Die Mentalität deutscher Bleiberechtsregelungen

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Die etwas mäßig besuchte Veranstaltung „In der Geiselhaft der Staatsräson – Perspektiven langjährig geduldeter Flüchtlinge“ Ende Oktober im Berliner Haus der Demokratie, wollte einerseits für das Schicksal der rund 100.000 „Geduldeten“ Flüchtlinge in Deutschland sensibilisieren und gleichzeitig klären warum bisher umfassende Bleiberechtsregelungen für sie scheiterten bzw. was zukünftige Bleiberechts-Kampagnen beachten müssen. Denn die nächste Runde, um in der Öffentlichkeit die Situation der Geduldeten anzusprechen, bietet sich voraussichtlich noch dieses Jahr. Seit April liegt der Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ vor und kann noch dieses Jahr verabschiedet werden.

 

Das Bündis gegen Lager Berlin/Brandenburg hat bereits Ende Februar 2014 auf der Konferenz No Border Last Forever in Frankfurt/Main mit dem Workshop „Im Dunkeln – langjährig Geduldete und MitwirkungspflichtverletzerInnen“ Interviewfragebögen vorgestellt und über eine neue Bleiberechts-Kampagne nachgedacht. Auf dieser Grundlage wurden in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg rund 30 Interviews mit langjährig Geduldeten durchgeführt. Die Auswertung zeigt, dass Geduldete ähnliche Erfahrungen machen: Ohne Perspektive fristen sie ein Leben in Lagern an der Peripherie. Stigmatisiert als MitwirkungspflichtverletzerInnen und mit Sanktionen am Leben gehindert, ausgetrickst von Behörden und isoliert vom Rest der Bevölkerung bleibt den meisten nach so langer Zeit nichtmal mehr der Kontakt ins Heimatland. Ein inhumaner und untragbarer Zustande, der für über 10.000 Menschen schon länger als 15 Jahre andauert.

Parlamentarische Initiativen für Bleiberecht
Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg hat angesichts des Referentenentwurfs systematisch untersucht welche parlamentarischen Anläufe es für die Legalisierung von Geduldeten seit 2004 gab. Sein Fazit: Weil ein Bleiberecht bisher immer an die Bedingung der „Mitwirkungspflicht“ geküpft war, konnte der Großteil der Geduldeten nicht profitieren. Denn sie sind ja meist in dem Duldungs-Status verhaftet, gerade weil sie nicht an ihrer eigenen Abschiebung „mitgewirkt“ haben und ihrer „Pflicht“ alle Hindernisse für eine Abschiebung (v.a. Beschaffung von Dokumenten) selbstständig aus dem Weg zu räumen, nicht nachgekommen sind bzw. ihnen das unterstellt wird. Sie werden als „MitwirkungspflichtverletzerInnen“ stigmatisiert, moralisierend als „Täuscher“ und „Sozialschmarotzer“ gebrandmarkt, und mit Sanktionen (Residenzpflicht, geringeres Taschengeld, Lagerpflicht, Arbeitsverbot, keine Integrationskurse, keine Möglichkeit von einer Härtefallkommission angehört zu werden usw.) täglich an ihren Status erinnert. Das Ziel der Sanktionen, die „Ausreisebereitschaft“ zu erhöhen, wird damit nachweislich nicht erreicht – vielmehr wird eine größer werdende Gruppe aus Prinzip am menschenwürdigen Leben gehindert.
Schon seit 1965 gibt es in Deutschland den Status der Duldung wenn tatsächliche Gründe einer rechtlich zulässigen Abschiebung zeitweilig entgegenstehen. Rechtliche Abschiebungshindernisse sind einerseits zielstaatsbezogen (z.B. Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention), andererseits inlandsbezogen (Trennung von Eheleuten und Eltern von Kindern). Tatsächliche Abschiebehindernisse und damit Duldungsgründe sind z.B. Reiseunfähigkeit (Krankheit o.ä.), der Herkunftsstaat verweigert die Aufnahme oder Passlosigkeit. Da die tatsächlichen Gründe temporär sein müssten, ist die Abschiebung für die Dauer ausgesetzt, trotzdem besteht die Ausreisepflicht und die Duldung begründet keinen ordentlichen Aufenthaltsstatus.
Dieses „zeitweilige“ führt dazu, dass die Intervalle der erneuten Prüfung der Abschiebebedingungen auch sehr kurz sein können. Manche Geduldete müssen sich täglich bei der Ausländerbehörde melden um ihre Duldung wieder um einen weiteren Tag zu verlängern.
Seit 2004 gab es vier Anläufe die Zahl der Geduldeten durch Bleiberechtsregelungen für bestimmte Personengruppen (z.B. „gut integrierte Jugendliche“), zu reduzieren. Alle Gesetzesinitiativen wurden als große Schritte in Richtung Humanität gefeiert. Erst im Nachgang fiel jeweils auf, dass nur wenige profitieren konnten, da die Bedingungen für die meisten nicht erfüllbar waren. Allen Regelungen gemein war auch die Ausnahme der „MitwirkungspflichtverletzerInnen“, die nicht profitieren sollten. Erstmalig 2013 wurde im Bundesrat „tätige Reue“ für MitwirkungspflichtverletzerInnen diskutiert, also die Möglichkeit ein Bleiberecht nach 8 Jahren zu bekommen wenn z.B. das Verschweigen der richtigen Identität im Asylverfahren nachträglich bereut wird. Ein Bleiberecht durch „tätige Reue“ sollte aber nur dann möglich sein wenn der Verstoß der Mitwirkungspflicht nicht kausal zum Abschiebehindernis führte. Dieser nicht gerade weitgehende Vorschlag wurde vom Bundestag abgelehnt. Das Resultat ist nun der im April vorgelegte Referentenentwurf, der die „tätige Reue“ zu einer Ermessensentscheidung der örtlichen Ausländerbhörde macht und all diejenigen ausnimmt, die in Konflikt mit dem Strafgesetzbuch geraten sind.

Destruktives „Steuern und begrenzen“
Die Zwickmühle zwischen Staatsräson („Leute die sich nicht an die Gesetze halten, sollen auch nach Jahrzehnten nicht von ihrer Renitenz profitieren“) und dem Bedürfnis von Flüchtlingen nicht abgeschoben zu werden, ist faktisch nicht auflösbar. Zumal der Staat mit dem Asylrecht auch noch versucht die Zuwanderung nach Deutschland zu steuern bzw. zu begrenzen. Dazu gehören dann die Erfordernisse des nationalen Arbeitsmarkts, die Belohnung von Integrationsbemühungen und Sicherheitsaspekte. So wird das grundsätzlich humanitäre Asylrecht durch lauter andere, dem Staat wichtige Dinge, pervertiert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch die bisherigen Bleiberechtsregelungen nicht etwa auf Humanität abzielten, sondern auf die „Nebenaspekte“ des Asylrechts. Einer dieser Nebenaspekte ist auch die geforderte Rechtstreue, die mit jedem Gesetz und der demonstrativen Einhaltung desselbigen, unter Beweis gestellt wird. Blockierer (allen voran die AG Rück im Bundesinnenministerium) eines bedingungslosen Bleiberechts für „MitwirkungspflichtverleterInnen“ argumentieren denn auch genau so: Ein Bleiberecht, gerade für diejenigen die ihrer Pflicht zur Mitwirkung nicht nachkommen, hätte eine destruktive Wirkung auf die gesamte Rechtsordnung, da das Signal ausgesendet würde, dass es sich lohnt den Pass an der Grenze zu vernichten und nicht mit den Ausländerbehörden zu kooperieren.
Tatsächlich ist es genau andersherum: Die aktuelle Gesetzeslage bestraft zwar die Nicht-Kooperativen mit dem Duldungs-Status und dessen Sanktionen – alle anderen jedoch, die weitesgehend kooperieren und die Bedingungen für ihre Abschiebung selbst herbeischaffen, werden für ihre Mitwirkung am Verfahren mit der eigenen Abschiebung belohnt. Auch das ein Patt, der sich offenbar rumgesprochen hat.
Nebenbei gibt es, gesellschaftlich und nicht nur rechtspolitisch betrachtet, auch noch wesentlichere destruktive Wirkungen, die sich eher aus der aktuellen Gesetzeslage ergeben. Wie ist beispielsweise die immer größer werdende Anzahl „Geduldeter“, also auf ewig zu Untätigkeit gezwungener und in Desintegration gehaltender Menschen, mit den Gewissheiten der Menschenrechte zu vereinbaren?
Nichtsdestotrotz arbeitet die AG-Rückführung im BMI fieberhaft an der öffentlichen Wahrnehmung dieser Problematik. Auch im Haus der Demokratie, nur vier Wochen vorher fand beispielsweise eine größere Amnesty-Veranstaltung mit Dr. Christian Klos (AG Rück, BMI) statt. Er schmetterte alle humanitären Argumente damit ab, dass es nunmal „Vollzugsdefizite“ bei der Umsetzung geltender Gesetze gebe. Demnach gibt es 143.000 Ausreisepflichtige, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreisen. Für ihn stellt sich das humanitäre Problem der Geduldeten eher als ein Problem der nicht erfolgten Abschiebung dar. Die will er beschleunigen, damit es nicht mehr zu dem inhumanen Duldungs-Status kommt. So eine umgekehrte und zynische Logik kann nur von Verwaltungsfachangestellten kommen.

Verallgemeinerbarer Einzelfall
Auf der Veranstaltung sprach auch ein langjährig Geduldeter aus Sachsen-Anhalt. Er kam 1998 nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde 2000 abgelehnt. Seit dem hat er den Duldungs-Status und lebte bis 2012 im Lager Möhlau (mittlerweile wegen der Zustände dort geschlossen). Die zuständige Ausländerbehörde hatte versucht ihn zur Kooperation zu bewegen indem ihm eine Arbeitserlaubnis und regulärer Aufenthalt versprochen wurde, wenn er u.a. seine Geburtsurkunde und Pass beibringen würde. Obwohl beides äußerst schwer zu beschaffen war und die Behörden seines Heimatlandes nicht kooperationswillig waren, legte ihm die Ausländerbehörde die Schwirigkeiten als persönliches Verschulden, als Verstöße gegen die Mitwirkungspflicht aus. Nachdem die Geburtsurkunde doch ihren Weg nach Sachsen-Anhalt gefunden hatte, wurde ihm klar, dass die Hoffnung auf eine Arbeitserlaubnis nur ein Trick war. Denn nun würde nur noch sein Pass fehlen um ihn abschieben zu können, so ließ ihn die Ausländerbehörde wissen. Daraufhin stellte er die Kooperation und seine Bemühungen ein. Er hatte die Wahl zwischen Duldung mit Sanktionen oder Abschiebung. Die Möglichkeit diese Wahl selbstständig treffen zu können wird den meisten Flüchtlinge nicht gewährt. Die Konsequenzen ihrer Mitwirkung am Verfahren werden ihnen nicht bewusst gemacht – sie werden schlicht hereingelegt um sie schneller wieder abschieben zu können. Während es im Strafrecht das Recht des Beschuldigten gibt sich nicht selbst belasten zu müssen, gibt es im Asylrecht faktisch die (Mitwirkungs-)Pflicht die eigene Abschiebung zu beschleunigen. Zudem einiges von dem was die Ausländerbehörden verlangen unmöglich und auch illegal ist (z.B. Versenden von Ausweisdokumenten).
Er bemängelte, dass das Schicksal der Geduldeten fast niemanden interessiere und keine Partei sich bisher für sie eingesetzt habe. Das Stigma, einen irgendwie unrechtmäßig erworbenen Aufenthaltsstatus zu haben, reicht tief in linke Kreise. Seit den 90er Jahren hat sich auf dem Gebiet nichts getan. Die Sanktionen, gerade wenn sie auf lange Zeit angewandt werden führen zu schwerwiegende persönlichen Problemen und psychischen Erkrankungen. Ihm sind viele „Geduldete“ bekannt, die so sehr darunter leiden, dass sie aus Scham den Kontakt zu ihren Familien abreißen lassen, ihre Zimmer nicht verlassen und nach ihrer räumlichen Flucht nun erneut vielmehr innerlich flüchten. Die meisten warten auf den Tod, obwohl sie als junge Leute nach Deutschland kamen.

Aus der juristischen Praxis
Philip Rusche, ein Rechtsanwalt aus Berlin der viele Geduldete vertritt, stellte daraufhin ein paar Probleme aus der juristischen Praxis vor. Der gängige Weg für einen ordentliche Aufenthalt aus dem Duldungsstatus heraus, sei die familären Bindung an Personen, die hier schon einen Status haben. Aber Heiraten ist für Geduldete zumeist unmöglich, wenn die Identität nicht bekannt ist oder es keinen Pass gibt. Die Anforderungen der Standesämter, sind ähnlich wie die der Ausländerbehörde – ohne Abstammungsnachweis und Geburtsurkunden geht nichts. Die Bedingungen für die bisherigen Bleiberechtsregelungen (z.B. stichtagsabhängig) seien schwer zu erfüllen und nachzuweisen. Gegen die Sanktionen könne gut vorgegangen werden, wenn der Verstoß der Mitwirkungspflicht angezweifelt wird und auch Belege (z.B. nachweisbare Bemühungen bestimmte Dokumente zu besorgen) dafür geliefert werden können. Dafür braucht es aber Kampfesgeist, den die meisten Geduldeten nach jahrelangem Dahinvegitieren verloren haben. Eigentlich brauche jeder Geduldete anwaltlichen Beistand – was ihnen aufgrund der Kosten aber verwehrt bleibt.
Die großen Hoffnungen nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe der Leistungen („die garantierte Menschenwürde darf migrationspolitisch nicht relativiert werden“) wurden nicht erfüllt. Die Praxis zeigt, dass sehr wohl und auch bis zur völligen Streichung der Leistungen „relativiert“ wird. 

Gegenstrategien
Auf juristischer Ebene ist im Einzelfall vielleicht was zu drehen, aber für mehr braucht es andere Gesetze. Auf europäischer Ebene wurde die Kettenduldung zwar gerügt, aber nur für die Flüchtlinge bei denen es keine Aussicht auf Veränderung gibt, da z.B. ihr Heimatland schlicht nicht mehr existiert. Der europäische Gerichtshof gibt den Hardlinern eher recht. Jeder Nationalstaat könne bestimmen wer auf seinem Territorium verweilt und wie lang.
Wie so oft wurde auch bei dieser Veranstaltung die öffentliche Meinung als einziges erfolgversprechendes Kampffeld adressiert. Die „innere Logik“ der Abschiebebehörden („Mitwirkungspflichtverletzer dürfen nicht profitieren“) muss in der Öffentlichkeit humanitär begründeten Widerstand hervorrufen, der nicht standortnationalistisch argumentiert („nur die, die uns nützen“). Dabei kann es hilfreich sein Politikern ihre Illusionen (z.B. Sanktion würden Ausreisebereitschaft fördern) zu nehmen und mit der Realität zu konfrontieren (Patt zwischen Staatsräson und den „Mitwirkungspflichtverletzern“).
Für das Schicksal der langjährig Geduldeten muss ein ebenso starkes Bewusstsein hergestellt werden, wie es in den letzten Jahren für andere Flüchtlingsgruppen gelungen ist. Der aktuelle Referentenentwurf und die parlamentarischen Debatten dazu, eignen sich sehr gut um sich einzumischen. Statt die „Vollzugsdefizite“ des BMI sollte sich die Öffentlichkeit mehr mit den Ursachen von Flucht und postkolonialen Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzen und Profiteure dieser Weltordnung hierzulande benennen. Und klar, muss es bei einer breiten Kampagne für ein bedingungsloses Bleiberecht langjährig Geduldeter auch praktische Solidarität geben.