Er hat keinen Stein geworfen, niemanden verletzt. Trotzdem sitzt ein 18-jähriger G-20-Demonstrant seit vier Wochen in Untersuchungshaft. Ihn erwarte eine „empfindliche Freiheitsstrafe“, heißt es. Die Gründe erstaunen.
Als alles vorbei ist, die Wasserwerfer die Gruppe auseinandergespritzt hat und die Festnahmeeinheit ein paar Vermummte gefesselt hat, taucht ein schmaler Junge in grauen Hosen und Palästinenserschal am Bildrand auf. Im Polizeivideo ist zu sehen, wie er abseits d es Geschehens hin- und herschlendert, bis ihn ein Bereitschaftspolizist auffordert, sich zu einer Gruppe von ein paar anderen Demonstranten zu setzen. Sie sitzen da auf einem Bordstein, alles ist friedlich, jedenfalls jetzt, niemand protestiert.
Der junge Mann heißt Fabio V., stammt aus dem italienischem Dorf Belluno, arbeitet in einer Plastikfabrik und ist nach einem Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts jemand, der „die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Hamburg mitverursacht“ hat und dem „die Anordnungen der Polizeikräfte gleichgültig sind“.
Wenige Minuten zuvor hat die Kamera auf dem Dach des Polizeiwagens ganz andere Bilder aufgenommen. Eine Gruppe vermummter, schwarz gekleideter Menschen ist zu sehen, sie gehen geschlossen auf eine Gruppe Bereitschaftspolizisten zu. Dann fliegen Böller, Bengalos – und ein paar Steine. Es ist die Szene auf der Straße Rondenbarg in Altona, die die Kamera aufnimmt, und um deren Deutung gerade eine heiße Diskussion entbrannt ist: Sieht man dort „massiven Beschuss“ oder fliegen „nur“ ein paar Steine?
Ein Beamter untersucht alle Körperöffnungen
Der Einsatzführer Normen Großmann entscheidet, die Sache sofort zu beenden. Er schickt seine Leute nach vorne, die Beamten rennen dem schwarzen Block entgegen. Von hinten haben sich zwei Wasserwerfer an die schwarze Gruppe herangepirscht, die Polizei hat den Block in die Zange genommen. Die meisten fliehen nach links und rechts, dabei stürzen einige einen kleinen Abhang hinunter, neun Demonstranten verletzen sich. Fabio V. bewegt sich unter diesen Verletzten.
Die Polizei findet später auf der Straße verlassene Kisten mit einer Zwille, einem Stahlseil, weiteren Steinen, Benzin und weiteren Feuerwerkskörpern. Offenkundig richteten sich die Leute auf Krawalle mit der Polizei ein.
Der junge Italiener wird an diesem Freitagmorgen gegen 6.30 Uhr festgenommen und abgeführt. In der Gefangenensammelstelle muss er sich komplett entkleiden, ein Beamter untersucht alle Körperöffnungen. Ein Haftrichter schickt ihn in die U-Haft, die das Landgericht und schließlich das Oberlandesgericht bestätigen.
Aber was hat er denn nun wirklich getan? Für die Staatsanwaltschaft ist klar, dass er Landfriedensbruch und tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte geleistet hat, auch wenn individuelle Taten wie Würfe oder Schläge gar nicht im Raume stehen. Dass die Strafverfolgungsbehörde versucht, so viele potenzielle Täter wie möglich zu ermitteln und anzuklagen, gehört zu ihrer Kernaufgabe.
Höchst interessant liest sich allerdings der Beschluss des OLG, mit dem Fortdauer der U-Haft gegen V. angeordnet wird. Das innere Engagement der drei Richter aus dem 1. Strafsenat, den Marc Tully leitet, ist aus jeder Zeile herauszulesen. Die zu erwartende Freiheitsstrafe werde „nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können“, schreiben Tully und Kollegen. „Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Eigentum“ seien für ihn „erkennbar ohne jede Bedeutung“.
Tatsächlich? Dem 18-Jährigen wird nicht vorgeworfen, Supermärkte geplündert, Autos angezündet oder Scheiben eines Handy-Ladens eingeworfen zu haben. Diese Taten samt den Bildern der Rauchsäulen über der Stadt verbinden die meisten Hamburger wohl mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Dort schritt die Polizei allerdings nicht ein. Was sich aber morgens um 6.30 Uhr am Rondenbarg abspielte, geschah wohl weitgehend unter Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit.
Richter spricht von „Anlage- und Erziehungsmängeln“
Der Senat geht aber noch weiter. Der „erkennbar rücksichtslosen und auf eine tief sitzende Gewaltbereitschaft“ schließen lassenden Tatausführung komme „besondere Bedeutung“ zu. V. habe sich an „schwersten Ausschreitungen“ beteiligt, dies verdeutliche eine „charakterliche Haltung, welche die Annahme der Schuld rechtfertigt“. Weiter schreibt Tully, der in Hamburg auch Vorsitzender des Richtervereins ist, von angeblichen „schädlichen Neigungen“ und stellt „erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel fest, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen“.
Über den Heranwachsenden ist wenig bekannt. Laut „Süddeutscher Zeitung“ stammt er aus einem bürgerlichen Elternhaus, seine Mutter arbeitet als Unternehmensberaterin. Er soll in Belluno einer linken Gruppe mit dem Namen „il Postaz“ angehören, die ihren Sitz in einem besetzten Haus hat. Die Gruppe habe zuletzt vor dem Rathaus in Belluno campiert, um gegen ein Staudammprojekt zu protestieren. Das Verhältnis zu seinen Eltern scheint gut zu sein: Fabios Mutter hat sich in Hamburg einquartiert, um ihren Sohn regelmäßig sehen zu können. Im Gefängnis soll er sich tadellos verhalten.
Erstaunlich ist, auf welcher faktischen Grundlage die Richter ihren Beschluss stellen. Denn V. hat sich bislang überhaupt nicht geäußert. Wie der Senat vermeintliche „Anlagefehler“ beim nicht vorbestraften Italiener ermitteln konnte, bleibt völlig offen. Überhaupt ist die mehrfach vorgenommene Behauptung, hier prägten „Neigungen“ oder „Anlagen“ den Charakter, höchst fragwürdig. Ein „Verbrecher-Gen“ jedenfalls ist nicht anzunehmen.
Sollte Angeklagten im Strafprozess tatsächlich ein genereller Hang zu Straftaten nachgewiesen werden, muss das äußerst genau begründet werden. Dabei berücksichtigen Richter die Schwere des Delikts, lange Vorstrafenregister und rechtsmedizinische Gutachten, die eventuelle psychische Krankheiten offenlegen.
Nichts davon trifft auf diesen Fall auch nur annähernd zu. Trotzdem weiß der OLG-Senat schon, was am Ende herauskommen wird: „Eine absehbar empfindliche Freiheitsstrafe“, heißt es im Beschluss, als ob eine Hauptverhandlung nun verzichtbar wäre. Dabei spielt das Video, das auch schon Journalisten vorgeführt bekamen, bei der Entscheidungsfindung der Gerichte bislang überhaupt keine Rolle. Vielmehr verließen sich die Richter auf einen Vermerk eines LKA-Beamten, der den Film auswertete. Die WELT konnte den Vermerk einsehen. Dessen Wertungen („massiver Beschuss“) übernahmen die Richter, ohne sich ein eigenes Bild zu machen.
„Der Beschluss macht meinen Mandanten für alles verantwortlich, was in Hamburg zum Gipfel passiert ist“, sagt V.s Anwältin Gabriele Heinecke. Sie hat eine Verfassungsbeschwerde eingereicht und die sofortige Aufhebung der Untersuchungshaft beim Bundesverfassungsgericht beantragt. „Bei den Ausführungen des Senats handelt es sich um Vorurteile gespeist mit Vermutungen“, so Heinecke. Die Ausführungen des Senats zur Schwere der Schuld, Gewaltbereitschaft und Anlage- und Erziehungsmängeln seien „in beeindruckender Weise schmähend, gleichzeitig aber inhaltsleer und unbegründet“, sagt die Rechtsanwältin.
Fabio V. wartet jetzt im Jugendgefängnis Hahnöfersand auf die Entscheidung aus Karlsruhe. Einem Prozess will er sich stellen, ließ er mitteilen. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer beim Verfassungsgericht lag bei Haftsachen im vergangenen Jahr zwischen zwei und drei Wochen. In spätestens 14 Tagen sollte der Italiener wissen, ob der deutsche Staat ihn weiter für einen gefährlichen Gewaltkriminellen hält und bis zum Prozess einsperren wird – oder nicht.