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Erstveröffentlicht: 
20.03.2014

Eine Familie mit behinderten Kindern ist in einer aussichtslosen Lage – ein ganz alltäglicher Grenzfall mitten in Europa. "Angst. Ich habe solche Angst. Nicht um mich, sondern um meine Kinder und meine Frau", flüstert der junge Tschetschene vor der zentralen Flüchtlingsaufnahmestelle in Polen. Die ehemalige Kaserne liegt mitten im Wald, knapp drei Kilometer entfernt von der nächsten Bahnstation in Debak-Nadarzyn bei Warschau. Er zupft an seiner blauen Winterjacke: "Die stammt noch aus Berlin. Da waren wir glücklich. Wir fühlten uns sicher, hatten keine Angst – bis zur Deportation."

 

Seit der Rückführung nach Polen vor ein paar Tagen ist die fünfköpfige Familie A. nach 15 Monaten Asylverfahren in Deutschland wieder in Warschau. Die Familie war aus der politisch nach wie vor instabilen Kaukasusrepublik Tschetschenien geflohen, nachdem der Bruder von Apti A. aus politischen Gründen ermordet worden war. Jetzt, erzählt der 30-Jährige, sei seine Frau völlig aufgelöst und in Panik. Die zweijährige Samira verweigere das Essen. Sie ist schwerbehindert, ebenso wie die vierjährige Marcha. Nur ihr Zwillingsbruder Ramson ist gesund. "Die Kleine sollte in der Charité operiert werden. Alles war vorbereitet. Die Ärzte sagten, sie werde danach laufen können." Er schlägt die Hände vors Gesicht: "Dann kam die Polizei und holte uns ab."

Bozena Myszak, die Leiterin des Flüchtlingsheims, bestätigt in einem Telefongespräch, dass das Herausreißen der schwerbehinderten Kinder aus ihrer sicher geglaubten neuen Heimat in Berlin ein Trauma bei der Familie ausgelöst habe. "Natürlich tun wir alles in unserer Macht Stehende, um den Flüchtlingen zu helfen. Aber machen wir uns doch nichts vor: Polen ist nicht Deutschland. Wir sind nach wie vor ein armes Land." Die Kinder würden ärztlich so gut betreut, wie es in Polen eben möglich sei. Sie schweigt vielsagend. Es ist allgemein bekannt, dass das Gesundheitssystem in Polen eines der schlechtesten in der EU ist. Auch polnische Staatsbürger fahren oft ins Ausland, um sich dort privat behandeln zu lassen, da Wartefristen auf eine Operation bis zu zehn Jahre lang sein können.

In den Augen des jungen Apti A. flackert Angst: "Mein Bruder wurde bereits ermordet. Ich werde der Nächste sein. Das weiß jeder bei uns. Was aber wird dann aus meiner Familie?" In einer kleinen Gaststätte unweit des Bahnhofs von Debak-Nadarzyn breitet er den Berliner Schwerbehindertenausweis und die medizinische Dokumentation der mehrfach hirnoperierten Samira aus. "Die Charité und die tägliche Physiotherapie haben unseren Kindern eine Tür in die Zukunft geöffnet." Der gelernte Lkw-Mechaniker lächelt, deutet auf das Bild einer niedlichen Vierjährigen. "Wir hatten ihr schon gesagt, dass sie eine Operation haben wird und viele Schmerzen aushalten muss. Aber dass sie am Ende laufen wird. Endlich laufen." Dann malt sich in seinem Gesicht Fassungslosigkeit. "Damit ist es jetzt vielleicht vorbei!"

Natürlich habe er gewusst, sagt Apti A., dass Deutschland nach dem Dubliner Abkommen das Recht hat, Asylbewerber in das erste sichere Drittland auf dem Fluchtweg abzuschieben, in diesem Fall also nach Polen. Er ringt nach Worten. "Hier in Polen bin ich sicher. Ich, nur ich. Aber es geht doch auch um die Kinder. Ich bin verantwortlich für sie. Keiner der Ärzte in Polen hat Samira und Marcha Hoffnung auf ein normales Leben machen können." Wäre die Familie 2012 in Polen geblieben, wäre Samira möglicherweise schon tot.

 

Die polnischen Ärzte hätten damals nichts unternommen, um den immer weiter anschwellenden Wasserkopf des Kindes zu behandeln. Und nun – nach der Abschiebung aus Berlin vor wenigen Tagen – sei er in Warschau sofort ins Krankenhaus des Innenministeriums gegangen. "Aber", zuckt er hilflos die Schultern, "von einer Fortsetzung der Therapien für die Kinder war keine Rede mehr. Die Mädchen haben seit Tagen keine Physiotherapie mehr bekommen, und Marcha wird – zumindest in Polen – niemals laufen lernen." Dabei ist dieses Krankenhaus das beste in Polen überhaupt.

Verantwortlich für die Rückführung der behinderten und schwerkranken Kinder nach Polen sind das Verwaltungsgericht Berlin und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Sitz in Nürnberg. Die Berliner Richter hatten mit Beschluss vom 25. November 2013 und vom 13. Februar 2014 festgestellt, dass in Polen "keine systemischen Mängel" im Asylverfahren vorlägen, die "zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung" führen würden. Auch die medizinische Betreuung der behinderten Kinder sei gewährleistet. Nach dieser richterlichen Feststellung hatten die Beamten des BAMF keine Bedenken mehr, die fünfköpfige Familie nach 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland zurück nach Polen zu schicken.

Den Richtern fiel dabei nicht auf, dass die kleine Samira 2012 zwar einige Wochen in einem polnischen Krankenhaus gelegen hatte, das lebensrettende Titan-Ventil, das bis heute das überschüssige Hirnwasser aus dem Kopf des Kindes ableitet, aber erst in der Charité eingesetzt wurde. "Die reibungslose Fortführung der in Deutschland erfolgten medizinischen Versorgung", so das Gericht am 25. November 2013, könne die Mitarbeiterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Polen sicherstellen.

Tatsächlich, so die Auskunft der BAMF-Pressesprecherin Christiane Germann, habe sich diese Mitarbeiterin bereits vom medizinischen Koordinator in Debak-Nadarzyn bestätigen lassen, dass die Familie in Warschau medizinisch betreut werde. Dies heißt allerdings nicht viel. Denn der medizinische Koordinator betreut alle Flüchtlinge in Debak-Nadarzyn. Er ist sozusagen die erste Anlaufstelle für sämtliche gesundheitlichen Beschwerden, verschreibt Rezepte und stellt Überweisungsscheine zu Spezialisten aus.

Wieder klingelt das Handy von Apti A., seine Frau ruft an. Sie ist mit den Kindern im Flüchtlingsheim zurückgeblieben. Ob alles in Ordnung sei?, will sie wissen. Er beruhigt sie zum wiederholten Mal. "Ich sitze in einer Gaststätte in Debak und komme gleich zurück." Sie sei, schwärmt er dann, die beste Ehefrau und Mutter, die man sich nur denken kann. Aber sie sei mit den Nerven völlig am Ende. "Uns macht die Angst zu schaffen. Was soll sie tun, wenn ich ins Gefängnis geworfen werde? Alleine wird sie niemals klarkommen. Das ist alles meine Schuld. Die Kinder, meine Frau, diese furchtbare Angst. Wo sollen wir noch hin? Es ist alles so völlig aussichtslos!"

MEDIZIN UND ASYL

 

 

 

Die meisten tschetschenischen Asylbewerber kommen über Terespol nach Polen und erklären bereits an der weißrussisch-polnischen Grenze, dass sie in Polen um politisches Asyl bitten wollen. Sie erhalten dann die Adresse der Zentralen Flüchtlingsaufnahmestelle in Debak bei Warschau und einen Hinweiszettel, wie sie das mitten im Wald liegende Heim finden. Dort erhalten die Flüchtlinge eine erste Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld. Sie werden einem Arzt vorgestellt, der entscheidet, ob ein oder mehrere Spezialisten zu konsultieren sind. Auch psychologische Betreuung wird vermittelt, wenn dies gewünscht wird. Da die meisten Tschetschenen das Land nach ein paar Wochen oder Monaten verlassen, um weiter im Westen noch einen Asylantrag zu stellen, werden nur selten längerfristige Behandlungen begonnen oder anderswo begonnene Therapien fortgeführt.