Für den Aufbau seiner anatomischen Sammlung an der Universität Straßburg hat der deutsche Arzt Juden ermorden lassen. Nach Jahren des Mauerns wurde nun das Schreckenslabor geöffnet.
Raphael Toledano versucht ruhig zu bleiben. Zwei Jahre lang hat er immer wieder versucht, in den verborgenen Bereich des Museums der Straßburger Rechtsmedizin zu kommen. Der alte Direktor hat ihn wieder und wieder abgewiesen. Der ging in Ruhestand und der neue zeigt sich sehr offen. Er weiß ja auch nicht, dass Toledano nicht einfach mal nachsehen will, sondern ganz gezielt sucht. Toledano spürt den Hinterlassenschaften des Straßburger Nazi-Arztes August Hirt nach.
Nach wenigen Minuten werden sie fündig – drei Behälter mit Präparaten. Hautstücke. Magen- und Darminhalt. Darauf die exakte Kennzeichnung, wie Camille Simonin sie in einem Brief an die Staatsanwaltschaft Metz 1952 beschreibt. "Expertise Struthof. Hautfragmente", hat der französische Rechtsmediziner sein Gutachten überschrieben. In diesem ist auch eine Häftlingsnummer verzeichnet. Toledano hat keinen Zweifel, dass das, was Simonin damals bei einer Autopsie aufbewahrt hat, von mindestens einem der Opfer August Hirts stammt.
"Dieser Augenblick war unglaublich bewegend", erinnert sich Toledano an den Moment, als er die Präparate entdeckte. Er ist 35 Jahre alt, praktischer Arzt. Seit er Abiturient war, hat ihn die Geschichte um die grausamen Machenschaften des Doktor Hirt nicht mehr losgelassen. Seither treiben ihn die Verbrechen des Arztes aus Tübingen um.
Hirt erprobte die Wirkung von Senfgas an Gefangenen
1941 wurde August Hirt Direktor des Anatomischen Instituts der damals nationalsozialistischen Reichsuniversität Straßburg. Im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof in den elsässischen Vogesen nahmen neben Hirt, der an Gefangenen die Wirkung von Senfgas erprobte, Eugen Haagen und Otto Bickenbach Menschenexperimente mit Phosgengas und Typhuserregern vor. Hirt selbst will zudem eine Skelettsammlung der jüdischen Rasse anlegen.
Dafür lässt er im Sommer 1943 im Vernichtungslager Auschwitz Männer und Frauen auswählen und ins Elsass bringen. Sie werden zwischen dem 11. und 19. August in der Gaskammer unterhalb des Struthofs ermordet, die erst auf Betreiben der Straßburger Mediziner dort eingerichtet worden war. Bis die Nationalsozialisten dort ein Lager errichteten, war das Anwesen ein beliebtes Ausflugslokal für Skifahrer und Wanderer.
Hirt wollte Spuren verwischen
Von Struthof werden die Leichen von 86 ermordeten Juden in sein Institut gebracht. Seine Helfer legen sie in Formalin. So finden die Alliierten am 1. Dezember, nach der Befreiung Straßburgs, August Hirts Hinterlassenschaft im Anatomischen Institut vor: 17 Leichen und 225 Körperteile. Er hatte noch versucht, Spuren zu verwischen.
Auf dem jüdischen Friedhof in Straßburg-Cronenbourg werden die Toten später beigesetzt. Unter ihnen auch, wie sich später herausstellt, der Häftling mit der Nummer 107969, eintätowiert in den Arm. Sein Name: Menachem Taffel, 1900 im polnischen Sedziszow geboren, ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Er war lange das einzige Opfer, das seine Identität zurückbekam.
Hirt begeht 1945 in Tübingen Suizid, wohin einige der Straßburger Universitätsinstitute nach der Befreiung des Elsass verlegt worden waren. Er wird dennoch 1952 gemeinsam mit anderen NS-Ärzten verurteilt. Seither halten sich Gerüchte, wonach in Straßburg weiterhin Leichenteile der Opfer Hirts aufbewahrt werden sollen.
Opfer bekommen ihre Namen zurück
Als Raphael Toledano 1997 sein Medizinstudium beginnt, hört er von den Gerüchten. In der Öffentlichkeit war bis dahin wenig bekannt über Hirts Treiben. Das ändert sich erst 2003, als der Tübinger Journalist Hans-Joachim Lang bei einer Tagung zu den Naziverbrechen in Struthof und in der Straßburger Medizin die Namen der jüdischen Opfer des Doktor Hirt erstmals verliest. In seinem Buch "Die Namen der Nummern" beschreibt Lang, wie es ihm gelungen ist, den 86 jüdischen Opfern des August Hirt ihre Namen zurückzugeben. Ihm ist es zu danken, dass sie nun auf dem Grabstein in Straßburger stehen. Nach Kriegsende waren die Leichen zunächst anonym bestattet worden.
Schon vor 1943 hatte Hirt versucht, Leichen von Kriegsgefangenen für anatomische Zwecke zu bekommen – und die beiden Krankenhäuser für Kriegsgefangene, die es im Elsass gab, waren ihm zu Diensten. Toledano macht die Namen und das Schicksal von 230 sowjetischen Kriegsgefangenen ausfindig, die sich Hirt zu Anschauungszwecken liefern ließ. Sie wurden in einem Waldstück südlich von Straßburg verscharrt. Toledano machte auch den Fall von acht aufmüpfigen Elsässern bekannt, die an einem 14. Juli auf der Straße lauthals die Marseillaise gesungen hatten – und deshalb erschossen wurden. Hirts Assistent Henri Henrypierre beschreibt in seiner Biografie, wie er die Leichen abholen musste.
Entdeckung sorgt für einige Aufregung
2013 entdeckt Raphael Toledano schließlich in einem französischen Militärarchiv den entscheidenden Brief. Im Vorfeld des Kriegsverbrechertribunals von Metz erwähnt der Straßburger Rechtsmediziner Camille Simonin jene Beweise, die er an aus Hirts Institut stammenden Leichen entnommen hatte. Toledano erschrak: "Was Simonin von Hirts Opfern aufbewahrt hat, ist genau dort gelandet, wo Hirt sie in seinem Rassenwahn haben wollte: im Museum." Er war entschlossen, die Präparate zu finden und von dort wegzuholen.
Toledanos Entdeckung sorgt in Frankreich und an der Straßburger Universität nun für einige Aufregung. Dort hatte man stets bestritten, dass in einem Gebäude der Universität noch Teile der Sammlung Hirt aufbewahrt würden. Streng genommen ist es ja auch nicht das, was Toledano gefunden hat.
Am 9. Juli um 14.30 Uhr steht Toledano mit dem Leiter der Rechtsmedizin Jean-Sébastien Raul in dem engen, kaum jemand bekannten noch zugänglichen Museum. Raul habe nicht gewusst, dass sein Vorgänger dem jungen Mediziner den Zutritt zu diesem Ort verweigert hatte. Sie prüfen zwei Regalreihen forensischer Proben.
Toledanos Suche hat ein Ende. "Der Institutsdirektor hat erst mit Verzögerung begriffen, um was es geht", sagt Toledano. Noch am selben Nachmittag schreibt Toledano eine Mail an den Rektor der Universität, die Leiterin der Gedenkstätte Natzweiler-Struthof und den Straßburger Oberbürgermeister. Den Straßburger Oberrabbiner René Gutman sucht er persönlich auf.
Die Überreste mindestens eines der Opfer August Hirts – ob noch ein zweites im Spiel ist, muss eine genetische Untersuchung zeigen – soll wahrscheinlich zu Beginn des jüdischen Neujahrs neben dem bestehenden Grab in Cronenbourg beigesetzt werden. Im jüdischen Glauben sei es zwingend, dass ein Toter nicht nur schnellstmöglich, sondern der Leichnam auch vollständig bestattet werde, sagt Toledano. "Wie genau das geschehen wird", sagt er, "darüber muss die Gemeinde wohl noch beraten." Uni-Rektor Alain Beretz beharrt darauf, man habe niemals willentlich etwas verschwiegen.
Hinter dem Thema August Hirt stehen noch viele Fragezeichen, findet Raphael Toledano. Als die Leichen im Keller des von Hirt verlassenen Instituts im Januar 1945 durch einen Artikel in der Londoner Daily Mail ruchbar werden, streitet Hirt Verwerfliches ab – und verweist in einem Brief auf 250 histologische Proben seiner anatomischen Arbeit. "Ich würde gerne wissen, was mit ihnen geschehen ist", fragt sich Toledano. Und findet: "Die Universität sollte endlich Klarheit schaffen."