Das rechte Auge

Soldaten stehen Wache während der Beerdigung von Walter Rathenau: Der deutsche Industrielle und Politiker wurde 1922 von Rechten ermordet.
Erstveröffentlicht: 
12.02.2012

Emil Julius Gumbel

Im Kampf gegen den Terror von rechts haben die deutschen Strafverfolger schon einmal versagt. Der Mann, der ihnen das Zahl für Zahl nachwies, hieß Emil Julius Gumbel. Deutschland hat es ihm nicht gedankt.

 

Sie nennen sich Jungdeutscher Orden, Stammtisch der Drei Gleichen oder Bund der Aufrechten und sehen sich als Verteidiger des Deutschtums. Sie beweinen den verlorenen Krieg, sie verachten Demokratie und Parlament, und selbstverständlich hassen sie die neue Republik. Sie wollen »Haß säen, Haß, heiligen, unausrottbaren Haß«, Hass gegen die Demokraten, die Intellektuellen, die Pazifisten, die Weltbürger, die Juden, die Sozialdemokraten, die Kommunisten, die Anderen. Skrupel haben sie keine. So heißt es in den Statuten der Terror-Organisation Consul, die auch hinter den Morden an Finanzminister Matthias Erzberger 1921 und Außenminister Walther Rathenau 1922 steht: »Es dürfen nur Männer in die Truppe, die entschlossen sind, keinerlei Hemmung in sich tragen und bedingungslos gehorchen, die brutal genug sind, rücksichtslos durchzugreifen, wo sie eingesetzt sind. [...] Kein Verhandeln, sondern Schießen und rücksichtslos Befehlen.«

 

Durch Hunderte Mordanschläge und weitere Attentate stürzen die rechten Terroristen Deutschland während der ersten Jahre der Weimarer Republik in einen wahren Bürgerkrieg. Zu befürchten haben sie wenig. Selbst wenn sie häufig im Untergrund operieren müssen, werden sie von verlässlichen Komplizen in Armee und Innenministerien mit den nötigen Informationen versorgt. Noch besseren Schutz aber bieten ihnen die Strafverfolgungsbehörden, die bereitwillig Verfahren verschleppen und Verdächtige verschonen, bis sie untergetaucht sind, und lässt sich eine Anklage nicht mehr vermeiden, dann treffen sie auf den verständnisvollen Respekt einer Richterschaft, welche die Täter nur im äußersten Notfall verurteilt. Die nationalkonservative Justiz agiert als treue Gehilfin des Terrors.

 

Ein durchschnittlicher Mord von rechts kostet vier Monate Haft und zwei Reichsmark Geldstrafe. So errechnet es 1920 mit nüchterner Sachlichkeit der junge Statistiker Emil Julius Gumbel. In akribischer Kleinarbeit hat er Gerichtsakten, Einstellungsbescheide, Zeugenaussagen und Presseberichte zusammengetragen und daraus einen Überblick über die politischen Morde in Deutschland seit der Revolution vom 9. November 1918 aufgestellt: von rechts weit über 300, von links knapp zwei Dutzend. Während selbst geständige Rechtsterroristen gute Chancen auf einen Freispruch haben, erwarten die Täter von links im Normalfall 15 Jahre Freiheitsstrafe oder gleich die Hinrichtung. Anfang 1921 veröffentlicht Gumbel die Ergebnisse seiner Recherche in dem Buch Zwei Jahre Mord, das 1922 erweitert unter dem Titel Vier Jahre politischer Mord erscheint.

 

Aber wer immer sich davon erschüttern lässt: Die politisch Verantwortlichen sind es nicht. Von diesem Ausmaß an Indolenz ist selbst Gumbel überrascht. Dabei hatte der junge Gelehrte in seinem Leben bereits Gelegenheit genug gehabt, sich von der Randständigkeit seiner Positionen in Deutschland zu überzeugen.

 

Geboren wird Emil Julius Gumbel am 18. Juli 1891 in München als erstes von drei Kindern; die Familie gehört einer Bankiersdynastie an und ermöglicht ihm eine sorglose Jugend. Liberal und weltoffen ist das Elternhaus; dass die Familie jüdischen Glaubens ist, spielt für den Heranwachsenden keine Rolle. 1910 legt er sein Abitur ab und beginnt in München ein Studium der Mathematik und Nationalökonomie, das ihn unter anderem in Berührung mit dem Mathematiker Alfred Pringsheim bringt (dem Schwiegervater Thomas Manns) und mit Lujo Brentano, einem der führenden Kathedersozialisten der Zeit. Noch im Juli 1914 lehrt Brentano, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen der Moderne einen Krieg unmöglich machten. Am 24. Juli wird Gumbel mit Bestnote zum Dr. oec. publ. promoviert. Eine Woche später beginnt der Weltkrieg.

 

Von 354 rechten Morden bleiben 326 ungesühnt

 

Für kurze Zeit teilt Gumbel den Enthusiasmus seiner Zeitgenossen, am 16. August meldet er sich freiwillig. Doch seine Begeisterung ist bald verflogen. Bereits im August fällt ein Cousin; tiefen Eindruck hinterlässt auch die Zerstörung Löwens durch die kaiserlichen Truppen, die in das neutrale Belgien eingefallen sind, um Frankreich von der Seite her anzugreifen. Die Verwüstung der flandrischen Universitätsstadt mit ihrer berühmten Bibliothek entsetzt die Welt, wird in Deutschland jedoch bis in die intellektuelle Elite hinein als aufgezwungene Notwehrmaßnahme abgetan. Gumbel dagegen ist nicht länger bereit, die deutsche Kultur an den Militarismus zu binden. Er beginnt, die Möglichkeiten einer internationalen Friedensbewegung zu sondieren. Wegen einer schweren Atemwegsinfektion wird er im Januar 1915 für zwölf Monate krankgeschrieben.

 

Im selben Jahr geht Gumbel nach Berlin und bezieht dort die Universität, wo er Kurse in Statistik belegt, vor allem aber studentischen Widerstand gegen den Krieg organisiert. Eine politische Heimat findet er im Bund Neues Vaterland, einer gemäßigt sozialistischen Friedensorganisation, wo er neben Ernst Reuter und Kurt Eisner auch Albert Einstein kennenlernt, bei dem er ein physikalisches Zweitstudium aufnimmt. Obwohl er von 1916 an als Flugzeugtechniker wieder Kriegsdienst leistet, tritt er öffentlich mit immer größerer Wirkung für Völkerverständigung und Pazifismus auf. Auch mehreren Interventionsversuchen des streng konservativen Universitätsrektors, des Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, hält der 25-Jährige stand und verteidigt unbeirrt seine Position.

 

Gumbel geht seinen Weg. Seit 1917 Mitglied der USPD und in Verbindung mit Karl Liebknecht und anderen führenden Radikalsozialisten, bleibt er auf der Seite der Reformkräfte, die sich nach der Flucht des Kaisers und dem Ende der Monarchie für eine verfassunggebende Nationalversammlung einsetzen. In zahllosen Reden, Vorträgen, Flugschriften und Zeitungsartikeln rechnet er mit den Eliten des alten Regimes ab, in deren Imperialismus er den wahren Kriegsgrund ausgemacht hat. Er übersetzt pazifistische Schriften von Bertrand Russell, wird Autor der Weltbühne. Kompromisslos kämpft er für eine Neuordnung des Beamtentums und eine Auflösung der alten Offizierskaste. Beides misslingt. Die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages werden von Anfang an unterlaufen, dem Beamtentum wird die Übernahme von der neuen Verfassung gewährleistet, die am 14. August 1919 in Kraft tritt.

 

Da ist Gumbel bereits dem ersten Anschlag auf sein Leben entkommen. Sein Engagement für den neuen Staat ist auch dessen Feinden nicht entgangen, ihr Hass gilt auch ihm. Im März 1919 besucht er eine Konferenz des Völkerbundes in Bern; zur selben Zeit erscheint in seiner Berliner Wohnung ein Offizier von der Garde-Kavallerie-Schützendivision – deren Mitglieder kurz zuvor Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet haben – mit zehn bewaffneten Männern, um Gumbel als »Schädling« standrechtlich zu erschießen. Als sie ihn nicht antreffen, plündern und verwüsten sie die Wohnung. Sämtliche Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, versanden im langmütigen Desinteresse der Behörden. Anfang 1920 wird Gumbel auf einer Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft von einem rechten Rollkommando blutig geschlagen.

 

Diese Erfahrungen schärfen seinen Blick und befeuern seine Empörung über das Versagen der deutschen Justiz. Hinzu kommt die tiefsitzende Prinzipientreue, mit der er sich gegen Ungerechtigkeit und Gewalt wendet, wo immer sie auftreten. Gerade das neue Deutschland soll sich der Welt als friedfertige Demokratie präsentieren; im Angesicht massenhafter Standgerichte und paramilitärischer Gegenkräfte jedoch ist an die Entwicklung einer freien demokratischen Kultur nicht zu denken.

 

Doch Gumbel will nicht nur protestieren. Statt flammende Leitartikel zu formulieren, will er kalte Fakten präsentieren. Er sammelt Zahlen, legt Tabellen an. Am Ende steht das Buch Zwei Jahre Mord, es erscheint 1921 im Verlag der Neuen Gesellschaft, Berlin.

 

Die rasche Folge der Auflagen – drei noch im selben Jahr – belegt den Erfolg des schmalen Bandes. Gumbel nutzt die Neuauflagen für Aktualisierungen und nimmt weitere Mordtaten auf, insbesondere die Attentate auf Erzberger und Rathenau. Die letzte Auflage (Vier Jahre politischer Mord) berichtet 1922 über 354 Morde von rechts und 22 von links. Von den rechten bleiben 326 ungesühnt, von den linken gerade einmal vier; im Falle eines rechten Mordes wird häufig nicht einmal ein Verfahren eröffnet.

 

Aber Gumbel belässt es nicht bei den Zahlen. Er publiziert darüber hinaus sämtliche ihm verfügbaren Namen der Täter, und zwar nicht nur die der Mörder am Tatort, sondern auch die der Befehlsgeber und Anstifter im Hintergrund. Sein eigener Name wird zu dieser Zeit noch immer auf rechten Todeslisten geführt. Die rechte Presse fällt geifernd über die »sozialdemokratische Tendenzschrift« und ihre »infame Lüge« her. Kurt Tucholsky hingegen nennt in der Weltbühne das Werk, was es ist: ein »Buch deutscher Schande«. Im Reichstag verlangt der SPD-Abgeordnete und spätere Justizminister Gustav Radbruch eine Untersuchung.

 

Gumbel selber wundert sich. Von seiner Arbeit, so teilt er Ende 1922 mit, habe er zwei mögliche Wirkungen erwartet: Entweder die Justiz halte ihn für einen Lügner und verfolge ihn wegen Verleumdung, oder sie schenke ihm Glauben und bestrafe die Mörder. Tatsächlich aber sei keine der beiden möglichen Reaktionen eingetreten.

 

Daran ändert sich nichts mehr, das Buch bleibt folgenlos. Im Mai 1922 legen Preußen, Bayern und Mecklenburg Berichte über politische Gewalt und ihre juristische Ahndung vor, das Reich verzichtet auf eine eigene Stellungnahme. Eine Denkschrift mit den drei Berichten wird zwar zusammengestellt, die Veröffentlichung von der Regierung aber verweigert – angeblich aus finanziellen Gründen. Gumbel erstreitet sich ein Exemplar und publiziert es 1924 auf eigene Kosten. In dürren Bürokratenworten rekapitulieren die Ministerialbeamten den technischen Ablauf der juristischen Verfahren. Widerlegt werden Gumbels Zahlen nicht.

 

Heidelberger Burschenschaftler fallen über ihn her

 

Obwohl nun als Sozialist und Demokrat bekannt, gibt er, wie Arthur D. Brenner 2001 in seiner Gumbel-Biografie ausführt, die Hoffnung auf eine Universitätskarriere nicht auf. Seine wissenschaftlichen Leistungen haben weithin Anerkennung gefunden, Anfang 1923 erhält er von der Universität Heidelberg die Venia Legendi für Statistik. Das liberale Heidelberg scheint tatsächlich für eine kurze Zeit Gumbels neue Heimat zu werden. Aber das Glück währt nicht lang. Auf einer Veranstaltung des »Nie wieder Krieg«-Ausschusses, den er mit Carl von Ossietzky und anderen Pazifisten gegründet hat, um jährlich des Kriegsbeginns zu gedenken, ruft er am 26. Juli 1924 zu einer Schweigeminute für die toten Soldaten auf, »die – ich will nicht sagen – auf dem Felde der Unehre gefallen sind, aber doch auf gräßliche Weise ums Leben kamen«.

 

Der Eklat ist da. Denn die Ehre, fürs Vaterland zu sterben, in Zweifel zu ziehen ist die schlimmste Beleidigung, die es in konservativen Kreisen gibt. Die Presse ergeht sich in immer schärferer Kritik an Gumbel; die bereits stark nationalsozialistisch infiltrierte Studentenschaft organisiert den Protest. Fünf Tage später leitet die Universität ein Disziplinarverfahren ein, das fast ein Jahr dauern wird; ihm folgt gleich ein zweites. Derweil nimmt Gumbel eine Einladung nach Moskau an, um für die Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe mathematische Aufzeichnungen von Marx zu transkribieren. Es wird ein kurzer Aufenthalt. Zwar hat Stalin noch nicht die Macht an sich gerissen, doch an ein Bleiben ist für Gumbel nicht zu denken.

 

Er kehrt zurück nach Heidelberg. Die Verfahren sind 1926 ohne Sanktionen beendet, dennoch hält die Fakultät ausdrücklich fest, Gumbel sei eine »ausgesprochene Demagogennatur«. Es gibt die Freundschaft mit Gustav Radbruch, sonst aber lebt er in Heidelberg völlig isoliert. Sein gesellschaftliches Leben spielt sich ganz in seiner Berliner Zweitwohnung ab, in der die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Franz Mehring, Erich Mühsam und Erich Maria Remarque, der Regisseur Erwin Piscator und der Jurist Robert Kempner ständige Besucher sind. Über diesen Kreis lernt er auch Marieluise von Czettritz kennen, die er 1930 heiratet; sie bringt einen neunjährigen Sohn mit in die Ehe.

 

Im selben Jahr tritt der »Fall Gumbel« in Heidelberg in die letzte Runde. Auf Vorschlag des Ministeriums soll er Ende 1930 zum außerordentlichen Professor ernannt werden, was angesichts seiner unbestrittenen Erfolge in Forschung und Lehre eine reine Formsache gewesen wäre. Aber das »Feld der Unehre« ist nicht vergessen. Die Fakultät protestiert, der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund ruft mit den Burschenschaften zum »Kampf um die Säuberung der Hochschulen« auf. Gut 2.000 aufgebrachte Bürger leisten dem Appell Folge, angeblich werden über 10.000 Unterschriften für Gumbels Entlassung gesammelt.

 

Die Affäre flammt auf und ebbt ab, bis ihr Gumbel selbst die entscheidende Wendung gibt. Auf einer internen Veranstaltung der Sozialistischen Studentenschaft spottet er in Anspielung auf den Hungerwinter 1916/17, für ein Kriegsdenkmal passe weniger »eine leicht bekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand« als »eine einzige große Kohlrübe«. Gumbel weiß, dass Nazi-Studenten anwesend sind, hält sich aber nicht zurück; er scheint der Auseinandersetzung überdrüssig geworden zu sein. Die Universität, sonst peinlich auf ihre Autonomie bedacht, beugt sich dem Druck, der längst offene Morddrohungen enthält: Am 5. August 1932 wird Gumbel die Lehrerlaubnis wegen »Unwürdigkeit« entzogen.

 

Ironie der Geschichte: Letztendlich rettet die Episode Gumbel das Leben. Denn im selben Jahr noch verlässt er mit der Familie Deutschland und geht als Gastprofessor an die Sorbonne in Paris. Gleich 1933 werden seine Schriften verboten, mit der ersten Ausbürgerungsliste verliert er die deutsche Staatsangehörigkeit. Das wüste Nazi-Pamphlet Die Juden in Deutschland widmet ihm 1935 ein eigenes Kapitel. Herausgegeben wird es vom Institut zum Studium der Judenfrage, das der 1931 in Heidelberg promovierte Jurist Eberhard Taubert im Auftrag von Propagandachef Joseph Goebbels gegründet hat; Taubert wird später noch viele Jahre lang CSU-Chef Franz Josef Strauß als Berater dienen.

 

Mit seinem radikalen Moralismus hat Gumbel es auch in Frankreich nicht ganz leicht, doch verbucht er die Zeit dort im Rückblick als »acht wunderbare Jahre«. Er setzt sich für eine einheitliche Volksfront gegen Hitler ein, versucht, die deutsche Exilwissenschaft gegen die Forschung des »Dritten Reiches« in Stellung zu bringen und beteiligt sich an der Gründung eines Bundes freiheitlicher Sozialisten.

 

Im Juni 1940 überrollt die Wehrmacht Frankreich. In einer atemraubenden Irrfahrt, immer in Hörweite zur Front, gelingt Gumbel mit der Familie die Flucht nach Marseille. Durch Einstein und die Rockefeller Foundation bekommt er eine Einladung in die USA und kann im August ausreisen, wenig später folgt die Familie. »Der Professor aus Heidelberg«, wie er sich selbst nennt, ist in Sicherheit.

 

In Deutschland erscheint kein Nachruf

 

Mehr aber auch nicht. Alle Hoffnungen auf eine Anstellung zerschlagen sich. Die New School of Social Research, New Yorks Exiluniversität, bietet ihm einen Lehrauftrag; auch wird er mit einem statistischen Forschungsprojekt betraut. Anfang 1945 läuft es aus. Für einige Jahre lebt er von Gelegenheitsgutachten. Eine Anstellung am Brooklyn College endet nach nur einem Jahr, weil er, enttäuscht über das Niveau seiner Studenten, einen ganzen Kurs durch die Abschlussklausur fallen lässt.

 

Obwohl mittlerweile US-Bürger, plant Gumbel, nach Deutschland zurückzukehren, doch will man ihn dort nicht haben. In Heidelberg lässt man durchblicken, dass man sich einer Anstellung widersetzen würde; nur die Freie Universität Berlin lädt ihn zu Gastprofessuren ein. Dauerhaft verbessert sich die Situation erst, als er 1953 Adjunct Professor an der Columbia University wird, dazu kommt eine Wiedergutmachungszahlung aus Baden-Württemberg, die ihm sein Freund Robert Kempner erstreitet. Er konzentriert sich ganz auf die Wissenschaft: 1958 erscheint sein mathematisches Hauptwerk, Statistics of Extremes, das große Beachtung findet – und die letzten Erinnerungen an den politischen Publizisten Gumbel verdrängt. Da ist er 67 Jahre alt.

 

Deutschland aber lässt ihn nicht los. Nach einem längeren Aufenthalt lobt er 1960 das »hervorragende Niveau« der Studenten, beargwöhnt die »autoritären Tendenzen der regierenden Christlich Demokratischen Partei« und beklagt das Schicksal der Menschen in der DDR. »Berlin«, schreibt er durchaus doppeldeutig, »ist der entzückendste und friedlichste Vulkan, den ich je betreten habe.«

 

Am 10. September 1966 stirbt Emil Julius Gumbel in New York an Lungenkrebs; eine letzte, begeisterte Rezension galt im März 1964 dem Buch eines unbekannten russischen Autors namens Alexander Solschenyzin, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch.

 

In Deutschland erscheint kein einziger Nachruf. Noch Anfang der achtziger Jahre sorgt die Forderung nach Rehabilitierung für erhebliche Unruhe an der Heidelberger Universität. Erst zu seinem 100. Geburtstag wird Gumbel von dem Historiker Christian Jansen mit einem biografischen Porträt und einer Auswahl aus seinen Schriften zurück ins öffentliche Gedächtnis gebracht.

 

Und das Auge des Gesetzes? Jacob Grimms Deutsche Rechtsaltertümer berichten 1828 von mittelalterlichen Gerichtsherren, die mitunter auf einäugigen Pferden dahergeritten kamen. Der Volksmund hat dies großzügig als Bereitschaft gedeutet, Gnade vor Recht ergehen zu lassen – eben ein Auge zuzudrücken. Im Einzelfall mag das durchaus angebracht sein. Seltsam nur, dass es immer das rechte Auge ist, auf dem die Justiz nichts sehen will.

 


 

Benjamin Lahusen

 

Der Autor lehrt Rechtsgeschichte an der Universität Rostock.