„Babylon“ als Bild für die westliche Zivilisation in HipHop und Reggae

„Babylon“ im popkulturellen Mainstream: Söhne Mannheims: Dein Leben / Babylon System (Maxi-Single). Universal Music 2004.

Das neonazistische Bandprojekt Sturm 18 benannte 2002 einen Song nach der Stadt „Babylon“ und prangert in ihm Überfremdung, Zustände wie in „Sodom und Gomorrha“ und „Knechtschaft“ an, unter die das „deutsche Volk“ angeblich von den „Erben Zions“, also den Juden, geworfen sei. „Babylon“ als Metapher für einen „lebensfeindlichen“ (Welt)Staat und sein Wirtschaftssystem – für die westliche Zivilsation als solche –, fand über den Reggae Eingang in den popkulturellen Kanon. Wie sehr das auch in der Bundesrepublik im Mainstream angekommen ist, illustriert vielleicht am besten ein Song aus der Feder des Mannheimer Popmusikers Xavier Naidoo und seiner Band Söhne Mannheims mit dem Titel „Babylon System“.

 

In seinem Song „Revolution“ singt Mellow Mark vom Staat als „Babylon“ und greift damit eine negativ gemeinte Metapher für die „westliche Zivilsation“ auf, die in Reggae-, aber auch HipHop-Texten gang und gäbe ist. Sie entstammt dem Rastafari, einer religiösen Gemeinschaft von Nachfahren versklavter Schwarzafrikaner in Jamaika.

 

In Anlehnung an die Bibel sehen sich die Gläubigen selbst als das wahrhaft auserwählte Volk Gottes im babylonischen Exil. Bereits im Alten Testament steht die Stadt „Babel“ / „Babylon“ für die Anmaßung des Menschen in göttliche Belange: Als die Babylonier sich entschlossen, einen Turm zu bauen, „dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen“, wie es im 1. Buch Mose Kap. 11, Vers 9 heißt, erzürnte Gott, und er „verwirrte ihre Sprache“ und „verstreute sie in alle Länder“, so dass sie nicht mehr in der Lage waren, ihr Bauvorhaben durchzuführen.

 

Und in den neutestamentarischen Offenbarungen des Johannes wird Babylon als „die große Hure“ bezeichnet, die „Mutter aller Greuel auf Erden“ sei (Offb. 17). Bei den Offenbarungen des Apostels Johannes handelt sich um den Schlüsseltext christlicher Apokalyptik, also jener Vorstellungen vom Endkampf zwischen „Gut“ und „Böse“, bevor das tausendjährige Reich Gottes anbricht – und damit das Ende der Zeit.

 

In der Lesart der Rastafaris steht dieser Endkampf unmittelbar bevor, und der Gegner wird als „große Hure Babylon“ die westliche Zivilisation sein, die es zu besiegen gilt, bevor das Reich Gottes anbrechen kann.

 

Schon die Nationalsozialisten spielten auf dieses christliche Motiv an, als sie das Dritte Reich auch Tausendjähriges Reich nannten. Nicht nur die Bezeichnungen, auch die Feindbilder gleichen sich. In einem Lehrtext, der sich auf Rastafari-Homepages zum Thema „Babylon System“ finden lässt, heißt es:

 

Die unsichtbare Hand ist überaus gefährlich, denn diese Hand wird von den Massen nicht gesehen. Alle Regierungen in der Welt und alle ihre Führer werden von dieser unsichtbaren Hand ebenso kontrolliert wie die Kirche. Auch andere, die sich selbst Satanisten nennen und ebenfalls Schüler der Freimaurerei sind, folgen diesem besonderen Orden.
Freimaurerei ist eine religiöse und teuflische Bewegung, die sich für die dunkle Seite der Kräfte des Bösen stark macht, indem sie sich als karitative Organisation tarnt und so die gesamte Gesellschaft täuscht. [...]

Freimaurer sind Satans Helfershelfer die nach einem bestimmten Entwurf die verschiedenen Geschehnisse in der Welt planen, sei es auf internationaler, sei es auf nationaler Ebene. Nichts in dieser Welt, in den Nationen oder Städten geschieht ohne ihre ausdrückliche Zustimmung. Sie bestimmen über Kriege, Hungersnöte, Finanzen, Erziehung, Medien, Landwirtschaft, Wissenschaft und über die Familie. Sie sind Verwalter der weißen Vorherrschaft, die ein betrügerisches System ist, das aus Kolonialismus, Kommunismus, Faschismus und allen anderen [ähnlichen Ideologien] besteht sowie aus Apartheit.“
(Ras Archi: Babylon System. U. a. www.wildfiyah.com . Original in Englisch)

 

Im Folgenden zählt der Text die Mittel auf, derer sich die Freimaurerei angeblich bedient, um die Welt unter Kontrolle zu halten. An erster Stelle nennt er die Wirtschaft, die Armut und Ungerechtigkeit produziere, um die Menschen in Abhängigkeit zu halten. Es folgen Drogen und Alkohol, Medien, insbesondere das Fernsehen und Musik, womit Familien und Jugendliche beeinflusst würden, sowie die Mode.

Im Zentrum dieser „freimaurerischen Weltverschwörung“ sieht der Autor des Textes die USA. Als Nachweis genügt ihm die Feststellung, dass das amerikanische Verteidigungsministerium, das Pentagon, in fünfeckiger Form gebaut ist, das dem fünfeckigem Stern, dem sog. „Drudenfuß“ oder „Pentagramm“ als Symbol des Satanismus verwandt sei.

Sieht man davon ab, dass der Text aus afroamerikanischer Perspektive geschrieben ist und daher als Opfer dieser Verschwörung farbige Menschen in der ganzen Welt annimmt, dann tauchen in ihm all jene Stereotype auf, die so ähnlich bereits die nationalsozialistischen Demagogen umtrieben: (jüdische) Freimaurer, die mittels Kapitalismus, Ideologie und Medienkontrolle die Welt zu beherrschen trachten.

 

Tatsächlich muss man nicht lange suchen, um im Rastafari-Umfeld einschlägige Äußerungen zu finden. So beispielsweise beim Underground News Network, das die beiden Betreiber, die US-Amerikaner Ital Iman I und Da Ura I, auch als Rastafari Counterintelligence Watch (frei übersetzt: „Rastafari Spionageabwehr“) bezeichnen.

 

Hier finden sich neben sexistischen Ausfällen und rassistischen Beschimpfungen auch wüste Antisemitismen, bis hin zur Behauptung, Hitler selbst sei „Undercover-Jude gewesen, der benutzt wurde, die zionistische Sache voranzubringen“. Und ein anderer Text aus der Feder der beiden beschreibt „Babylon“ in offen rassistischer und sexistischer Manier:

 

Unzucht zwischen den Rassen und kultureller Vandalismus sind eine Versündigung an der Wahrheit. All die kleinen schwarzen Mädchen sind Närrinnen, die in den Ecken der verlorenen Stadtviertel der weißen Banditen-Kultur stehen und glauben, sie würden was losmachen und sie seien cool. Unsere verlorenen Schwestern brauchen uns, wie sie mit ihren gepiercten Bauchnablen, Mösen, Nippeln und Zungen zur klammheimlichen Freude der kulturellen Banditen [...] einander belecken. Babylon ist zum Käfig für jeden liderlichen und unreinen Vogel geworden. Wahrer Rastafari ist die Antwort, die Rastafari-Bewegung ist Gott, bereue und komm zu IHM!“
(Original in Englisch)

 

„Babylon niedersingen“ – Bob Marley und die Folgen

 

„Babylon“ als Metapher für einen „lebensfeindlichen“ (Welt)Staat und sein Wirtschaftssystem – für die westliche Zivilsation als solche –, fand über den Reggae Eingang in den popkulturellen Kanon. Reggae entstand als Mischung aus Ska, Rocksteady, Rhythm & Blues, Jazz und jamaikanischer Volksmusik Ende der 60er Jahre auf der Karibikinsel.

 

Das Rezept seines anhaltenden internationalen Erfolges liegt in dieser Mixtur aus Versatzstücken (damals wie heute) erfolgreicher Musikstile und dem folkloristischen Element, das als „ursprünglicher“ musikalischer Ausdruck einer ehemals versklavten und bis heute sozial benachteiligten Bevölkerungsschicht rebellische Authenzität zu beanspruchen vermag.

 

Reggae wurde zu dem Zeitpunkt erfolgreich, als man ihn als unangepassten Ausdruck Jugendlicher in den Ghettos amerikanischer und europäischer Großstädte wahrzunehmen begann. Zu diesem Ruf hatten in besonderem Maße der Jamaikaner Bob Marley und seine Band The Wailers (etwa: „Die Wehklagenden“) beigetragen. Ihr Song „I shot the Sheriff“ wurde 1974 in der Coverversion von Eric Clapton Nr.-1-Hit in den USA, und machte Marley über Nacht weltweit bekannt. Das 75er Album „Natty Dread“ enthielt den Welthit „No Women, no Cry“, das Album „Rastaman Vibration“ von 1976 erreichte Platz acht in den amerikanischen Album-Charts, und auch die folgenden Veröffentlichungen konnten sich international in den Charts platzieren.

 

Für seinen Erfolg wird Marley bis heute als „Prophet des Rastafari“ gefeiert, jedoch traten seine obskurantischen religiösen Vorstellungen mit zunehmender internationaler Bekanntheit in den Hintergrund, und ließen Raum für die Wahrnehmung des Reggae als aufmüpfige Stimme der Entrechteten und Unterdrückten.

Dazu beigetragen hatte Marley selbst, der seit Beginn seiner internationalen Karriere gegen „Babylon“ ansang, „Chant down Babylon“ – „Sing Babylon nieder“, nannte er einen Song 1979, „Babylon System“ (1979) einen anderen, in dem er „das Babylon System“ als Vampir beschreibt, der den „Leidenden Blut aussaugt“ und das „Volk betrügt“.

Reggae war und ist einer der wichtigsten Impulse für die Entwicklung schwarzer Musik, er beeinflusste die Soulmusik und stand Pate bei der Entstehung des Hip Hop. Die sog. Soundsystems, die als mobile Diskotheken über die Insel zogen, das MCing, also die Gewohnheit, die einzelnen Songs in bildreicher Sprache anzusagen, aus der sich im HipHop der Rap entwickeln sollte, und nicht zuletzt die typischen Reggae-Beats – all das fand Eingang in den HipHop und prägte ihn.

 

Auf diesem Weg gelangte die Metapher vom „Babylon“ ins popkulturelle Bewusstsein. Gerade im HipHop, der als urbane Jugendkultur afro-amerikanischer Jugendlicher in sozial schwächeren Vierteln us-amerikanischer Großstädte entstand, ist die Rede vom westlichen System als „Babylon“ virulent. Seine Ursachen hat das nicht zuletzt darin, dass man sich hier wie dort als „Opfer“ eines ungerecht empfundenen Wirtschaftssystem sieht.

 

Wie sehr das auch in der Bundesrepublik im Mainstream angekommen ist, illustriert vielleicht am besten ein Song aus der Feder des Mannheimer Popmusikers Xavier Naidoo und seiner Band Söhne Mannheims mit dem Titel „Babylon System“, in dem es zu einer hitparadentauglichen Mixtur aus Soulmusik, Pop und HipHop heißt:

 

Nenn mich ruhig einen Staatsfeind
Denn ich weiß nicht, ob er es gut meint.
Oh Mann, ich gönn ihm seine Auszeit
Damit die Steuerlast mal ausbleibt
Und man die Scheisse aus ihm raustreibt!
Denn jeder Staat
außer dem Ameisenstaat
ist mein Feind.
Hier ist jeder gemeint
Kommunisten-, Nationalisten-, Kapitalistenschwein
Es tritt ein Ende ein
[...]
Ich guck der Hure Babylon nicht gerne unter den Rock
Ich bin sicher wir werden sehen,
wie sich die Dinge für immer drehn.
Denn die Tage sind gezählt,
dann stirbt das Babylon System.“
(Söhne Mannheims: Babylon System. Noiz 2004)

 

Freilich soll hier nicht nahe gelegt werden, Xavier Naidoo, die Söhne Mannheims oder Mellow Mark seien Rechtsextremisten oder würden mit ihnen sympathisieren. Jedoch offenbart erneut ein Blick auf offen rechtsextreme Textproduktionen das Dilemma von Äußerungen im jugendkulturell-rebellischen Ton, die sich nur im politischen Ausgangspunkt ihrer Urheber von denen neonazistischer Autoren unterscheiden, sich jedoch inhaltlich nahe kommen.

Denn in dem Maße, in dem Reggae und HipHop international im Mainstream ankamen und die Metapher „Babylon“ popularisierten, löste sie sich auch von ihren ursprünglichen religiösen Bedeutungen im Rastafari. Übrig blieb eine antikapitalistisch formulierte Protesthaltung mit deutlich antisemitischen Untertönen.

 

Das neonazistische Bandprojekt Sturm 18 (lies: „Sturm Adolf Hitler“) benannte 2002 einen Song nach der Stadt „Babylon“ und prangert in ihm Überfremdung, Zustände wie in „Sodom und Gomorrha“ und „Knechtschaft“ an, unter die das „deutsche Volk“ angeblich von den „Erben Zions“, also den Juden, geworfen sei. Im April 2005 erschien das zweite Album der Brothers Keepers, eines Projekts afro-deutscher Musiker, das sich gegen Rassismus wendet. Auch der Bandleader der Söhne Mannheims, der bekennende Rastafari Xavier Naidoo engagiert sich hier.

 

Seine Musik ist weit davon entfernt, rechtsextrem zu sein, jedoch zeigen die Beispiele die Notwendigkeit kritischer Auseinandersetzung mit einzelnen Hintergründen und gängigen Textfiguren, wie die vom „Babylon“. Denn wo Inhalte sich rechtsextremen Positionen annähern, dort geraten Rechtsextremismus und Neonazismus zur popkulturellen Beliebigkeit.