Nachdem NoBorder-Aktivist_innen am 10. April Filmmaterial (^1) von Polizeirazzien und Belästigungen durch die Polizei veröffentlicht hatten, hat sich die Situation in Calais innerhalb der letzten Wochen verschärft.
Durch die entstandene Aufmerksamkeit in den französischen Medien, bekamen die Migrant_innen zunächst eine kurze Verschnaufpause von der französischen Grenzpolizei (PAF: Police Aux Frontieres), die sich die Woche anscheinend frei nahm. Bald aber schlugen sie wieder mit aller Härte zu, mit einer groß angelegten Razzia am 21.04., die zu über zwei Dutzend Ingewahrsamnahmen führte. Unter den Festgenommenen befanden sich auch drei Aktivist_innen, die die polizeiliche Brutalität zu spüren bekamen und denen nun Gerichtsverfahren bevorstehen.
Eines der Videos, das innerhalb weniger Stunden tausendfach online angesehen wurde, zeigt die PAF in den frühen Morgenstunden beim Hineinfahren in das Africa House. Das Africa House ist ein verlassenes Fabrikgelände, das von etwa einhundert Menschen, die vornehmlich aus Sudan, Eritrea und Afghanistan geflohen sind, bewohnt wird. Die Beamt_innen scherzen und tanzen in dem Video zu lauter Musik, die aus den blinkenden Mannschaftswagen ertönt. (^2)
Andere Videos zeigen, wie Polizist_innen Kameras zerstören, Aktivist_innen schlagen und sexuell belästigen.
Diese Videos stellen allerdings nur einen kleinen Teil der systematischen Repression dar. Viele der schlimmsten polizeilichen Übergriffe auf Migrant_innen werden wahrscheinlich niemals gefilmt. Genausowenig können Videos die grausame Realität dieser pausenlos stattfindenden Belästigung durch die Polizei vermitteln: Ständige und wiederholte Personalienfeststellungen, Ingewahrsam- und Festnahmen, Razzien, Polizeigewalt, die Zerstörung von Behausungen und persönlichem Eigentum, die Kontaminierung von Essen und Trinken, öffentliche Demütigungen und psychologische Kriegführung.
All dies geschieht als Teil einer von den französischen und britischen „Grenzschützern“ vereinbarten Strategie, die darauf abzielt, sich von irregulären Migrant_innen im Bereich der Grenze zu entledigen, indem ihnen das Leben unerträglich gemacht wird.
NoBorder-Aktivist_innen haben seit dem NoBorder-Camp 2009 zusammen mit Migrant_innen gelebt und gearbeitet. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit ist seitdem das Filmen und Dokumentieren von Razzien und Übergriffen der Polizei. Die Aktivist_innen haben über die Jahre hunderte Stunden Filmmaterial, sowie Photographien, schriftliche Zeug_innenaussagen und weitere Beweismittel gesammelt. Es gibt noch einige “Videos der Schande”, die in Zukunft veröffentlicht werden könnten. Zur Zeit beraten sich Aktivist_innen mit Anwält_innen über die geschickteste Herangehensweise beim weiteren Präsentieren des Materials, möglicherweise als Teil einer Klage gegen den französischen Staat.
Das Africa House, das momentan die größte Ansiedlung von Migrant_innen in Calais darstellt, wird normalerweise so gut wie täglich von der Polizei attackiert, manchmal mehrere Male am selben Tag oder innerhalb derselben Nacht. Somit waren zehn Tage und Nächte ohne Übergriffe für die Bewohnenden eine echte Wohltat. Die CRS (französische Bereitschaftspolizei) drang zwar einmal kurz am Morgen des 13.04 in den hinteren Bereich des besetzten Geländes ein, suchte aber schnell das Weite nachdem ihr bewusst wurde, dass ein Journalist von Radio France an diesem Tag mit den Aktivist_innen Wache hielt. Sie brachen sogar eine Verhaftung ab, obwohl der betroffene Migrant keine Ausweisdokumente besaß.
Die jüngsten Stimmen aus der französischen Presse waren den Aktivist_innen überwältigend positiv gestimmt. Für alle die, die Anti-Immigrations-Einstellungen englischsprachiger Zeitungen wie z.B. der Daily Mail gewohnt sind, war dies eine große Überraschung. Nicht nur die Aktivitäten der Polizei wurden in den Vordergrund gestellt, sondern einigen Migrant_innen wurde sogar die Chance gegeben in überregionalen Medien ihre Geschichte zu erzählen. Ein Freund aus Darfur zum Beispiel sagte der Presse: “Ich habe mein Land wegen des Krieges verlassen, in der Erwartung in Europa Freiheit zu finden, stattdessen habe ich einen neuen Krieg gefunden.” (^3)
Natürlich sollte diese Auszeit nicht lange anhalten. Am 21.04 wurde das Africa House von fünf vollbesetzten Mannschaftswagen der CRS, sowie einigen PAF-Grenzpolizist_innen erneut angegriffen. Bei dieser Razzia um neun Uhr morgens kamen die Polizist_innen von beiden Seiten des Gebäudes und verhafteten mehr als zwanzig Menschen. In diesem Fall richtete sich die Gewalt allerdings vornehmlich gegen die anwesenden Aktivist_innen – insbesondere diejenigen, die die Geschehnisse filmten. Sie wurden brutal mitgerissen, über den Boden geschleift und verletzt. Eine Kamera wurde zerstört, eine andere wurde zeitweise entwendet um die Speicherkarte zu löschen. Vier Aktivist_innen wurden in Gewahrsam genommen und für neun Stunden festgehalten. Drei von ihnen müssen sich nun am 12. Juli wegen “gewaltsamen Widerstandes in einer Gruppe” und “Illegaler Besetzung” verantworten, was im deutschen Recht womöglich Widerstand gegen die Staatsgewalt und Landfriendensbruch entspricht.
Trotz des regelmäßigen Eingreifens der NoBorder-Aktivist_innen, wäre dies einer der wenigen Fälle, in denen die Obrigkeit tatsächlich versuchen würde Aktivist_innen für schwerwiegende Tatvorwürfe zu belangen. Auch in der Vergangenheit wurden Anklagen schon als Drohgebärde missbraucht, die Verfahren dann aber eingestellt. Die Polizei muss bei einem solchen Verfahren nämlich auch befürchten, dass ihr gesetzeswidriges Vorgehen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Dank der Beweismittel der NoBorder-Gruppe, die die Aktivitäten der letzten zwei Jahre dokumentieren, könnte sich ein Gerichtsverfahren wegen einer Razzia im Africa House für die Behörden als verheerend erweisen.
Ein NoBorder-Aktivist kommentierte diese jüngsten Repressalien letzte Woche in einer Pressemitteilung: “Dieses Vorgehen ist nichts weiter als eine manipulative Strategie, um das Image von NoBorder zu zerstören. Vor allem aber wird versucht uns Angst einzujagen und uns zu entmutigen, die Realität der Repression in Calais weiterhin zu dokumentieren und anzuprangern. Wir haben keine Angst! Wir sind dazu bereit vor Gericht zu ziehen und die Möglichkeit zu ergreifen, um diesen jüngsten politischen Prozess zu gewinnen.” (^4)
Außer diesem neuen Gerichtsverfahren wurden zwei weitere NoBorder-Aktivist_innen wegen Beamtenbeleidigung und in einem weiteren Fall wegen tätlichem Angriff auf einen Polizeibeamten angeklagt. Sie benötigen unsere Solidarität und Unterstützung, falls Bußgelder anfallen sollten.
In der Zwischenzeit, ungeachtet der Aufmerksamkeit der Medien und der Streitigkeiten in den Gerichtssälen, geht der Kampf in Calais weiter. Egal ob es um direkte Aktionen geht, oder einfache alltägliche Akte der Solidarität wie das gemeinsame Trinken eines süßen Becher Tees am Lagerfeuer, die Präsenz der NoBorder-Aktivist_innen ist ungebrochen! Wir entwickeln uns weiter und sammeln unaufhörlich Erfahrungen, um neue Herausforderungen anzugehen und um unseren Kampf weiterzuführen. Neue Gesichter, neue Hände, neue Augen und neue Köpfe sind stets herzlich willkommen:
Kommt nach Calais und unterstützt die Arbeit von Calais Migrant Solidarity!
^1 http://www.rue89.com/2011/04/10/harcelement-policier-a-calais-les-videos-qui-font-honte-199295
http://www.wat.tv/video/police-sous-objectif-no-border-3lo5r_2exyh_.html
^2 http://www.dailymotion.com/video/k5LysvbjDUIOsn233Bu#from=embed
^3 http://media.radiofrance-podcast.net/podcast09/11714-14.04.2011-ITEMA_20279885-0.mp3
^4 http://lille.indymedia.org/article25258.html