Der ungesühnte Massenmord

Erstveröffentlicht: 
07.06.2015

Jahrzehntelang ermittelten italienische und deutsche Staatsanwälte halbherzig gegen die Täter des Pogroms von Sant'Anna di Stazzema. Jetzt ist mit Gerhard Sommer, 93, einer der letzten noch lebenden SS-Männer zu krank, um angeklagt zu werden. Aber ist er wirklich so schwach?

 

Der Ort Sant'Anna di Stazzema ist wie geschaffen dafür, deutsche Wunschvorstellungen von Italien zu transportieren. Hier, in der nördlichen Toskana, am Südrand der Apuanischen Alpen, haben Besucher auf den Hügel der Gemeinde einen Blick auf die ligurische Küste und können sich in der Trattoria "La Casetta" mit lokalen Käsesorten, Wein oder dem traditionellen Kastanienkuchen eindecken. Die Landschaft ist genau so "sanft hügelig", wie es in den Reiseberichten steht, und die Häuser alt und windschief und charmant. Ja, und eine Gedenkstätte gibt es hier.

Am 12. August 1944 veränderte sich der Charakter des Dorfes für immer. Etwa 220 Soldaten einer deutschen SS-Einheit stürmten in die Siedlungen und ermordeten mindestens 364 völlig unschuldige Menschen. Ein "Einsatz zur Partisanenbekämpfung" sollte das gewesen sein. Es war in Wahrheit ein Massaker. Nie ist ein Mann dafür zur Verantwortung gezogen worden. Und nun ist der letzte mögliche Prozess gegen einen der noch lebenden Täter endgültig geplatzt: Der Hamburger Gerhard Sommer, 93, war an besagtem Tag beim Morden dabei – und kann wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit nicht mehr angeklagt werden. Er lebt in einer Seniorenresidenz, mehrere Ärzte haben ihm eine fortschreitende Demenz bescheinigt. Sommer, der 2004 in Italien in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist davongekommen.

Davongekommen: Das ist auch Enrico Pieri, der heute 80 Jahre alt ist. Als die Deutschen kamen, versteckte er sich in einer Mauernische und musste mit ansehen, wie ein Mann seine fünfjährige Schwester Luciana an den Beinen packte und so lange mit dem Kopf gegen eine Mauer schlug, bis sie tot war. Insgesamt 27 Familienangehörige verlor Pieri an diesem Tag.

Der Italiener war nie auf Rache aus, er wollte Gerechtigkeit. Er tritt als Nebenkläger im Ermittlungsverfahren gegen Sommer auf, war euphorisch, als seine Anwältin, die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke, ihm die Nachricht übermittelte, dass das Verfahren 2013 wieder in Gang kam, und enttäuscht, als es nun eingestellt wurde. Seine Anwältin wird dagegen Widerspruch einlegen. Sie ist nicht überzeugt davon, dass tatsächlich eine so schwere Demenzerkrankung vorliegt.

In der Tat gibt es widersprüchliche Gutachten über den Zustand des früheren SS-Untersturmführers: Eine Stellungnahme aus dem vergangenen Jahr attestierte eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit, andere Experten kommen im April dieses Jahres zum gegenteiligen Ergebnis. Heinecke kritisiert, dass die beiden Gutachter der Tochter des Beschuldigten zu viel Glauben geschenkt haben. Auch sei versäumt worden, Berichte auszuwerten, die die Pfleger der Seniorenwohnanlage über Sommer anfertigten.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg müht sich in ihrer Einstellungsverfügung, den Makel der überlangen Ermittlungen mit einer urteilsähnlichen Einschätzung zu kompensieren: Danach bestehe "in hohem Maße" der Verdacht, dass Sommer in "mindestens 342 Fällen gemeinschaftlich, grausam und sonst aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben". Sommer diente in der Einheit, der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS", II. Bataillon, als Chef der 7. Kompanie.

Unvorstellbare Grausamkeiten richteten die Deutschen an jenem 12. August 1944 in den verschiedenen Teilen der Gemeinde an. Etwa zehn Soldaten, darunter auch welche aus Sommers Kompanie, erreichten die Siedlung Colle. Sie nahmen 20 Frauen und Kinder, führten sie in eine naheliegende Mulde und feuerten mit einem Maschinengewehr und anderen Waffen auf die Gruppe. Erst einige Minuten später wurden noch lebende Geiseln mit einem Kopfschuss ermordet.

Andere Soldaten der 7. Kompanie waren am Massaker vor dem Kirchplatz in Sant'Anna di Stazzema beteiligt. Die SS-Männer trieben etwa 120 Dorfbewohner auf den Kirchplatz, bauten zwei Maschinengewehre auf und begannen zu schießen. Wenige Minuten später übergossen sie die Leichen mit Benzin, zündeten sie an und warfen Möbel und Stroh auf die Leichname, um das Feuer zu nähren. Im Ortsteil La Case zwangen die Deutschen 30 Menschen in die Küche eines Hauses und warfen durch die Fenster Handgranaten hinein. Dann öffneten sie die Türen wieder und schossen mit Maschinengewehren in den Raum, bis sich niemand mehr rührte. Eine Woche später erhielt Unterscharführer Gerhard Sommer das Eiserne Kreuz I. Klasse.

Es gibt viele solcher Geschichten, die an diesem Tag passierten. Sie finden sich in Zeugenaussagen, Geschichtsbüchern und dem Urteil von 2005 wieder, das das Militärgericht in La Spezia fällte.

Doch es dauerte 50 Jahre, bis die italienische Justiz überhaupt anfing, sich ernsthaft mit dem Fall zu beschäftigen. Das "War Crime Office" des US War Departments hatte zwar wenige Tage nach dem Massaker schon Ermittlungen aufgenommen, doch nach dem Krieg verstaubten die Akten in einem "Schrank der Schande" der Militärstaatsanwaltschaft in Rom. Erst 1994 buddelte sie ein Staatsanwalt wieder aus und führte die Ermittlungen fort, die 2004 in einen Prozess mündeten, bei dem die zehn abwesenden deutschen Angeklagten zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden – und eine Entschädigungszahlung in Höhe von 100 Millionen Euro leisten sollten. Doch die Verurteilten widersprachen dem Auslieferungsbegehren der italienischen Justiz, und Deutschland liefert keine Staatsbürger an andere Nationen aus. So blieb das Urteil folgenlos.

Deutsche Strafverfolger ermittelten durchaus. Im Jahre 2001 übernahm die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, die für NS-Verbrechen zuständig ist, die Vorermittlungen, deren Ergebnisse sie 2002 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart abgab. Und während die Italiener – wie jetzt die Staatsanwaltschaft Hamburg – zum Ergebnis kamen, dass hier ein glasklarer Mord in Hunderten Fällen vorliegt, stellten die Stuttgarter das Verfahren ein.

Herr des Verfahrens in Baden-Württemberg war Oberstaatsanwalt Bernhard Häussler, der 2013 um seine vorzeitige Pensionierung bat. Häussler war, vorsichtig ausgedrückt, umstritten. Während er Demonstranten gegen den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof beinhart verfolgte und antifaschistische Aufkleber, auf denen durchgestrichene Hakenkreuze zu sehen waren, wegen des Tragens verfassungsfeindlicher Symbole verbieten ließ, konnte er beim verurteilten NS-Täter Sommer keine strafrechtliche Schuld erkennen. "Aus Mangel an Beweisen" wurde die Akte 2012 geschlossen, nach zehnjährigen, ergebnislosen Ermittlungen. Nach "Welt"-Informationen gab es in Deutschland kein einziges Ermittlungsverfahren gegen einen NS-Täter, das sich so lange hinzog wie dieses.

Bundespräsident Joachim Gauck besuchte Sant'Anna di Stazzema im Jahre 2013 als erstes deutsches Staatsoberhaupt und benannte die deutsche Schuld. "Hier in Sant' Anna wurde die Menschenwürde mit Füßen getreten und Menschenrechte massiv verletzt", sagte Gauck ein halbes Jahr nach der Einstellung des Verfahrens gegen Sommer.

Enrico Pieri legte über die Anwältin Heinecke Widerspruch ein. Nach einigem Hin und Her hob das Oberlandesgericht Karlsruhe die Einstellungsverfügung am 5. August 2014 auf. Auch die Karlsruher Richter kamen zu einem völlig anderen Urteil als Häussler: "Nach vorläufiger Bewertung ist aufgrund der Aktenlage eine Verurteilung des Beschuldigten Sommer wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes oder wegen Beihilfe zum Mord zu erwarten", schrieben die Juristen in ihrer Begründung – und verwiesen das Verfahren nach Hamburg, dem Wohnort von Gerhard Sommer.

Hier landete es in der Abteilung 73, in der unter anderem NS-Verfahren bearbeitet werden. Der zuständige Oberstaatsanwalt Lars Mahnke lässt in seiner Verfügung keinen Zweifel, was er von der Arbeit der Kollegen im Ländle hält. Der Aufbau der Akten entspreche "in gewisser Weise einer Verfahrenschronologie", schreibt er lakonisch – eine kaum verbrämte Kritik an dem Kollegen Häussler, der sich offenkundig nicht einmal bemüht hatte, Ordnung in die Ermittlungsakten zu bringen.

Das italienische Urteil von 2005 lobt der Hamburger Jurist dagegen ausdrücklich: Es sei sorgfältig begründet, schöpfe alle vorhandenen Beweismittel aus, behaupte keine unbelegten Tatsachen und entspreche der "noch immer beweisbaren Wahrheit über die Geschehnisse vom 12. August 1944 in Sant'Anna di Stazzema". Wahrheit – diesen Begriff nutzen Juristen nur selten, und wenn, dann sind sie sich in der Regel äußerst sicher.

Mahnke sieht ein ganzes Motivbündel für das Massaker, dass die Deutschen begangen haben. Es sei Rache für Angriffe auf deutsche Soldaten gewesen, Enttäuschung, Frustration und – drei Wochen nach dem Attentat auf den "Führer" am 20. Juli 1944 – die erhöhte Bereitschaft, Feinden mit besonderer Härte und Entschlossenheit zu begegnen. Die Zivilbevölkerung sei von vorneherein das Ziel des Einsatzes gewesen.

Für Sommer hätte die Lage vor der Großen Strafkammer 21 des Landgerichts, die gegen ihn verhandelt hätte, wohl düster ausgesehen. Es liege nicht ein Indiz vor, das "in eine Richtung deutet, die den Beschuldigten entlasten könnte", so Mahnke. Ob Sommer nun versteht, was dieser Einstellungsbeschluss bedeutet, ist unklar. Seine jüngste Tochter kümmert sich um ihn in der Seniorenresidenz, in der er lebt. Der Greis kann auf ein erfülltes Leben zurück blicken. Mehr als 40 Jahre lang führte er mit seinem Stiefbruder die Maschinenexportfirma seines Vaters, gründete eine Familie, bekam drei Kinder. Eine ganz normale deutsche Familie.

Nie hat der frühere SS-Mann nach dem Krieg ein Wort des Bedauerns für seine Beteiligung an dem Kriegsverbrechen gefunden, nie sich entschuldigt, nie sich seiner Verantwortung gestellt.

Bundespräsident Gauck drückte es 2013 so aus: "Es verletzt unser Empfinden für Gerechtigkeit tief, wenn Täter nicht überführt werden können, wenn Täter nicht bestraft werden können, weil die Instrumente des Rechtsstaats das nicht zulassen."

Oder der Wille dazu fehlt.