In der Nacht von Damaskus

Erstveröffentlicht: 
02.01.2012

Eine Reportage von Layla Haj Yahya

 

Plötzlich ein Schuss. Die Menge rennt wild davon. Weitere Schüsse fallen. Obwohl Beobachter der Arabischen Liga in Syrien sind, geht die Gewalt gegen die Aufständischen unvermindert weiter. Bericht aus einem verzweifelten Land.

 

Wer heutzutage noch Damaskus besucht, ist überrascht, wie normal hier der Alltag wirkt. In der lebhaften Innenstadt mit ihren pulsierenden Bazaren erscheint der Gedanke, dass in der Stadt Beobachter der Arabischen Liga gastieren, die brutale Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollen, fast unwirklich. Und doch ist etwas anders als zuvor: Die Menschen in den Cafés und in den Taxis reden über Politik. Zwar noch nicht mit lauter Stimme, aber auch nicht mehr im Flüsterton. In den Vororten finden allabendlich Demonstrationen statt, sterben täglich Protestierende.

 

Der Aufstand rückt näher an die Hauptstadt.

Ich erhalte einen Anruf, dass am Abend eine „Party“ in Harista steigen soll. Aktivisten holen mich ab und fahren mich in ein sogenanntes Safe House. Fünf junge Männer empfangen uns in einem Wohnzimmer, das hell mit Neonlampen beleuchtet ist. Die Vorhänge sind zugezogen, die Luft ist dick vom Zigarettenqualm. Ein älterer Mann kommt dazu, die anderen grüßen ihn respektvoll. Ahmad S.* ist einer der Anführer der Proteste in Harista, einem Vorort von Damaskus in dem die Arbeitslosigkeit und die Demütigungen durch die Sicherheitskräfte die Menschen auf die Straße treiben. Was sie von den Beobachtern der Arabischen Liga erwarten, frage ich. „Was können wir schon erwarten“?, antwortet Ahmad S. „Sollte die Mission nicht sofort ihre Arbeit einstellen, sobald noch eine Kugel abgefeuert wird? Jeden Tag sterben 20, 30, 40 Menschen. Das Regime hat das Abkommen nur unterschrieben, um Zeit zu kaufen.“

Ein junger Armeedeserteur serviert Tee. Einige verlassen die Wohnung nur für die abendlichen Demonstrationen, andere gehen tagelang nicht vor die Tür. Sie haben seit Monaten ihre Familien nicht gesehen und wechseln den Aufenthaltsort alle paar Wochen. Im Fernsehen läuft „Orient News“, ein Oppositionskanal, der von Dubai aus sendet. Er zeigt die Brutalität des Regimes ungefiltert. Es sind grauenerregende Aufnahmen, gefilmt mit Mobiltelefonen: Knochen, die unter den Stiefeln von Sicherheitsbeamten brechen, Rücken mit Spuren von Peitschenhieben, Kinder in Blutlachen.

Als ich frage, ob die Revolution weiter friedlich bleiben kann, lächeln die Männer. Niemand wolle Gewalt, und die Revolution sei tatsächlich lange friedlich geblieben, erklärt einer. „Aber das Regime bringt unser Volk um. Sie schießen auf Frauen, auf Kinder.“ Um sich dagegen zu wehren, um Waffen zu kaufen, fehle es jedoch an Geld. Ahmad S. zieht einen alten Revolver aus der Schublade unter dem Fernseher, Marke Mauser. „Wie sollen wir uns damit verteidigen?“, fragt er. Er steckt eine Patrone in die Revolvertrommel, dreht sie und lacht. „Die ist höchstens für russisches Roulette zu gebrauchen.“

 

Wir warten auf den Anruf eines Fahrers, der uns zu der Demonstration nach Harista bringen soll. Der Armeedeserteur schaut aus dem Fenster. Ahmad S. weist ihn zurecht. Ob er nicht verstanden habe, dass die Vorhänge geschlossen bleiben müssen, solange es draußen dunkel ist und Licht im Zimmer brennt. Schließlich kommt der Anruf. Ahmad S. springt auf, ein kleiner weißer Wagen wartet auf uns, Ahmad S. und der Fahrer tauschen Neuigkeiten aus: Wer ist heute verhaftet worden, gibt es Tote?

 

Der Fahrer kennt sich aus, er vermeidet die Militärcheckpoints und fährt stattdessen unter verlassenen Brücken her, durch Tunnel, in denen das Wasser steht, über dunkle Feldwege. Vom zentralen Platz von Harista hat sich bereits eine Menschenmenge in Bewegung gesetzt. Überall sind bewaffnete Männer der revolutionären Freien Syrischen Armee postiert. Obwohl immer mehr Aufständische versuchen, Waffen ins Land zu schmuggeln. sind die Männer der Freien Syrischen Armee, die aus der regulären Armee desertiert sind, bis jetzt die einzigen, die von Beginn an bewaffnet waren und auch mit den Waffen umgehen können.

 

Ich bin die einzige Frau und soll mich eng an meine Begleiter halten. Wenn mich die Demonstranten für eine Informantin halten, könnte ich Schläge kassieren. Ein junger Mann führt den Zug an. Auf Schultern getragen, singt er in ein Megaphon: „Nieder mit Baschar jetzt! Das Geschenk der Arabischen Liga an uns ist der langsame Tod!“

Vor der Kirche der kleinen christlichen Gemeinde von Harista hält der Zug an. Der Sänger ruft: „Christen hört, Christen hört! Wir wünschen euch ein geheiligtes Fest. Das syrische Volk ist eins, egal ob Muslim oder Christ. Wir sind eins, wir sind eins!“ Bis jetzt unterstützen die syrischen Kirchen offiziell das Regime, aus Angst vor islamischen Parteien, die an seine Stelle treten könnten. In der Opposition gibt es jedoch zahlreiche Christen. Meine Begleiter erklären mir, dass es wichtig sei, ihnen die Angst zu nehmen. „Das Regime hat ihnen jahrzehntelang eingebläut, dass nur es allein die Minderheiten schützen kann. In Wirklichkeit spielt es die Konfessionen gegeneinander aus und tut alles, um das Volk zu spalten.“

 

Kaum hat sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt, da fällt plötzlich ein Schuss. Die Menge rennt wild los, in alle Richtungen. Wir werden mitgerissen und verstecken uns hinter einem Auto. Weitere Schüsse fallen. Meine Begleiter zerren mich in ein Schuhgeschäft. Sofort gehen die Rollläden herunter. „Welche Größe soll’s denn sein?“, fragt der Verkäufer sarkastisch und bietet uns zur Beruhigung Wasser an. Auf der Straße ist es jetzt totenstill, aber hinter den Rollläden brennt Licht. Zehn Minuten später erhält der Begleiter von Ahmad S. einen Anruf. Drei Demonstranten sind durch die Schüsse verletzt worden, sechs oder sieben sind verhaftet. Die Party ist vorbei.

 

Wir müssen aus der Gegend verschwinden, denn jetzt schwärmen die Sicherheitskräfte aus. In einer Seitenstraße wartet ein anderes Auto auf uns. Ein Mitglied der Freien Syrischen Armee räumt eine kleine Barrikade für uns zur Seite, die aus nichts anderem als einem alten Sessel und einem Verkehrschild besteht, und weist uns den Weg. Dann läuft er schnell in die andere Richtung davon. Ein Mann setzt sich zu uns in den Wagen und lädt uns in sein Haus zum Tee ein. Muhammad U. ist Anführer des Lokalen Koordinationskomitees von Harista.

 

Als wir seine Wohnung betreten, fällt der Strom aus. „Das ist die Strafe für aufmüpfige Stadtteile“, bemerkt er. Seit Beginn der Proteste werden stundenlang der Strom abgestellt, die Telefonleitungen lahmgelegt, das Internet unterbrochen. Im dunklen Wohnzimmer hält seine kleine Tochter eine Taschenlampe über meinen Notizblock, damit ich schreiben kann. Sein 16 Jahre alter Sohn erzählt, wie die Sicherheitskräfte in seine Schule kamen, den Direktor verhafteten und eine Lehrerin ohrfeigten. Einem Schüler verbrannten sie die Hand am Ofen, um ihn dazu zu bringen zuzugeben, an einer Demonstration teilgenommen zu haben. Der Sohn von Muhammad U. selbst war wegen der Aktivitäten seines Vaters eine Woche im Gefängnis. Alle seine Brüder sind in Haft. „Wenn ein Regime wirklich an Dialog und Aufklärung interessiert ist, inhaftiert und foltert es dann unschuldige Angehörige und schießt auf friedliche Demonstranten, wenn Beobachter im Land sind?“, fragt er.

 

Tags darauf bekommen wir die Nachricht, dass in Duma, einem Vorort von Damaskus, ein Mitglied der Freien Syrischen Armee beerdigt wird und beschließen, das Begräbnis zu besuchen. Suleiman A., ein Aktivist aus Duma holt mich ab und gibt mir Instruktionen. „Ich werde gesucht, tot oder lebendig. Wenn wir angehalten werden, rede nur ich.“ Ich ziehe mir ein Kopftuch über, denn in Duma, einem besonders konservativen Viertel, verschleiern die Frauen sogar ihr Gesicht. Suleiman A. besitzt eine Lederfabrik und war Prediger, bis er 2005 seines Dienstes enthoben wurde, weil er in der Moschee von Demokratie sprach. Ich will wissen, wann er sich der Revolution angeschlossen habe. Direkt von Anfang an, am 15., antwortet er. Also zu Beginn des syrischen Aufstandes im März?, frage ich. „Nein“, antwortet er lachend, „am 15. Dezember zu Beginn der tunesischen Revolution.“ Er habe sofort verstanden, dass die Demokratiebewegung nicht vor Syrien haltmachen würde. Also schloss er seine Fabrik und setzte sich in den Untergrund ab. Seine Frau verkauft immer wieder etwas von ihrem Goldschmuck, um die Familie über Wasser zu halten.

 

Duma hat doppelt so viele Einwohner wie Harista. Obwohl die Einwohner von Duma nicht arm sind, kann man Unterentwicklung und Vernachlässigung durch den Staat deutlich sehen. Wir fahren durch illegale Siedlungen, hier finden die meisten Proteste statt. Die Stimmung auf der Beerdigung ist düster. Kurz nach unserer Ankunft formieren sich die jungen Männer zum Trauerzug. „Das Volk verlangt die Ausrufung des Dschihad!“ rufen sie. Suleiman A. ahnt, was ich jetzt denke. „Wir wollen kein islamisches Kalifat. Aber die Situation in Duma ist viel schlimmer als in Harista. Hier sterben täglich Menschen. Und dies ist nicht nur eine Demonstration, sondern eine Beerdigung.“

 

Seit Beginn des Aufstands hat das Regime Angst vor Beerdigungszügen. Heute müssen für Begräbnisse Dutzende von Dokumenten bei den Sicherheitsbehörden eingeholt werden, offiziell dürfen nur jeweils vier Männer einen Toten begleiten. „Ist das nicht seltsam. Wir beerdigen einen Märtyrer, der auf der Beerdigung eines Märtyrers erschossen wurden, der wiederum auf einer Beerdigung erschossen wurde“, sagt Suleiman A.

 

An meinem unbeholfen gewickelten Kopftuch sieht man mir deutlich an, dass ich nicht aus Duma stamme. Rasch bildet sich eine Traube von Männern um uns. Der Vater des Toten erzählt, wie sein Sohn von Sicherheitskräften verschleppt und leblos zu Hause abgeliefert wurde, mit einer zugenähten Wunde längs über seinem Oberkörper. Ein Mann zieht seinen Ärmel hoch, ein anderer macht die Schulter frei, sie zeigen Brandspuren von Elektroschocks und ausgedrückten Zigaretten. Jetzt fallen erneut Schüsse, wieder müssen wir rennen. Die Männer laufen hinter mir her und rufen: „Nicht vergessen, alles aufzuschreiben! Die Beobachter kommen nicht zu uns. Du musst alles aufschreiben!“

 

Es ist wieder Nacht geworden, und mein Begleiter will mich zurück nach Damaskus fahren. Es sei zu gefährlich, in Duma zu bleiben. Auf dem Weg versucht er mich zu überreden, in das Hotel der Beobachter der Arabischen Liga zu gehen und sie zu überzeugen, die Aktivisten aus Duma anzuhören. Die Arabische Liga habe nur eine Telefonnummer angegeben, und diese sei stets besetzt. Ich gebe zu bedenken, dass das Hotel sicherlich mit bis auf die Zähne bewaffneten Sicherheitskräften überwacht sei. Er seufzt und lacht. „Beobachter, die beobachtet werden. Was haben wir davon?“

 

In der Innenstadt fahren wir an Geschäften vorbei, Menschen sitzen in den Cafés und Restaurants und rauchen Wasserpfeife. Ich statte meinen letzten Besuch ab. Mit einer Gruppe von Studenten aus Idlib und Deraa, die sich in Damaskus verstecken, klopfe ich an einer Tür in einem modernen Apartmentblock. Ein junger, erschöpft aussehender Mann öffnet die Tür. Ramzi R. ist Mitglied des Exekutivkomitees des Revolutionsrats von Homs. Er pendelt zwischen seiner Arbeit in Damaskus und Homs und bereiste zudem mehrere arabische Länder, um für Unterstützung zu werben.

 

Der Revolutionsrat von Homs ist die am besten organisierte Gruppe im Land. Mit einer Art staatlichen Parallelstruktur versorgt er mehr als 10 000 Familien mit Medizin, Nahrungsmitteln und Kleidung. Ein Teil der Unterstützung kommt von der syrischen Muslimbruderschaft, ein weiterer von Geschäftsmännern und anderen Spendern. Er gießt uns Wein ein. „Wir brauchen dringend Hilfe, wenn wir nicht von den Muslimbrüdern abhängig werden wollen. Jetzt fangen auch salafistische Gruppen im Ausland an, Unterstützung anzubieten. So etwas können wir aber nicht gebrauchen.“ Er erzählt, dass die Armee in Homs in den Tagen, ehe die Beobachter ankamen, aus Panzern schoss. „Es war so, als wollten sie vor deren Ankunft alles niedermachen.“ Auch in Anwesenheit der Beobachter gab es Tote. Wie das möglich sei, frage ich. Homs ist eine große Stadt, antwortet Ramzi R. In einem Stadtteil könne völlige Normalität herrschen, während im nächsten Kriegsverbrechen begangen würden.

 

Die Aktivisten diskutieren untereinander. Bewaffnung ist das Thema, das alle beschäftigt. Sie sind der Meinung, dass das Volk nach bewaffnetem Widerstand rufen werde, wenn die Mission der Arabischen Liga die staatliche Gewalt nicht aufhalte. „Wir reden nicht gerne von Bewaffnung, denn wir brauchen internationale Unterstützung. Aber wenn die nicht kommt, sind wir auf uns allein gestellt.“

 

„Bürgerkrieg ist also unvermeidlich?“, frage ich. Sie wüssten nicht, wie alles enden werde, sagt der Student aus Deraa. Sein Kollege aus Idlib widerspricht. „Doch, wir wissen genau, wo es hingeht. Aber wir wollen es uns noch nicht vorstellen.“

 

* Alle Namen geändert