Protest gegen Sicherungsverwahrte: "In Insel steht der Rechtsstaat auf der Kippe"

Ortseingang von Insel: Etwa 450 Menschen leben hier, Mitte Juli 2011 kamen zwei hinzu - Sexualstraftäter, die aufgrund eines Gerichtsurteils aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden. Seither ist das Dorf in Aufruhr.
Erstveröffentlicht: 
04.06.2012

Von Julia Jüttner

 

In Insel protestieren Anwohner gegen zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter, die in die Gemeinde gezogen sind. Immer häufiger an ihrer Seite: Neonazis aus der Region. Sie versuchen, die Angst der Menschen zu instrumentalisieren - und bringen die Demonstranten in ein Dilemma.

 

Das hat ihnen gerade noch gefehlt. Zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter, in einer Gemeinde mit 450 Einwohnern. Und, als wäre das nicht schon genug, jetzt auch noch die Neonazis, die anreisen aus der Region, um gegen die Freigelassenen zu protestieren. Sie machen die Sache der Demonstranten scheinbar zu ihrer eigenen. Sie instrumentalisieren die Sorgen der Menschen in Insel, ihre Angst vor Hans-Peter W., 54, und Günther G., 64., beides Langzeithäftlinge, die im vergangenen Jahr hier hergezogen sind. Sie sollen weg, egal wohin, Hauptsache weg.

Die Neonazis aus der Region sehen das genau so. Mehrmals sind sie angerückt, um die protestierenden Anwohner zu unterstützen. Zuletzt am vergangenen Freitag, als sich zuerst - fast schon Tradition - eine Gruppe von etwa 50 Menschen nahe der Luise-Mewis-Straße positionierte, darunter Mitglieder der Bürgerinitiative Insel und weitere Anwohner des Dorfes, die lautstark ihren Protest zum Ausdruck brachten.

Nach Angaben der Polizei zeigten sich die Demonstranten auch gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten "verbal sehr aggressiv und provozierend". Vor dem Wohnhaus forderten Polizeibeamte die Teilnehmer des Protestzuges auf, den unmittelbaren Bereich vor dem Wohnhaus zu verlassen, da dort laut eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Versammlungen nur unter bestimmten Auflagen gestattet sind. Die Meute weigerte sich, Beamte mussten sie regelrecht wegschieben.

Kurz nach 23 Uhr marschierten Neonazis durch den Ort mit sieben Straßen. Sie wohnen nicht in Insel, aber hier wohnt der Feind, den es zu bekämpfen gilt. Die Polizei protokollierte: Vor Mitternacht tauchten sieben Personen auf, die versuchten, sich dem Wohnhaus von hinten anzunähern, in dem die Sicherungsverwahrten leben. Alle seien der rechten Szene zuzuordnen.

Am Sonntagabend versammelten sich erneut etwa 40 Bürger im Ort, um zum Wohnhaus der Männer zu gelangen. Die Polizei hat nun die Sicherheitsvorkehrungen verschärft: Der Bereich um das Wohnhaus herum ist mit Gittern abgesperrt, Beamte mit Hunden patrouillieren.

Hans-Peter W. und Günther G. können ihre Unterkunft kaum verlassen. Der Gang in den örtlichen Supermarkt gerät zum Spießrutenlauf. Ihr Leben in Freiheit unterscheidet sich kaum von dem im Gefängnis. "Sie können gern frei leben", sagt eine Anwohnerin. "Aber nicht bei uns." Eine andere sagt: "Lasst sie in Frieden! Keiner will solche Leute, aber irgendwo müssen sie eben leben."

Hetze im Netz

Für den kommenden Freitag hat der örtliche NPD-Kreisverband nun eine "weitere Demonstration" angekündigt, drei Stunden wollen die Rechten dann in der Nähe des Wohnhauses skandieren.

Eine Hatz droht. Hans-Peter W. hielt dem Druck schon einmal nicht stand. Vergangene Woche zog der 54-Jährige nach Chemnitz, doch schon nach drei Tagen kehrte er zurück nach Insel. Sein Aufenthaltsort war aufgeflogen, die NPD hatte sich vor dem Haus im Chemnitzer Stadtteil Bernsdorf formiert und im Internet Hetze betrieben.

In dem Chemnitzer Wohngebiet gehe die Angst um, verbreitete die NPD Sachsen-Anhalt auf ihrer Homepage. "Vor allem Frauen trauen sich nicht mehr abends auf die Straße, seitdem sie wissen, wer neuerdings in ihrer Nachbarschaft wohnt. Die Behörden versuchen zu beschwichtigen. Man kümmere sich um den Mann, heißt es. Doch die Bernsdorfer Anwohner beruhigt das nicht." Die Chemnitzer NPD-Stadträtin Katrin Köhler habe den Bürgerprotest unterstützt, feierte sich die Partei in einer Presserklärung. Kurz darauf eskortierte ein 24-köpfiges Polizeiaufgebot den ehemaligen Sexualstraftäter zum Bahnhof.

Und damit war Hans-Peter W. wieder dort, wo ihn ebenfalls keiner will: in Insel.

Die Stimmung sei kaum erträglich, sagt ein Anwohner. Diejenigen, die die verurteilten Straftäter aus dem Ort haben wollen, wollen nicht als Neonazis abgestempelt werden. Diejenigen, die sich mit den unliebsamen Neubewohnern arrangieren könnten, werden mundtot gemacht - oder gar bedroht.

Eine angespannte Situation wie geschaffen für die rechtsextremistische Szene. Im Landkreis Stendal gilt diese laut Verfassungsschutzbericht 2010 zwar als eher unstrukturiert, jedoch als gewaltbereit und subkulturell geprägt. Die Anhänger sollen gute Kontakte zur Szene in Brandenburg pflegen.

Das Engagement der Rechtsextremen im Fall Insel habe zugenommen, die Qualität seit dem Mob von Chemnitz sei inzwischen eine andere, sagt Eva von Angern, rechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt. Hans-Peter W. sei regelrecht vertrieben worden. "Damit ist das Signal klar: Holt Euch die Richtigen ins Boot!" Dabei handele es sich längst um ein gesellschaftliches Problem. "Die Bundesrepublik schaut auf uns, wie wir nun damit umgehen", so von Angern.

"Straftäter nicht ausschließen"

Ministerpräsident Reiner Haseloff bat Justiz- und Innenministerium, "alle erforderlichen Schritte zu ergreifen" für ein friedliches Miteinander in Insel und verwies auf den Artikel 1 des Grundgesetzes. Der CDU-Politiker sagte, er nehme die Sorgen der Einwohner von Insel ernst, fügte aber hinzu, dass ehemalige Sicherungsverwahrte unter Führungsaufsicht stünden und durch Bewährungshelfer begleitet würden. "Entlassene Straftäter stehen nicht außerhalb der Gesellschaft. Jeder Versuch, sie auszuschließen oder sogar aus unserer Mitte zu vertreiben, ist nicht hinnehmbar."

Bei einer rechten Unterstützungsaktion in Insel im Februar propagierte die NPD: "Nach Abstimmung mit der Versammlungsleitung informierte die Polizei, dass entgegen anders lautender Berichte der etablierten Medien die Teilnahme und Unterstützung durch sogenannte nationale Kräfte durch die Mehrzahl der Anwohner ausdrücklich erwünscht war." Die "Wutbürger aus Insel" hätten sich nur auf Druck durch eine Polizeikette von den nationalen Kräften trennen lassen. Die Taktik der Polizei sei klar: "Diese Bürger könnten ja plötzlich bemerken, dass national eingestellte Menschen keineswegs brutal und verroht sind, wie es die Systemmedien immer gern darstellen."

Im Rathaus der Hansestadt Stendal müht man sich, Neonazis fernzuhalten. "Die hat keiner gerufen, die will keiner haben", betont Sybille Stegemann, Sprecherin des Oberbürgermeisters. Auch die Bürgerinitiative in Insel habe sich deutlich gegen eine Unterstützung aus der rechten Szene ausgesprochen. "Wir können es nicht verhindern, aber wir haben das Vertrauen, dass sich Leute in ihrem Protest nicht an die NPD hängen."

Sebastian Striegel, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Magdeburger Landtag, sieht weniger ein rechtsextremes Problem als eine drohende Eskalation einer Gruppe von Anwohnern. "Das eigentliche Problem ist doch, dass 70 bis 80 Personen die Grundrechte außer Kraft setzen und Menschen vertreiben wollen", sagt Striebel. Er verstehe die Ängste der Anwohner, aber diese könnten nun mal nicht "mit Heugabeln und Fackeln" ihr Recht in die eigene Hand nehmen. "In Insel steht der Rechtsstaat auf der Kippe."

Hans-Peter W. und Günther G. haben im Alkoholrausch mehrfach Frauen vergewaltigt. Weil sie als Gefahr für die Allgemeinheit galten, wurden sie nachträglich zu Sicherungsverwahrung verurteilt. Aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte mussten sie im vergangenen Jahr entlassen werden. Nun werden sie rund um die Uhr bewacht - und beschützt.