Heute sind wir alle ein neuer Mensch!

Über diese vier Tage werden noch viele Worte verloren werden. Jede Menge wird über sie geschrieben werden und sicher sind schon bombastische Analysen in Arbeit. Aber was ist in diesen vier Tagen wirklich geschehen?

 

Der Widerstand um den Gezi-Park hat unter ganz gewöhnlichen Menschen, also unter uns allen, die kollektive Fähigkeit entzündet, gemeinsam zu handeln und uns zu organisieren. Es war nur ein Funke … Wir sahen den Körper des Widerstands, wie er über die Bosporus-Brücke zu uns demonstrierte; wir sahen ihn, wie er ohne Angst vor der Gewalt der Polizei durch die Istiklal-Straße zog; wir sahen seine Arme und Beine in jeder und jedem, die oder der trotz des extremen Einsatzes von Tränengas sich darum bemühte, sich gegenseitig zu helfen; wir erkannten ihn in den Ladenbesitzer_innen, die kostenlos Essen an uns verteilten; in den Einwohner_innen, die ihre Häuser für die Verwundeten öffneten; in den freiwillig tätigen Ärzt_innen und in den Großmüttern, die als Zeichen des Widerstands die ganze Nacht über mit ihren Töpfen gegen die Fenster schlugen. Die Polizei führte einen regelrechten Krieg gegen uns; ihr gingen die Vorräte an Tränengas aus; sie hielt uns in Metro-Stationen gefangen und beschoss uns mit Gummigeschossen – aber sie konnte diesen Körper nicht zerbrechen. Weil der Körper des Widerstands, wenn er einmal entflammt ist, nur weitergehen kann. Und jetzt sind alle unsere Erfahrungen Teil eines kollektiven Gedächtnisses, das wie Blut durch seine Adern fließt. An eine einfache Tatsache werden wir uns immer erinnern können: Durch unser eigenes kollektives Handeln können wir unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen.

Wir können uns unser Leben wieder aneignen – und selber entscheiden, wo wir es leben wollen.

Die Reise, die in Gezi begann, nährte unsere Stärke und unseren Mut durch ihre Beharrlichkeit, Kreativität, Entschlossenheit und ihr Selbstvertrauen. Im Handumdrehen weitete sich der Widerstand vom Gezi-Park auf den Taksim-Platz aus, vom Taksim auf ganz Istanbul und dann auf das ganze übrige Land. Der Kampf für den Gezi-Park wurde zum Ort, an dem wir unsere gesamte Wut ausdrücken konnten auf alles, was uns davon abhält, selber zu entscheiden, wie wir die Stadt leben wollen. Nach diesem Ausbruch der Wut, nach diesem Erlebnis der Solidarität wird nichts mehr so sein wie zuvor. Wir haben es nicht nur gesehen – wir haben es zusammen gemacht. Wir haben gesehen, wie unsere eigenen Körper von einem Funken entflammt wurden und den Körper des kollektiven Widerstands ins Leben gerufen haben. Der Kampf für den Gezi-Park hat einen Aufstand der Jugend ausgelöst: Er wurde zum Ort und zu einer Bedeutung für ein oder zwei Generationen, die unter Regierungen der AKP aufgewachsen sind und die mit Recep Tayyip Erdoğan ein autoritäres Herrschaftsmodell verbinden. Es sind die Kinder der Familien, die im Namen großer Gentrifizierungspläne aus dem Stadtteil Tarlabaşı vertrieben wurden. Es sind die Arbeiter_innen, die im Namen der Produktionskostensenkung und der Privatisierung von Betrieben ihre Jobs verloren haben. Alle Kämpfe der Zukunft werden von diesen Generationen bereichert werden.

Der Kampf für den Gezi-Park und um den Taksim-Platz hat neu definiert, was öffentlicher Raum bedeutet. Die Wiederaneignung des Taksim hat die Hegemonie der AKP erschüttert. Sie kann nicht länger entscheiden, was ein Platz für uns, die einfachen Menschen, bedeuten soll. Denn jetzt ist der Taksim das, was der Widerstand aus ihm machen will: unser öffentlicher Platz. Wir haben gesehen, welchen Widerstand ein einzelner Funke entzünden kann. Und jetzt wissen wir, dass wir dazu in der Lage sind, neue Funken zu entfachen und neue Widerstandsbewegungen in Gang zu bringen. Wir haben ein Gespür für unsere kollektive Macht gegen die Enteignung unsere commons, unserer Gemeingüter, gewonnen, weil wir erfahren haben, wie sich Widerstand anfühlt. Wir werden von dem jetzt erreichten Punkt nicht zurückweichen. Denn wir wissen, dass wir mehr als einen Funken in uns tragen, mehr als nur einen Kampf – und dass es nur einen Augenblick braucht, damit ein einzelner Funke einen Brand auslöst.

Geschrieben am 2. Juni 2013

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