Gegenüber Flüchtlingen waren die Nachbarn im Norden bislang sehr offen und großzügig – doch inzwischen kippt die Stimmung

Erstveröffentlicht: 
10.11.2015

Von André Anwar, Heike Stüben und Niklas Wieczorek

 

Stockholm. Der Lastwagen ist vollgeladen mit Betten, Matratzen, Stühlen und Tischen. Ali Khalil vom islamischen Hilfswerk Schweden parkt ihn im Stockholmer Stadtteil Södermalm um auszuladen. Khalils Auftrag: ein Transitflüchtlingsheim in einer ehemaligen Vorschule aufbauen, mitten im Innenhof eines Wohnhauses. „Eigentlich ist es viel zu klein dort. Aber nun, da der schwedische Winter kommt, ist es wichtig, dass die Menschen etwas zum Übernachten haben“, sagt er. Eine ältere Bewohnerin beobachtet das Geschehen und fragt, was das denn hier solle. Khalil erklärt. 15 Minuten später kommt die Dame zurück. Im Schlepptau zehn weitere Hausbewohner. Doch sie kommen nicht um gegen die neuen Mitbewohner im Hinterhof zu protestieren. Sie haben Decken dabei und Möbelstücke und fragen, wie sie helfen können.

 

Geschichten wie diese gibt es in Schweden unendlich viele. Das weite Land im Norden Europas wurde lange als Vorzeigedemokratie sowie für seine Weltoffenheit gelobt. Eine 38 Länder vergleichende Studie der EU aus dem Sommer bescheinigt Schweden herausragende Integrationsarbeit. Dort hieß es wie in Deutschland lange Zeit: „Wir schaffen das.“ Das 9,6 Millionen Einwohner zählende Land ist in Europa in der Aufnahme von Flüchtlingen – gemessen am Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – führend. Noch im September forderten immerhin 44 Prozent der Bewohner, ihr Land solle sogar noch mehr Flüchtlinge aufnehmen als bislang. 31 Prozent gaben gar an, dass es für sie denkbar sei, in ihrem Haus einen Flüchtling aufzunehmen. Nur 30 Prozent wollten weniger Flüchtlinge. Genau das scheint sich zur Zeit zu ändern.

 

Die Schweden stoßen an die Grenzen ihrer Aufnahmebereitschaft – und die Stimmung im Volk kippt. Laut einer neuen Umfrage der Zeitung „Expressen“ fordert mit 59 Prozent erstmals eine Mehrheit der Schweden ein rigideres Handeln, während 39 Prozent mehr staatliche Ressourcen fordern, um die generöse Flüchtlingspolitik weiterführen zu können.

 

Grund für den Meinungsumschwung ist vor allem eine neue Prognose des Migrationsamtes. Statt mit 74 000 rechnet man jetzt in diesem Jahr mit bis zu 190 000 Flüchtlingen. Für 2016 sind bis zu 170 000 Asylbewerber prognostiziert. Die Zahlen werden den Schweden allmählich unheimlich. Dabei geht es auch ums Geld: Bislang konnte das Land die Mehrausgaben über Kürzungen im Entwicklungshilfebudget stemmen. Doch das reicht nicht mehr. Die Regierung will jetzt in sämtlichen Ministerien einsparen. Finanzministerin Magdalena Andersson (Sozialdemokraten) forderte sämtliche Behörden in einer Brandmail auf, Sparvorschläge einzureichen.

 

Bislang schien es, als sei Schweden durch nichts zu überfordern – jetzt jedoch sieht sich die Regierung nicht mehr in der Lage, jedem Flüchtling eine Unterkunft zuzusichern. Migrationsminister Morgan Johansson stellte Neuankömmlinge zuletzt vor die Wahl: Entweder sie kehren nach Dänemark oder Deutschland zurück – oder suchen sich selbst eine Unterkunft. 45 000 Plätze könnten laut Prognosen bis Jahresende fehlen. Als Behelf lassen die Behörden inzwischen in manchen Regionen beheizte Zelte errichten – angesichts der meist strengen Winter eine absolute Notmaßnahme. „Wir haben die Grenze des Machbaren erreicht“, sagt der Minister. Er hoffe, die Nachricht habe einen dämpfenden Effekt. „Wir sind an die Grenzen unserer Kapazität gelangt“, sagte auch Ministerpräsident Stefan Löfven in der vergangenen Woche beim Nordischen Rat in Reykjavik.

 

Inzwischen setzt auch Schweden auf Abschreckung – eine Entwicklung, die in Deutschland auch deutlicher wird. Sowohl die schwedischen Sozialdemokraten als auch die bürgerliche Opposition, die die generöse Flüchtlingspolitik lange ausdrücklich mitgetragen hat, haben sich inzwischen auf Verschärfungen der Asylpolitik geeinigt. Bislang erhielten alle anerkannten Flüchtlinge lebenslange Aufenthaltsgenehmigungen, die in nur vier Jahren bedingungslos in die schwedische Staatsbürgerschaft umgewandelt werden konnten.

 

Nun soll es nur noch befristete Aufenthaltsgenehmigungen geben. Die Familienzusammenführung wird erschwert. Ähnliches wird gerade in Deutschland heftig diskutiert. Zudem sollen Asylanträge schneller geprüft und Abschiebungen rascher durchgeführt werden. Und es soll untersucht werden, ob unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wirklich minderjährig sind.

 

Die bürgerliche Opposition, von deren Wohlwollen die rot-grüne Minderheitsregierung bei jeder Entscheidung abhängig ist, fordert sogar zusätzlich Grenzkontrollen und hat sich von ihrer flüchtlingsfreundlichen Politik verabschiedet. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten kommen nach jüngsten Umfragen auf 20 Prozent der Wählerstimmen und sind damit drittgrößte politische Kraft. Selbst die schwedische Linke hat inzwischen eine 180-Grad-Drehung gemacht. So sagte der Chefredakteur der linksgerichteten Zeitung „Dala-Demokraten“, Göran Greider, entgegen früherer Stellungnahmen: „Wir brauchen Methoden, die dafür sorgen, dass weniger herkommen.“

 

Die Schweden machen auch mit einem Phänomen Bekanntschaft, das ihnen bislang glücklicherweise fremd war: mit brennenden Asylunterkünften. In den vergangenen Wochen mehrten sich die Fälle von Brandstiftung. Unter den Flüchtlingen wächst bereits die Furcht. Bislang ist niemand zu Schaden gekommen, weil weitgehend unbewohnte Heime betroffen waren. Die Polizei will die meist auf dem Land gelegenen Häuser jetzt mit Helikoptern bewachen. Schwedens Polizeichef rief die Bevölkerung zur Mithilfe bei der bislang erfolglosen Jagd nach Tätern auf. Die Adressen der Heime werden geheim gehalten – ein Versuch, der in einem digital stark vernetzten Land hilflos wirkt.

 

Als letztes Mittel will Schweden nun einen Teil seiner Flüchtlinge wieder loswerden: Nach Italien und Griechenland hat auch Schweden nun die EU-Kommission gebeten, einen Teil der Menschen auf andere Staaten zu verteilen. Manche sehen darin die Bankrotterklärung eines Landes, das bislang stolz war auf seine unbegrenzt scheinende Offenheit – andere sehen darin reinen Realismus.

 

Währenddessen helfen die Nachbarn in Södermalm, Möbel in die Vorschule zu bringen. „Ich glaube, dass die Hilfsbereitschaft in Schweden immer noch enorm ist“, sagt Khalil, „aber natürlich nutzt sich sie sich psychologisch etwas ab.“ Zunächst sei die Begegnung mit den Flüchtlingen ja für alle etwas Neues gewesen. „Doch nun“, fügt er hinzu, „muss die Regierung zusehen, dass sie mehr Verantwortung übernimmt.“