Archiv Soziale Bewegungen in Freiburg: Das Gedächtnis der Protestbewegung

Erstveröffentlicht: 
28.12.2014

Das „Archiv für Soziale Bewegungen“ in Freiburg sammelt und archiviert Dokumente zu Protestbewegungen vor 30 oder 40 Jahren. Erstmals wird die Arbeit des 1983 gegründeten Archivs mit einem Landeszuschuss von 25.000 Euro gewürdigt.

Von Heinz Siebold 

 

Freiburg - Das Heute ist die Geschichte von morgen. Aber wer sammelt die Flugblätter, wer archiviert die Bilder? „Was heute tausende von Menschen auf die Straße treibt, kann morgen schon vergessen sein“, seufzt Volkmar Vogt. Der 63-Jährige will genau das verhindern. Jedenfalls in Bezug auf die politischen Regungen und Bewegungen, die es vor 30 oder 40 Jahren in und um Freiburg gab. Und da war nicht wenig los: Der Kampf gegen die Straßenbahnpreiserhöhungen 1968 führte Schüler, Lehrlinge und Studenten zusammen und setzte mit Sitzblockaden neue Aktionsmaßstäbe. 

 

In den 70er Jahren pilgerten die städtischen Protestierer scharenweise aufs Land, um den Bauplatz für das geplante Atomkraftwerk in Wyhl nördlich des Kaiserstuhls gemeinsam mit den Winzern zu besetzen, in den 80er Jahren kamen dann leer stehende Häuser und Spekulationsobjekte in Freiburg an die Reihe.

 

Über Wyhl wird demnächst viel geschrieben werden, denn die Platzbesetzung jährt sich im Februar zum 40. Mal. „Aus Amerika, aus England, aus Japan – immer wieder kommen Studenten oder Doktoranten und wollen über Wyhl forschen“, staunt Volkmar Vogt. Sie können es, denn in Freiburg gibt es im 1983 gegründeten „Archiv Soziale Bewegungen“ das wohl reichhaltigste Material über den einzigen erfolgreichen Kampf gegen den Bau eines deutschen Atommeilers. Flugblätter, Broschüren, Protokolle, Fotos. Nachrichten aus einer längst vergangenen Zeit. Und es ist akkurat geordnet. Ohne dieses Material hätte es viele Dissertationen nie gegeben.

 

Moderne Methoden, trotz des altmodischen Flairs

 

Das in einer ehemaligen Eisengießerei residierende Archiv wirkt ebenfalls wie aus der Zeit gefallen. Drei Stockwerke mit dem Charme eines früheren Asta-Büros sind voll mit Papier in Kartons, Regalen, Ordnern. Doch das Flair täuscht: der Archivar Vogt und der EDV-Spezialist Michael Koltan (50) arbeiten mit modernen Methoden. Sie haben bereits CDs über die Fahrpreiskämpfe und Wyhl und sämtliche Ausgaben der „Freiburger Studentenzeitung“ der Jahre 1951 bis 1922 erstellt. Nach der Geschichte des „Autonomen Zentrums“ in Freiburg zwischen 1981 und 1985 wurde jetzt auch die längst verblichene Freiburger „Stattzeitung“ digital erfasst und erscheint im Frühjahr als CD. Die Heidelberger Zeitung „Carlo Sponti“ kommt danach.

 

Die ersten Archivalien stammten Anfang der 80er Jahre aus der Auflösung der „Gewaltfreien Aktion Freiburg“, danach sprach sich das Archiv als Adresse für persönliche Sammlungen herum. Besonders fleißig hatten ein paar ehemalige Maoisten Belege gesammelt, während die Moskautreuen ihre Papiere wohl immer noch bei sich im Keller lagern. Grundsätzlich ist das Archiv eher den sogenannten Spontis unter den Linken verbunden. Aus den „Bewegten“ aller Lager sind heute häufig Rechtsanwälte, Journalisten, Ärzte oder Steuerberater geworden, einige auch Stadt- oder Gemeinderäte, Landtagsabgeordnete, Bürgermeister, oder Minister(präsidenten).

 

Manche Aufrufe wurden einfach in die Tonne getreten

 

Das Archiv kennt nicht alles, aber sehr viel über die Häuserkämpfe, die Graswurzel- und Studentenbewegungen sowie die Frauenbewegung, nicht nur aus Freiburg, auch aus Heidelberg und Tübingen. Im vordigitalen Zeitalter wurden Aufrufe noch gedruckt, doch die fliegenden Blätter verschwanden irgendwo, wurden auf dem Marsch durch die Institutionen von erfolgreichen Ex-Linken verschämt entsorgt oder bei der Auflösung von Wohngemeinschaften schnöde in die Tonne getreten. Manchmal kommen Volkmar Vogt und Michael Kontan noch gerade rechtzeitig und klauben die Blätter wieder heraus. Gegründet wurde das Archiv, weil „die Bewegung“ nicht zu Unrecht argwöhnte, dass „der Staat“ – und dazu gehörten ja auch staatliche Archive – keinerlei Interesse an den alternativen Bewegungen haben würde. 30 Jahre später arbeiten das Freiburger Stadtarchiv, das Staatsarchiv Baden-Württemberg und das Archiv Soziale Bewegungen zuweilen friedlich zusammen. „Ein Archivverbund wäre eigentlich dringend nötig“, sagt Volkmar Vogt. Die staatlichen Archive müssen riesige Aktenberge von Verwaltungen und Regierungen übernehmen, ohne dass für die Arbeit mehr Personal zur Verfügung gestellt wird. Auch Stadt- und Staatsarchivar arbeiten mitunter unter sehr prekären räumlichen und personellen Bedingungen, die gesellschaftliche Wertschätzung für ihre Leistung ist gering.

 

Das Archiv Soziale Bewegung hat sich – gerade durch das aufopferungsvolle Engagement seiner Archivare – Respekt verschafft: Zum ersten Mal darf es jetzt im Landeshaushalt verbrieftes „Staatsgeld“ in Anspruch nehmen: 25000 Euro - immerhin der Betrag, der fehlt, um über die Runden zu kommen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Edith Sitzmann, und die SPD-Abgeordnete Gabi Rolland – beide aus Freiburg – haben sich für das Archiv eingesetzt und Clemens Rehm, Abteilungsleiter beim Landesarchiv Baden-Württemberg attestierte in einem Gutachten den Freiburgern gerade wegen ihrer „emotionalen Staatsferne“ großen Erfolg bei der „Sicherung sonst unwiderruflich verlorener Zeitdokumente“. Schließlich hätten „die sozialen Bewegungen“ ja auch „eine erhebliche Wirkungs- und Gestaltungskraft“ in der Geschichte der Bundesrepublik entwickelt.“

 

Ein Förderverein samelt für den Unterhalt des Archivs

 

Das Archiv Soziale Bewegungen wird von einem Förderverein getragen, der seit dem Jahr 2006 besteht und jedes Jahr rund 10 000 Euro für den Unterhalt des Archivs sammelt. Die Stadt Freiburg gibt einen Zuschuss von 30 000 Euro, das Land Baden-Württemberg erstmals seit diesem Jahr 25 000 Euro. Aus den Einnahmen werden Miet-, Sach- und Personalkosten getragen, das Archiv ist in der „Grether-Fabrik“ beim „Mietshäuser-Syndikat“ untergekommen. Das Archiv verfügt über an die 200 000 Flugblätter, etwa 5000 Broschüren, 1500 Zeitschriftentitel, 4000 Plakate, 150 Filme, 600 Tonträger, 1000 Fotos, Buttons, Postkarten, Aufkleber – zumeist stammen sie aus Nachlässen von „Alt-68ern“ und ehemaligen Aktivisten. 10 250 Dokumente mit 40 000 Seiten sind digitalisiert.