politische Persönlichkeiten benennen diese Phase als den 3. Weltkrieg.
Um die derzeitigen Entwicklungen im Mittleren Osten richtig einzuordnen und passende Schlüsse zu ziehen muss ihre geschichtliche Entwicklung untersucht werden. Für die heutige vorherrschende Chaos- und Kriegssituation in dieser Region ist die nach dem 1. Weltkrieg etablierte politische Ordnung durch die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien maßgeblich verantwortlich. Ohne die bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse zu berücksichtigen wurden vor ziemlich genau 100 Jahren willkürliche Staatsgrenzen gezogen. Nach der Devise „wenn sich zwei streiten, freut sich der dritte“ wurden bewusst Konfliktpotentiale eingebaut, um die Region immerwährende unter Kontrolle zu halten. Insbesondere die Zerstückelung Kurdistans und die Gründung des Staates Israel und somit die Spaltung der jüdischen und arabischen Gesellschaft war bewusstes Kalkül westlicher Großmächte. Der Vertrag von Sykes-Picot ist die Widerspiegelung dieses Kalküls. Heute, fast 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg, geht dieses Kalkül nicht mehr auf. Dafür spielt der Widerstand der kurdischen Bewegung unter der PKK und Rêber APO (Vorsitzender Abdullah Öcalan) eine große Rolle. Im Folgenden soll auf die derzeitige Situation in Kurdistan eingegangen werden.
Die derzeitige Phase drängt vehementer denn je zur Lösung der kurdischen Frage
Durch den Paradigmenwechsel in der kurdischen Bewegung weitete sich der Widerstand der KurdInnen rasant über Nordkurdistan hinaus und hat heute große Teil des Mittleren Ostens erfasst. Die willkürlichen politischen und sozialen Grenzziehungen über den gesamten mittleren Osten nach dem 1. Weltkrieg sind ein großer Zündstoff für die Konflikte der Gegenwart. Deshalb kann eine Lösung auch nur gefunden werden, sofern diese eine Perspektive für die gesamte Region bietet. Die basisdemokratische und konföderale Organisierung der Bevölkerung entsprechen der historischen, kulturellen, politischen Tradition und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen.
Genau diese Perspektive bietet die kurdische Bewegung. In allen vier Teilen Kurdistan organisiert sie seit Newroz 2005 nach diesen Vorstellungen und den Paradigmen Frauenbefreiung, Demokratie und Ökologie die Gesellschaft unter dem Dach der KCK (a.d. kurd.: Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Übergeordnetes Ziel ist die Autonomie Kurdistans in den jeweiligen demokratisierten und föderalisierten bestehenden Nationalstaaten.
Diese Idee, die alle Völker und Religionen in der Region umfasst, greift die Existenzgrundlagen der bestehenden Staaten an. Insbesondere die Türkei kämpft mit aller Kraft gegen jegliche kurdischen Selbstbestimmungsbestrebungen. Obwohl seit der Gründung der Republik die Lösung der Kurdistan-Frage sich immer vehementer drängte, verweigert der türkische Staat bis heute eine Lösung auf Grundlage einer Demokratisierung. Dies wäre nicht möglich, wenn es die großen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Unterstützungen aus den USA und der BRD nicht gebe. Die derzeitige Phase drängt die Lösung der kurdischen Frage vehementer denn je.
Ohne die Einbeziehung der KurdInnen kann es keine Neugestaltung und Demokratisierung des Mittleren Ostens geben
Spätestens seit Beginn der Aufstände im arabischen Raum ist klar: Der Mittlere Osten befindet sich gesellschaftlich und politisch im Umbruch. Die herrschenden autokratischen Regime geben keine Antwort auf die Bedürfnisse der Bevölkerung, die allerdings keine alternative Programmatik bietet, mit der sie sich selbst verwalten kann. Das Ergebnis ist das derzeitige Chaos in der Region. Da fortschrittliche Kräfte seit Zusammenbruch der Sowjetunion keine gesellschaftlich relevante Bewegung mehr darstellen, füllen fundamentalistische Kräfte dieses Vakuum.
Die kurdische Bewegung gibt dieser Phase mit ihrem Programm einen Ansatz zur Lösung dieser Probleme. Sie ist zudem stark genug, um die Gesellschaft voranzutreiben und sie nach ihrer Programmatik zu organisieren. Rojava ist in diesem Hexenkessel zu einer Region geworden, dass trotz aller Widrigkeiten Hoffnung gibt. Die Ausrufung der Nordsyrien-Föderation, in der sich viele andere Volks- und Religionsgruppen föderal zusammenfinden ist ein Vorbild für die gesamte Region.
Dass die Idee eines demokratischen und föderalen Zusammenlebens sich für die kurdische Bewegung nicht nur auf Kurdistan begrenzt, sehen wir in der großen Opferbereitschaft der YPG/YPJ in der Befreiung der arabischen Gebiete vom IS – siehe Operationen zur Befreiung von Raqqa oder Heseke. Unter ihrer Führung haben sich in der SDF (Syrian Democratic Forces - Demokratische Kräfte Syriens) zahlreiche Einheiten anderer Volks- und Religionsgruppen zusammengeschlossen.
Die Durchsetzung der Revolution in Rojava – (auf die fortschrittlichen Elemente der Revolution in Rojava wurde in den letzten Jahren oft genug eingegangen, die hier nicht wiederholt werden) – durch den erfolgreichen Kampf der YPG/YPJ, der Zusammenschluss mit anderen Gruppen aus Syrien und die große internationale Solidarität hat auch den Westen dazu gedrängt Rojava und somit den selbstbestimmten Weg der KurdInnen anzuerkennen. Die Eröffnung von Vertretungen in Moskau, Berlin, Stockholm, Oslo und Paris bestätigen diese Anerkennung. Das ist ein großer Schritt, denn das zeigt, dass auch die Weltgemeinschaft akzeptiert hat, dass es ohne die Einbeziehung der legitimen Vertretungen der KurdInnen keine nachhaltige, friedliche und demokratische Neugestaltung des Mittleren Ostens geben kann.
Erdogan und die AKP sind das größte Hindernis für die Demokratisierung des Mittleren Ostens
Der Erfolg der HDP/HDK bei den Parlamentswahlen in der Türkei, die immer stärkere Organisierung der KCK in Nordkurdistan, der Durchbruch der Revolution in Rojava und die weltweite Anerkennung der PKK und Rêber APO’s als Repräsentant der KurdInnen drängte den türkischen Staat, Erdogan und die AKP sehr stark in die Enge. Es ist die altbekannte Methode von Staaten und Machthabern, die Gewalt eskalieren zu lassen, um die eigene Machtausweitung zu legitimieren, die auch die AKP anwendete. Am 24. Juli 2015 flog die türkische Luftwaffe über 400 Angriffe auf die kurdische Guerilla und beendete damit einseitig den Lösungsprozess zur friedlichen Beendigung des Kurdistan-Konfliktes. Danach begann eine Phase, in der jegliche Vorstellungen von Menschlichkeit seitens des türkischen Staates verloren wurde.
Zuvor, seit dem 5. April 2015, begann eine totale Isolation von Rêber APO, dem Hauptverhandlungsführer der Lösungsphase auf der kurdischen Seite. Noch nie in der Geschichte der Republik gab es so große Angriffe auf die Pressefreiheit – Verstaatlichung von allen relevanten nichtregierungs-Medien, Verhaftung und Einschüchterung von dutzenden Journalisten durch AKP-Schlägertruppen. Die Befugnisse und die Immunität der Polizei und des Militärs wurden auf ein Höchstmaß ausgeweitet. Die Immunität der HDP-Abgeordneten wurde aufgehoben – Hier ist zu erwähnen, dass das ohne die Stimmen der CHP nicht möglich wäre. Eine Lynch- und Einschüchterungskampagne von Erdogan höchstpersönlich wurde gegen jegliche oppositionelle PolitikerInnen, AkademikerInnen, KünstlerInnen, Studierende gestartet. Tausende Menschen sind seitdem verhaftet oder wegen Präsidenten- oder Staatsbeleidigung angezeigt worden. Sogar internationale JournalistInnen und PolitikerInnen waren von diesen Angriffen nicht ausgenommen. Jede/r, die/der sich der Ein-Mann-Herrschaft von Erdogan nicht beugt wird als Terrorist bezeichnet.
Gegen diese Faschisierung der Türkei begann insbesondere in Bakûr (Nordkurdistan – Kurdische Gebiete in der Türkei) ein Widerstand der Bevölkerung. Was sich dann in diesen Städten ereignete, passt in kein Wörterbuch. Städte wie Cizîr, Sirnex, Nisêbîn, Sûr/Amed, Gever und viele weitere wurden durch die türkische Armee und Polizei dem Erdboden gleichgemacht. Hunderte Menschen – Kinder, Alte, Frauen, Behinderte, Verletzte – wurden auf brutalste Weise massakriert. Hunderttausende verloren ihre Häuser. Mit diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit will Erdogan die Jahrtausende alte Kultur und Historie dieser Region zerstören und nach seinen eigenen neoliberalen Vorstellungen die Region restrukturieren. Dieser ekelhafte Angriff auf die Soziologie und die Demografie von Bakûr ist der Höhepunkt der Faschisierung der Türkei. Durch die Unterstützung von radikal-islamistischen Kräften im gesamten Mittleren Osten werden Erdogan und die AKP zudem zum größten Hindernis für die Demokratisierung der gesamten Region.
Der Revolutionäre Volkskrieg kommt jetzt erst in die Gänge
Eines muss uns inzwischen klar sein: Erdogan, die AKP und der türkische Staat werden ihre Politik nicht mit Verhandlungen und Gesprächen verändern. Das ist eine faschistische Diktatur, die alles in ihrer Macht stehenden tun wird, um weiter zu herrschen. Egal ob das europäische Staatschefs sind oder irgendwelche kurdischen PolitikerInnen: Wer den Diktator Erdogan nicht öffentlich ächtet, ihm den Kampf ansagt, macht sich mitschuldig an seinen Verbrechen. Das kurdische Volk und seine UnterstützerInnen müssen sich auf eine Phase einstellen, in der alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Ressourcen für den Kampf gegen den Diktator Erdogan zur Verfügung gestellt werden. Diese Phase ist die des „Revolutionären Volkskrieges“ und das bedeutet den kompletten Bruch auf allen Ebenen mit dem System des türkischen Staates. Das bedeutet für in Europa lebende KurdInnen und ihre FreundInnen, dass auf allen Ebenen, wie Politik, Wirtschaft, Tourismus und Militär, die Unterstützung der kapitalistischen europäischen Staaten für die Türkei im Krieg gegen die Selbstverwaltungen, angegriffen und gestoppt werden muss. Die Bilder der AKP-Kriegsmaschinerie aus Sirnex, Nisêbîn, Cizîr und Sûr oder von Ekin Wan und Hacı Lokman Birlik müssen wir in unsere Gedächtnisse eingravieren. Diese Bilder müssen unsere jetzige Praxis bestimmen. Worte haben ihre Bedeutung verloren, es sind Taten gefordert.
Dieser Krieg ist ein Krieg gegen die Würde, die Identität, die Kultur und die Freiheit der Völker, vor allem des kurdischen Volkes. Insbesondere die kurdischen Jugendlichen müssen gegen die allgegenwärtigen Angriffe mit ebenso allgegenwärtiger Haltung in allen Bereichen ihres Lebens Wiederstand leisten. In die Köpfe der Jugend wird tagtäglich durch Medien, Familien, Schulen oder Universitäten Rückständigkeiten wie Feudalismus, Sexismus, Rassismus, Nationalismus oder Individualismus eingepflanzt, um sie damit zu kontrollieren und zu assimilieren. Wir müssen uns, wenn wir ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, mit diesen Rückständigkeiten unserer Gesellschaft auseinandersetzen und sie in uns selbst überwinden. Das bedeutet zugleich die eigene Kultur zu schützen und weiterzuentwickeln. Konkret heißt das: Lernt, spricht, denkt und isst kurdisch, setzt euch mit eurer Familiengeschichte, der Geschichte Kurdistans und eurer eigenen Geschichte auseinander, akzeptiert nicht die Ungerechtigkeiten, die ihr tagtäglich in euren Familien, Schulen, Universitäten oder bei der Arbeit erlebt. Fangt an zu verstehen welch eine große kollektive Ungerechtigkeit vor allem der Jungend angetan wird und leistet dagegen Widerstand, widerspricht dagegen, akzeptiert das nicht. Seid immer auf der Suche nach der Wahrheit und lasst euch nicht in Irrwege führen, die zumeist auch mit Familie und Religion gerechtfertigt werden.
Dass ein Kurdischer Staat uns unsere Freiheit bringt ist ein Irrglaube
Immer wieder gibt es Berichte und Bewertungen sowohl auf kurdischer als auch auf internationalere Seite, dass die kurdische Frage mit der Gründung eines kurdischen Staates gelöst werden kann. Das ist ein Irrglaube. Der jetzige Konflikt ist ein Ergebnis der Etablierung von Nationalstaaten vor 100 Jahren. In einem Mosaik der Kulturen, Völker, Religionen oder Identitäten kann kein vereinheitlichender Nationalstaat die Organisierungsform sein, die den Interessen und Bedürfnissen der Menschen in dieser Region dient. Der richtige Lösungsansatz ist die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Solange die Frauenfrage nicht gelöst ist, das Religionsverständnis sich nicht ändert, kein demokratisches Bewusstsein etabliert wird, die feudalen Familienstrukturen nicht durchbrochen werden und allen Identitäten ein politische und gesellschaftliche Teilhabe nicht ermöglicht wird, wird ein kurdischer Staat die jetzigen Verhältnisse nur reproduzieren. Wir sehen in Südkurdistan ein Paradebeispiel dafür. Dort gibt es faktisch einen kurdischen Staat. Allerdings stehen dort alle gesellschaftlichen Ressourcen und Reichtümer wenigen Familien-Clans zur Verfügung. Wir haben all die Opfer und Gefallenen nicht dafür hergegeben, damit eine Handvoll Familien-Clans ihre Bankkonten mit Milliarden füllen können, während der Großteil der Bevölkerung in Armut lebt. Was uns weiterbringt ist eine Bewusstseinsrevolution, eine Renaissance in Kurdistan und dem Mittleren Osten. Die kurdische Bewegung ist die Vorreiterin dieser Revolution. In Rojava können wir die Früchte dieser Revolution jetzt schon ernten.
Wie können wir noch mehr Teil des Widerstandes in Kurdistan werden?
Das ist die altbekannte Frage, die sich vor allem die kurdischen Jugendlichen stellen. „Demonstrationen“, so heißt es immer wieder mal, „bringen nicht weiter“. Das stimmt, allein mit Demonstrationen und anderen Protestformen kommen wir nicht weiter. Es ist wichtig, dass Jugendliche ihr Leben viel politische bewusster gestalten. Ich möchte hier auf ein paar Punkte eingehen, die oft sehr leicht übersehen werden. Jede/r kennt Personen, die auf Demonstrationen am lautesten „Jin, Jiyan, Azadî“ rufen, daheim dann aber ihre Schwestern beschimpfen, weil sie das Essen nicht rechtzeitig vorbereitet haben. Nach außen ein demokratisches Bild abgeben, nach innen sind sie dann aber der größte Patriarch. Andere wiederum sind auf jeder Demo gegen den Kapitalismus, besitzen aber die neusten iPhones oder Macbooks, fahren 50.000€ teure BMWs und sind so selbstverliebt und eitel, dass sie 7-mal die Woche ins Fitnesscenter gehen. Was den Kampf und den Widerstand in Kurdistan weiterbringt ist eine ehrliche Haltung. Wir müssen aufhören „die Politik“ von „unserem Privatleben“ zu trennen. Das gehört zusammen. Wenn wir ein demokratisches Kurdistan wollen, dann müssen wir selbst demokratisch sein und das heißt nicht mehr nur auf jeder Demo am lautesten „Jin, Jiyan, Azadî“ zu rufen. Wenn wir wirklich unsere eigene selbstbestimmte Kultur schützen wollen, dann müssen wir aufhören andere Kulturen zu leben. Und das heißt z.B. Shisha-Bars, Diskotheken, Spielotheken und andere verrohende Orte nicht aufzusuchen. Dem müssen wir unseren Kampf ansagen, weil diese Orte viele Jugendliche von einem politisch bewussten Leben fernhalten. Viele von uns schämen sich kurdisch mit ihren Geschwistern zu sprechen. Das muss überwunden werden. Kurdisch muss ein fester Bestandteil unseres Alltagslebens sein. Wir können inzwischen nicht mal mehr die Folgen von Krieg oder Massaker in Kurdistan fühlen und sehen alles nur noch statistisch oder technisch. Wir müssen unser Mitgefühl wiederbeleben. Dafür ist es auch nötig auf den Urlaub in Ägypten zu verzichten und in das Dorf der Eltern zu fahren und mal für ein paar Wochen dort zu leben. Das System in dem wir leben rückt als das Leid, für das es verantwortlich ist, in weite Ferne, sodass wir nichts mehr verspüren. Wenn wir dagegen nicht ankämpfen, dann verspüren auch echt nichts mehr.
Was können wir hier in Europa politisch machen, um den Kampf in Kurdistan zu stärken?
Der Kampf für eine freie Gesellschaft ist allgegenwärtig und überall. Der Krieg in Kurdistan, beginnt nicht in Ankara, sondern hat ein großes Standbein in Europa. Dementsprechend ist Europa ein sehr wichtiges Arbeitsfeld.
In Europa wurden von den DITIB-Moscheen, Salafisten-Moscheen, Alperen-Vereinen, Ülkü Ocakları tausende Personen vor den Augen der Öffentlichkeit und der staatlichen Behörden für den IS rekrutiert. All diese, als Moscheen getarnten, AKP/ MHP/ IS-Vereine arbeiten 24 Stunden für die Verbreitung ihrer faschistischen Vorstellungen. Somit schaffen sie die Basis für zukünftige Angriffe auf kurdische und fortschrittliche Strukturen in Europa. Wenn die Behörden nicht eingreifen, sogar bewusst zulassen, dass diese Moscheen ihr vergiftetes Gedankengut aus dem Mittelalter hier propagieren, dann ist es die Aufgabe der Jugend zum Selbstschutz, dies zu verhindern. Wir dürfen nicht zulassen, dass Faschisten sich organisieren, weder in Kurdistan noch in der BRD, noch anderswo. Vor allem dafür muss die Zusammenarbeit mit demokratischen Kräften hier in der BRD gestärkt werden.
Nicht nur personell organisiert sich die AKP/MHP/IS in Europa, sondern auch sehr stark wirtschaftlich. Jährlich fließen hunderte Millionen Euro aus Europa über Unternehmen, den besagten Moscheen und Privatpersonen in die Strukturen des türkischen Staates. Wenn mit diesen Geldern Kurdistan und die Heimat von Millionen Menschen zerstört wird, dann dürfen wir nicht zulassen, dass diese Unternehmen hier arbeiten führen können. Der Boykott türkischer Produkte und des Tourismus muss ausgeweitet werden. Ülker, Eti, Tukas, Tadim, Istikbal, Bellona, Turkish Airlines sind nur ein paar Namen, die mit dem türkischen Staat eng zusammenarbeiten und jährlich Milliarden Umsätze in Europa machen.
Vor allem aus der BRD werden jährlich Waffen in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro für Erdogan produziert. Obwohl nun die ganze Welt weiß, dass mit diesen Waffen Verbrechen gegen die Menschheit begangen werden, stimmt die Bundesregierung (also CDU/CSU/SPD – früher haben auch die Grünen den Waffenexporten an die Türkei zugestimmt) allen Rüstungsexporten in die Türkei zu. Heckler & Koch (Oberndorf a. Neckar), ThyssenKrupp (Essen), KraussMaffei (München), Rheinmetall (Düsseldorf) oder Messerschmitt-Bölkow-Blohm (München) sind nur wenige Namen und Städte in denen die Kriegsgeräte für die Massaker in Kurdistan produziert werden. Auch diese Unternehmen dürfen nicht ungehindert am Krieg in Kurdistan Millionen verdienen. Sie müssen politisch und mit diversen anderen Mitteln ein Angriffsziel sein. Insbesondere in diesem Feld kann die Zusammenarbeit mit Antimilitaristischen, Antikapitalistischen Block in der BRD gestärkt werden. Hier ein Zusatz: Diese Waffen werden nicht nur durch den türkischen Staat gegen die KurdInnen verwendet, sondern auch aller großer Wahrscheinlichkeit nach durch reaktionäre kurdische Kollaborateure. In Rojava, in der Stadt Heleb, vor allem im Stadteil Sêx Meqsud greifen durch die Türkei unterstützte islamistische Banden gemeinsam mit dem von der KDP/Barzani unterstützen ENKS die Stellungen der YPG an. Vor allem die BRD verkauft seit zwei Jahren Waffen in Millionen Höhe an die KDP, die auch in Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt ist, gemeinsam mit dem türkischen Staat gegen Kurden zu kämpfen. (Siehe dazu mehr im Artikel von Michael Knapp im Kurdistan Report, Ausgabe: Mai/Juni)
Ein weiteres Arbeitsfeld ist die ideologische/Presse-Arbeit. 24 Stunden am Tag werden wir von den Mainstream-Medien bombardiert. Vor allem in den kurdischen Familien wird sehr viel türkisches Fernsehen konsumiert. Wir müssen uns bewusst sein, dass dieser Krieg in Kurdistan vor allem ein psychologischer Krieg ist. Die Medien haben dabei eine entscheidende Rolle um die Moral der Bevölkerung zu brechen, vor allem ein negatives Bild des Widerstandes darzustellen und den Staat und Erdogan hochzupreisen – ein wenig subtiler aber gewiss läuft das auch hier in Europa nicht anders. Alle türkischen Sender sind unter der Kontrolle der AKP. Wenn wir nicht unter dem Einfluss dieser Medien bleiben wollen, dann sollten wir durchsetzen, dass bei unseren Familien diese nicht konsumiert werden. Stattdessen sollte die alternativen Medien abonniert und weiterentwickelt werden. Es gibt ausreichend kurdische TV-Sender, Zeitungen und Zeitschriften, die genutzt werden müssen. Das gilt auch für deutsche Medien. Wir können damit anfangen, dass jeder den Kurdistan-Report (alle 2 Monate) und die Yeni Özgür Politika (Tageszeitung) abonniert. Jede Familie sollte unbedingt MedNuçe, Stêrk TV, Cira TV, Ronahî TV daheim haben. Daneben gibt es diverse andere Zeitschriften und Zeitungen, wie die Ronahî (Zeitschrift der Studierenden) oder Newaya Jin (Frauenmonatszeitung).
Wir müssen unsere Städte von neuem wiederaufbauen
Wir haben alle die grauenhaften Bilder aus Sûr/Amed, Nisêbîn, Sirnex, Gever, Cizîr, Kobanê und andere Städte in Kurdistan gesehen. Viele von uns haben Verwandte in diesen Städten, einige sind dort geboren und haben in ihrer Kindheit auf jenen Straßen gespielt. Durch die Zerstörung dieser Städte will die AKP den KurdInnen ihr kollektives Gedächtnis und somit einen wichtigen Teil ihrer Identität zerstören. Das soziale Gefüge in den Städten soll nach den neoliberalen Vorstellungen verändert, ihr die Widerstandskultur beraubt werden. Diese Angriffe gelten unser Würde, unsere Freiheit und durch diese Zerstörungen soll unser ich und unser wir zerstört werden. Wir müssen aus Europa deshalb große Opferbereitschaft zeigen, damit diese Städte wiederaufgebaut werden können. Überlegen wir uns zwei Mal, wenn wir uns die Schachtel Zigarette, die teure Kleidung, das teure Auto oder den teuren Urlaub leisten wollen, oder ob wir uns besser mit unseren Volk solidarisieren, ihr Leid teilen und dieses Geld, das dort dringend gebraucht wird, mit ihnen teilen. Jeder von uns sollten unbedingt am „Patenschaften für Kurdistan – (Kardeş Aile)“ Kampagne teilnehmen. (http://www.yxkonline.com/index.php/566-projekt-familienpatenschaft)
Berxwedan jiyan e!
Bringt euch ein in den Jugendstrukturen. Erreicht jeden kurdischen Jugendlichen und organisiert diesen ebenfalls. Berichtet der Welt, was in Kurdistan passiert. Akzeptiert nirgendwo Ungerechtigkeiten. Seid politisch, seid klug und fallt nicht in die Fallen des Systems der Kapitalistischen Moderne!
Zuvor erschienen auf: http://www.yxkonline.com/index.php/595-analyse-aktuelle-politische-lage