Polizeigewalt und grundrechtsbasierter Ungehorsam. Am Donnerstag, den 13. März 2014 fand früh um 9:00 Uhr am Amtsgericht Jena der erste Verhandlungstag gegen Thomas Ndindah wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte statt – der vorsitzende Richter Dr. Gerhard Litterst-Tiganele hatte hierfür 2 Polizeizeugen und genau eine Stunde Verhandlungszeit zur Erledigung vorausveranschlagt.
Die Ausgangsituation…
…des Verfahrens war die Festnahme eines Menschen zur Identitätsfeststellung. Da dieser jedoch die selbige Identitätsfeststellung dem Grunde nach ablehnte, eskalierte die Folgesituation im Beschluss der vollziehenden Polizeibeamten zur Festnahme. Zur Realisierung dieser Festnahme wiederum entschieden sich die festnehmenden Beamten dazu, den Widerstand des festzunehmenden Menschen durch Fixierung am Boden zu brechen, um so eine Immobilisierung mittels Fesselung erreichen zu können…
Die Vorgeschichte…
Beim Aktenstudium zur Vorbereitung auf diesen Prozess fiel auf, dass im Strafbefehl insgesamt 8 Zeugen (davon 5 Polizeibeamte) zum Sachverhalt benannt wurden, aktenkundig jedoch nur 3 Polizeizeugen nachvollziehbar waren. Zudem hatten offensichtlich Ermittlungen sowie Gerichtsverhandlungen zum ursächlichen Tatgeschehen gegen die festgenommene Person stattgefunden, die der Akte offensichtlich nicht beigefügt wurden. Zudem wurden in den Aussagen der Polizeizeugen weitere zivile Zeugen benannt, die allerdings nicht zur Sache vernommen worden waren. Diesbezüglich wurde am 24. Februar 2014 seitens der anwaltlichen Verteidigung des Angeklagten beim Richter Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 246 StPO gestellt und am 25. Februar 2014 bei der Staatsanwaltschaft Antrag auf Akteneinsicht in das Verfahren gegen den Festgenommenen gemäß § 475 beantragt. Auf Nachfrage am 6. März 2014 beschied Richter Litterst-Tiganele telefonisch, dass er eine Aussetzung des Hauptverfahrens nicht in Betracht ziehen könne, da es sich laut Aktenlage ja um „eine übersichtliche Angelegenheit“ handele und stellte dem Anwalt die beantragte Akte erst am 11. März 2014 zur Rückgabe am 12. März 2014 kurzzeitig und -fristig zur Verfügung.
Die Hauptverhandlung Teil 1…
Zur Freude des Angeklagten waren mehrere Prozessbeobachter aus verschiedenen sozial aktiven Zusammenhängen der Stadt Jena erschienen.
Nach der offiziellen Eröffnung der Hauptverhandlung entspann sich zunächst eine längere Diskussion um mögliche Zeugen des Tatgeschehens (die den Zuschauerraum dann hätten verlassen müssen) – insbesondere zur Person des Stadtjugendpfarrers Lothar König, der von den beiden geladenen Polizeizeugen in ihren Aussagen namentlich benannt, aber durch die Staatsanwaltschaft nicht als Zeuge befragt worden war, weil auch gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber wegen seines noch anhängigen Prozesses in Dresden vorläufig wieder eingestellt worden war. Als selbst auch in der Sache Beschuldigter kam er also als Zeuge der Verteidigung gar nicht in Betracht. Richter Litterst-Tiganele ließ dies umfänglich protokollieren.
Nach Verlesen der Anklageschrift durch den Vertreter der Staatsanwaltschaft Herrn Leicht intervenierte der Anwalt der Verteidigung mit einem erneuten Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wegen unvollständiger Aktenlage. Hieraufhin führte der vorsitzende Richter erneut und diesmal öffentlich aus, dass die vorliegende Aktenlage „eine übersichtliche Angelegenheit“ sei und dass fehlende Teile daraus bei zu vereinbarend später Terminierung des nächsten Verhandlungstages durchaus auch noch eingesehen werden könnten. Bis dahin könne man ja wenigstens die geladenen Polizeizeugen hören – alles andere würde sich dann auch später noch ergeben können.
Hierzu wurde auch die Stellungnahme des Vertreters der Staatsanwaltschaft Leicht eingeholt, welcher sich dem richterlichen Argument der ‚Übersichtlichkeit der Aktenlage‘ sogleich bemüht anschloss. ‚Er sei zwar nicht der bearbeitende Staatsanwalt der Anklage, aber schließlich sei man ja hier in Thüringen und nicht in einem anderen Bundesland‘ bemerkte er mit verschmitztem Seitenblick auf den anwesenden Lothar König, der in Dresden wegen schwerwiegenden, aufwieglerischen Landfriedensbruches anlässlich der „Dresden Nazifrei“-Demo von 2011 trotz aller Ermittlungs- und Verfahrensfehler noch immer angeklagt ist (hierzu: http://www.laika-verlag.de/allgemein/antifaschismus-als-feindbild). Sein erstes Fazit: er unterstütze es den Antrag abzuweisen.
Da der Anwalt der Verteidigung jedoch trotzdem auf der Nachvollziehbarkeit und Vollständigkeit der relevanten Aktenlage bestand, versuchte Staatsanwalt Leicht dann doch noch kurzfristig telefonisch zu klären, inwiefern Ermittlungs- oder Verfahrensakten zum ursächlichen Sach- und Tatbestand verfügbar wären. Hierzu ordnete Richter Litterst-Tiganele eine Verfahrenspause an.
In einem anschließenden juristischen Fachgespräch zwischen Richter, Staatsanwalt und Anwalt der Verteidigung wurde dann schließlich vereinbart, dass das Hauptverfahren ohne Aussetzung am 3. April 2014 um 10:30 Uhr fortgesetzt werden solle und die Akte des eingestellten Verfahrens gegen den ursprünglich Festgenommenen zur Aktenlage des laufenden Verfahrens hinzuziehen ist…
…die prognostizierte Stunde zu Verhandlungsführung wurde durch dieses Prozedere bereits deutlich überschritten…
Die Perspektive des Angeklagten zum bisherigen juristischen Geschehen…
Die Staatsanwaltschaft…
…benennt im Strafbefehl 8 Zeugen, gibt aber nur Aussagen von 3 Zeugen zur Ermittlungsakte. Alle diese 3 Zeugen sind Polizeibeamte – 2 davon waren unmittelbar am fraglichen Geschehen beteiligt und der dritte ist der bearbeitende Beamte der Strafanzeige des einen beteiligten Beamten. Aussagen der 5 weiteren Zeugen zur eigentlichen Sache sind mutmaßlich nicht vorhanden. Weitere zivile Zeugen, die in den Aussagen der beiden beteiligten Polizeibeamten namentlich benannt werden, wurden nicht in die Ermittlung einbezogen.
Aus der Ermittlungsakte geht eine Strafanzeige eines beteiligten Polizeibeamten wegen „gefährlicher Körperverletzung“ gegen meine Person hervor, deren gegenwärtiger Ermittlungsstand aus der Aktenlage nicht nachvollziehbar ist.
Am 30.8.2012 erging eine Vorladung seitens der Kriminalpolizeiinspektion Jena wegen „Gefangenenbefreiung u.a. am 12.7.2012“ zum 7.9.2012 mit Anordnung einer „kriminaltechnischen Registrierung“. Aus der Ermittlungsakte wird nicht ersichtlich, wann oder warum dieser Strafvorhalt ggf. aufgegeben worden sein soll bzw. wann und durch wen die angedrohte biometrische Datensatzerfassung ausgesetzt wurde.
Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren und den Hauptverfahren gegen den eigentlich Festgenommenen wurden der Ermittlungsakte nicht beigeordnet.
Die Staatsanwaltschaft ist als unabhängige Herrin des Ermittlungsverfahrens gemäß § 160 Absatz 2 StPO verpflichtet „nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln“ – diesem Gebot ist die Staatsanwaltschaft im hier vorliegenden Fall entsprechend der Aktenlage nicht einmal im Versuch nachgekommen. Im Angesicht der Tatsache, dass die Ermittlungsakte ausschließlich belastende Bestandteile von beteiligten oder ermittelnden Polizeibeamten enthält, gerät die Einlassung des Staatsanwalts Herrn Leicht, dass ‚wir ja hier in Thüringen sind und es hier nicht so wie in anderen Bundesländern zugehen würde‘ in ein doch eher fragwürdiges Licht. Vielmehr reiht sich diese geradewegs standardisierte Handhabung von Strafanzeigen durch gewaltsam agierende Polizeibeamte nahtlos in die gängige staatsanwaltliche Praxis im gesamten Bundesgebiet von Sachsen über Bayern bis Hamburg ein (http://www.amnestypolizei.de/aktuell/ taxonomy/term/5 2010/2011 – da sind die jüngeren Fälle aus Bayern und der Fall Lothar König und Tim H. aus Dresden noch nicht mit dabei).
Der Richter…
…unterschreibt den Strafbefehl und lehnt im Weiteren die Aussetzung des Hauptverfahrens ab, weil die Ermittlungsakte angeblich „eine übersichtliche Angelegenheit“ darlegt. Übersichtlich i.S. von eindeutig? Übersichtlich i.S. von schuldig ohne weitere gerichtliche Beweisaufnahme? Beweisaufnahme nur noch zur Feststellung von Geständigkeit und Reue?
Als Angeklagter fühle ich mich durch das Vorgehen des Richters einerseits in meinen Rechten im Hinblick auf eine umfängliche Ermittlung und Prozessvorbereitung und andererseits in Bezug auf eine anzunehmende Unschuldsvermutung bis zur Kenntnis aller notwendigen Beweismittel eingeschränkt („Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ AEMR Artikel 11 Abs. 1). Dieses sog. Rechtsstaatsprinzip ist eine der wichtigsten Forderungen, die an ein modernes Gemeinwesen gestellt werden muss und wird als Antwort auf den absolutistischen Polizeistaat begriffen. Es soll die Staatsmacht gemäß Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes („Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“) begrenzen (frei nach Wikipedia).
Nun ist das Amtsgericht Jena weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – doch vielleicht geschieht es gerade deswegen sehr häufig, dass dieses Gericht und auch der Richter Dr. Litterst-Tiganele sogenannte „kleinere“ Verfahren gerne mal ganz ohne Urteilsspruch einstellt, dafür aber dann doch Sanktionen wie Zahlungsauflagen verhängt (siehe z.B. http://jena.tlz.de/web/lokal/leben/detail/-/specific/Rentner-kritisiert-... oder der im Januar 2013 verhandelte „Fußstapfenprozess“ http://www.filmpiraten.org/2013/01/weise-farbkleckse-schlimmer-als-381e-... + https://www.akruetzel.de/?p=4526).
Ich als Angeklagter…
…sehe mal ganz unabhängig von der von Richter Litterst-Tiganele und der Staatsanwaltschaft vermuteten „Übersichtlichkeit“ der mir vorgeworfenen Widerstandshandlung gegen Vollstreckungsbeamte natürlich noch erheblichen Aufklärungsbedarf bezüglich der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der stattgehabten polizeilichen Maßnahme sowie zu einigen Aspekten der eingebrachten Beweismittel. Als Mediziner ist mein Betrachtungswinkel auf den Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“) mit Sicherheit ein anderer als der, der agierenden Polizisten – wobei ich natürlich auch die körperliche Unversehrtheit der Letzteren durchaus fest im Blick gehalten habe.
Hinzu kommt nach dem bereits erwähnten Artikel 20 Absatz 3 noch ein weiterer Absatz im gleichen Artikel des GG: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ … nun bin ich erst mal weit davon entfernt, den polizeilichen Ordnungshütern zu unterstellen, die verfassungsmäßige Grundordnung der BRD „beseitigen“ zu wollen, aber auch Polizeibeamte sind eben an „Gesetz und Recht gebunden“ (s. ebd.).
Die zu klärende Frage wird sein müssen, ob jene dieses auch tatsächlich und verhältnismäßig getan haben.
Nächste Prozesstermine:
Donnerstag 3. April 2014, 10:30 Uhr – Sitzungssaal (Ss) 1 und
Dienstag 15. April 2014, 9:00 Uhr – Sitzungssaal (Ss) 1
Über weiterhin solidarische Prozessbegleitung freut sich
Thomas Ndindah
Spenden zur antirepressiven Prozesskostendecken sind willkommen unter:
Förderverein The VOICE e.V.
Sparkasse Göttingen
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Stichwort: Antirepression
Video-Link : http://youtu.be/ifeDvzKTFDo