Erstmals sind geheime TTIP-Dokumente an die Öffentlichkeit gelangt. Welche Konsequenzen hat das? EU-Politiker stellen sich auf das Schlimmste ein.
Von Markus Becker, Brüssel
Alle 751 Abgeordnete des Europaparlaments, die Regierungen der 28 EU-Staaten, dazu einige nationale Parlamente: Sehr viele Menschen haben Zugang zu den Dokumenten der TTIP-Verhandlungen. Selbst wenn in den Leseräumen elektronische Geräte in der Regel verboten sind, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Details an die Öffentlichkeit gelangen.
Nun ist es so weit: Am Montag kamen erstmals überhaupt Interna aus Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen ans Licht. Die Umweltorganisation Greenpeace hat 16 Dokumente mit insgesamt 248 Seiten ins Netz gestellt. Sie verraten nicht nur die ohnehin schon veröffentlichten Verhandlungspositionen der EU, sondern auch die der USA - was in Washington keine Freude auslösen dürfte.
"Ich werde nicht über die Konsequenzen dieses Lecks spekulieren", sagte Ignacio Garcia Bercero, TTIP-Chefunterhändler der EU, am Montag. "Aber wir erwarten eine Reaktion von den USA." Die Amerikaner hätten den Europäern immer "sehr deutlich gemacht, dass sie erwarten, dass die Vertraulichkeit dieser Dokumente geschützt wird".
Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Handelsausschusses im Europaparlament, sagt es deutlicher: "Die USA werden auf Zinne sein." Wie sehr den Amerikanern an Geheimhaltung gelegen sei, habe etwa ihr Vorschlag gezeigt, europäischen Abgeordneten die TTIP-Dokumente nur in US-Botschaften zu zeigen. Während die EU ihre Verhandlungspositionen inzwischen von sich aus veröffentliche, sei Washington "dickschädelig" bei der Geheimhaltung geblieben.
Tatsächlich hat sich ein Sprecher des US-Handelsbeauftragten Michael Froman umgehend zu Wort gemeldet. Die Interpretationen der Dokumente "scheinen im besten Fall irreführend zu sein und im schlimmsten total falsch", sagte der Sprecher in Washington. Das Abkommen werde die Standards zum Schutz der Verbraucher, der Gesundheit der Bürger sowie der Umwelt "erhalten und nicht abschwächen".
Ende der Geheimniskrämerei?
Diese Aussage lässt sich in den Dokumenten kaum finden. Die Geheimhaltung der Verhandlungen aber ist nun Vergangenheit - und die Frage ist, was in Zukunft geschieht. Steigen oder sinken die Chancen für den Abschluss des TTIP-Abkommens? Werden die Verhandlungen transparenter? Markiert das Dokumentenleck das Ende der Geheimniskrämerei bei den Verhandlungen internationaler Verträge?
Man sehe nun, "dass komplexe Verhandlungen mit so vielen Beteiligten heutzutage nicht mehr geheim zu halten sind", sagt der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold. Das passe zu einem lang anhaltenden Trend: Früher hätten Behörden alles geheim gehalten, doch Abgeordnete und Journalisten hätten sich immer mehr Rechte erkämpft. "Die Intransparenz internationaler Verhandlungen ist ein Überbleibsel obrigkeitsstaatlich en Denkens", so Giegold.
Laut Markus Ferber, CSU-Finanzexperte im Europaparlament, müsse man "grundsätzlich darüber nachdenken, ob Geheimniskrämerei richtig ist". "Wenn man die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen will, muss man offen mit ihnen über solche Verhandlungen reden können."
Allerdings dürften das nicht alle so sehen. "Wir werden Ermittlungen über dieses Leck anstellen", sagte EU-Chefunterhändler Bercero. Die Dokumente seien neu getippt worden, um ihre Herkunft zu verschleiern. "Deshalb müssen wir nachforschen, um herauszufinden, woher sie gekommen sind." Seine Pressekonferenz beendete Bercero mit einem bemerkenswerten Hinweis: "Die Leseräume für die Europaabgeordneten und die Mitgliedstaaten bleiben bestehen." Es war eine Antwort auf eine Frage, die zuvor niemand gestellt hatte.
"Dann ist Schluss mit lustig"
Im EU-Parlament - das dem TTIP-Abkommen zustimmen muss - sorgt das teils für Belustigung, teils für Verärgerung. "Über die Leseräume entscheidet nicht Herr Bercero", sagt Ferber. Es wäre "Schluss mit lustig", sollte den Abgeordneten der Zugang zu den TTIP-Dokumenten wieder genommen werden.
Sicher scheint: Ein Abkommen ist jetzt fraglicher denn je. Denn obwohl die veröffentlichten Dokumente wenig Neues über die Konfliktlinien bei den TTIP-Verhandlungen verraten, verdeutlichen sie, wie weit EU und USA in zentralen Fragen auseinanderliegen.
"Leider hat der Deutschland-Besuch von Präsident Obama gezeigt, dass die USA nichts mehr im Köcher haben, um Bewegung in die Verhandlungen zu bringen", sagt SPD-Handelsexperte Lange. "Die Sache ist völlig festgefahren. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass die Verhandlungen positiv enden, schon gar nicht vor dem Ende von Obamas Amtszeit." Er gehe davon aus, "dass TTIP jetzt erst einmal auf Eis gelegt wird".
Auch CSU-Politiker Ferber sieht in zentralen Punkten "keinerlei Kompromissbereitschaft" der USA, etwa bei der Öffnung öffentlicher Ausschreibungen für europäische Unternehmen. Deshalb sei es "eine Option", am Ende gar kein TTIP zu bekommen: "Wenn man sich nicht einig wird", so Ferber, "wird man sich eben nicht einig."