Der rechte Buchautor, immer noch Mitglied der SPD, lässt wieder aufhorchen: als Gastredner der AfD. Schon meinen manche, der 69-Jährige könne als Vordenker der neuen Partei CDU und SPD das Fürchten lehren.
Von Klaus Wallbaum
Es sollte ein festlicher Abend sein, mit feinen Speisen, guten Getränken und einem außergewöhnlichen rhetorischen Leckerbissen: Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator in Berlin, Sozialdemokrat, Buchautor und Freund deutlicher Worte, hielt vor wenigen Tagen einen Vortrag in Bad Iburg bei Osnabrück. Die "Grenzen unserer Meinungsfreiheit" lautete sein Thema, Veranstalter war die noch junge Partei "Alternative für Deutschland" (AfD).
Nach wie vor gehört Sarrazin der SPD an - doch es gibt viele, sehr viele inhaltliche Überschneidungen mit den neuen Konservativen von der AfD. Hat die Partei, die gerade eine Reihe großer Erfolge bei Landtagswahlen verbucht hat, in ihm eine neue Leitfigur gefunden? Sarrazin selbst sorgt - nicht nur an jenem Abend in Bad Iburg - dafür, dass er im Gespräch bleibt. Viele Journalisten sind erschienen und so lästert er in Abänderung seines Programms über eine "links-grüne Meinungsdominanz". Das sitzt. Dann gibt er noch ein deftiges Interview, bekennt ganz unverblümt, dass er heute noch viel schärfer gegen die Ausbreitung des Islams schreiben würde - schärfer, als er es damals in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" getan hat.
Sarrazin, der Unruhestifter, eckt wieder einmal an. Drei Jahre ist es her, da hatte die SPD gegen ihn ein Ausschlussverfahren angestrengt. Weil der Nachweis von Parteischädigung schwer ist, endete das damals wie das Hornberger Schießen - nichts kam heraus. Riskiert er nun, da er wieder lauter wird, dass die SPD erneut gegen ihn vorgeht? Es dauerte jedenfalls nur wenige Stunden, bis die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi in einem Fernsehinterview auf Sarrazin einging. "Ich würde mich freuen, wenn er die Partei endlich verließe", sagte sie.
Auf die Nachfrage, ob man ein neues Ordnungsverfahren einleiten wolle, reagierte sie nicht. Das war wohl auch klüger so. Der ganze Vorgang ist überaus heikel - vor allem für die SPD. Sarrazin hat mehrere Bücher geschrieben und schon vor Jahren genau die Thesen vertreten, die heute besonders krass und deutlich von der AfD propagiert werden: Die Euro-Rettung sei zu riskant, die ungebremste Zuwanderung von Fremden nach Deutschland gefährde die Gesellschaft und die zu geringe Geburtenrate in der Bundesrepublik bedrohe die deutsche Kultur.
Im jüngsten Buch "Der neue Tugendterror" behauptet er, bestimmte Wahrheiten könnten nicht ausgesprochen oder geschrieben werden, sie würden totgeschwiegen. Das klingt so sehr nach dem Programm der AfD, dass deren Bundessprecher Konrad Adam gesteht: "Sarrazin passt sehr gut zu uns." Auch Hans-Olaf Henkel, früherer BDI-Präsident, habe erst nach langem Zögern den Weg in die AfD gefunden. "Vielleicht ist es ja mit Sarrazin auch so", meint Adam.
Der Buchautor sei ein "erfrischender Provokateur", der Debatten anstoßen könne. "Wir brauchen mehr von solchen Leuten." Derzeit ist nicht absehbar, wie intensiv AfD und Sarrazin ihren Flirt noch vertiefen. Der niedersächsische AfD-Landesvorsitzende Armin Paul Hampel, ein früherer Fernsehjournalist, hatte den prominenten Gast in Osnabrück begrüßt. Er sagt nun: "Ich habe ihm geraten, in der SPD zu bleiben. Die SPD hat doch ganz viele Leute, die so denken wie er - vor allem im Ruhrgebiet." Thüringens AfD-Vorsitzender Björn Höcke meint hingegen, Sarrazin eigne sich schon für die Rolle des "Vordenkers" der AfD.
Sarrazin selbst hat jüngst noch einmal auf seine gewohnt sarkastische Art die Frage beantwortet, wann denn seine SPD-Mitgliedschaft enden werde: "Dann, wenn die Unterschrift auf meine Sterbeurkunde gesetzt ist." Er denke im Leben nicht daran, die SPD zu verlassen. Dann aber gibt es immer wieder Andeutungen, die doch auf tiefe Sympathien für die AfD hinweisen. Vor Monaten etwa lobte Sarrazin öffentlich die "fachliche Kompetenz", mit der die AfD das Thema Euro-Rettung begleite. Eigentlich könnte ihm ja ein SPD-Ausschlussverfahren sehr recht sein, wäre es doch die Nagelprobe für die von ihm vertretenen Positionen.
Damals, 2011, hatte er hier prominente Fürsprecher auf seiner Seite - Leute, die vor seiner Ausgrenzung warnten, wie etwa der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi. Viele in der SPD meinen, die Partei brauche auch einen konservativen Flügel mit Leuten, die so denken wie Sarrazin. Außerdem lässt eine aktuelle Untersuchung der Uni Leipzig aufhorchen, wonach Positionen, die gemeinhin als "rechtsextrem" gelten, in allen Parteien (also auch der SPD) weiter verbreitet sind als gedacht. Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass die AfD zwar die Anziehungskraft des Neuen habe, die Mehrheit der Wähler mit einem geschlossenen rechtsgerichteten Weltbild allerdings würde CDU/CSU wählen (21 Prozent) und etwas stärker noch die SPD (24 Prozent).
Wenn die SPD nun Sarrazin herausdrängen würde, käme das offenbar bei nicht wenigen SPD-Wählern gar nicht gut an. So ist der SPD-Spitze derzeit wohl sehr daran gelegen, dass Sarrazins Wirken möglichst unauffällig bleibt. Die AfD hingegen hat das gegenteilige Interesse, und nicht nur deshalb, weil sie Streit in die SPD tragen und diese damit schwächen könnte. Die Präsentation von Sarrazin kurz nach den AfD-Erfolgen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen kann auch als geschickter Schachzug der AfD-Spitze interpretiert werden. Je stärker gerätselt wird, ob der Buchautor die neue Leitfigur der jungen Partei werden kann, desto mehr wird die Aufmerksamkeit von der Frage abgelenkt, wie sich die Gewichte in der AfD verlagern.
Bisher war Bernd Lucke die zentrale Figur der Partei, ein wirtschaftsliberaler Euro-Kritiker aus dem Hamburger Umland. Seit den drei Landtagswahlen nun fühlen sich andere gestärkt, etwa die sendungsbewusste Parteichefin aus Sachsen, Frauke Petry, und der selbstbewusste Brandenburger Landesvorsitzende Alexander Gauland. Gauland, Befürworter einer prorussischen Politik mit einer ausgeprägt skeptischen Haltung gegenüber der Vormachtstellung der USA, ist schon einmal mit Lucke, eher Befürworter der deutschen Westintegration, aneinandergeraten. Damals ging es um die Sanktionen gegen Russland. Aber was wird sein, wenn es um andere Fragen geht, wie das deutsch-amerikanische Freihandelsabkommen?
Es drohen weitere Konflikte - und bei ihnen geht es durchaus um die Frage, wer künftig das Sagen in der AfD haben wird. Noch wird Lucke in Teilen der Partei wie der große Vorsitzende verehrt. "Ohne ihn gäbe es uns doch alle nicht", sagt etwa Matthias Dorn, AfD-Vize aus Niedersachsen. Aber hat der Vorsitzende auch die Kraft, eine Herkulesaufgabe zu meistern? Nach den Landtagswahlerfolgen erlebt die Partei einen starken Zulauf neuer Mitglieder.
Zwar ist per Satzung grundsätzlich ausgeschlossen, dass ehemalige Angehörige der rechtsextremen NPD oder DVU aufgenommen werden. "Solche Brandmauern halten nicht immer", räumt aber Bundessprecher Adam ein. Daher hätten die Landesverbände die Aufgabe, jeden Mitgliedsantrag ganz strikt zu prüfen. Gleichzeitig arbeitet die Partei an einem Programmentwurf, der Mitte 2015 fertig sein soll. Stärker wirtschaftsliberal oder eher konservativ? Das bleibt offen. Thilo Sarrazin spielt hier keine Rolle. Noch nicht. Vielleicht wird die AfD ihn aber noch stärker umwerben - schließlich wird ihm schon jetzt eine starke Wirkung auf die Anhängerschaft der AfD zugeschrieben.