"Da fiel mehrmals der Begriff 'Himmelfahrtskommando'"

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Erstveröffentlicht: 
01.08.2017

Ein WEGA-Offizier über seinen Einsatz bei den G20-Krawallen in Hamburg – wo ausgerechnet die österreichische Polizeieinheit an vorderste Front geschickt wurde.

 

Von Martin Staudinger

 

Fast ein Monat ist seit den Auseinandersetzungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg vergangen, und noch immer wird in Deutschland diskutiert: Hat es die linksautonome Szene von vornherein auf Gewaltexzesse angelegt? Stimmt der Vorwurf, die Polizeiführung der Hansestadt habe das Chaos durch ihre "Eskalationsstrategie" mitverursacht? Faktum ist: Rund 50 Demonstranten sitzen in U-Haft, aber gegen rund 50 Beamte wird von deutschen Behörden intern ermittelt.

Im Hamburger Schanzenviertel, wo es am 7. Juli zu den schwersten Zusammenstößen kam, waren auch österreichische Polizisten eingesetzt: Beamte der Sondereinheiten WEGA und Cobra. Gegenüber profil erzählt ein WEGA-Offizier, wie er die Krawalle erlebt hat. Er bleibt aus dienstlichen Gründen anonym.

profil: Ein Viertel in einer Großstadt wird verwüstet, Barrikaden brennen, Geschäfte werden geplündert – und die Polizei wagt sich lange Zeit nicht hinein: Haben Sie gedacht, je in eine solche Situation zu kommen wie am 7. Juli in Hamburg?
Albert Berger*: Wir hatten schon eine Vorahnung, dass es an diesem Tag hart werden würde. Wir hatten uns bei den Einsätzen in den Tagen zuvor mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht und waren bereits am 6. Juli dort zur Räumung eingesetzt. Da wurden auch Feuer angezündet, offenbar um auszutesten, wie die Polizei darauf reagiert.

profil: Wie war die Situation am 7. Juli?
Berger: Schon bevor wir beim Schanzenviertel angekommen sind, haben wir am Funk gehört, dass es dort Schwierigkeiten gibt – massiverer Bewurf mit Flaschen, Steinen und Holzlatten als am Tag zuvor. Es deutete alles darauf hin, dass man uns da hineinlocken wollte. Dann kam die Information, dass es weiter hinten im Viertel bereits brennt, dass es Sachbeschädigungen gibt und dass ein Warnschuss gefallen ist. Da war klar: Da drinnen muss wirklich einiges los sein.

profil: Es gab viel Kritik daran, dass die Polizei längere Zeit nicht eingeschritten ist, sondern vor dem Schanzenviertel abgewartet hat. Wie kam es dazu?
Berger: Von Zivilfahndern im Schanzenviertel kam die Meldung, dass dort Gehsteigplatten und Molotow-Cocktails auf die Dächer gebracht werden, um eine Falle vorzubereiten. Es gab auch entsprechende Wahrnehmungen durch Polizeihubschrauberbesatzungen. Mit Zwillen wurde ohnehin immer wieder geschossen – wobei man wissen muss, dass das tödlich enden kann, wenn es dich im Hals- oder Gesichtsbereich trifft. Es herrschte also durchaus Lebensgefahr, und was man als Polizei nicht will und soll, ist in so einer Situation in Hektik zu verfallen und überstürzt vorzugehen. Derartige Kamikaze-Aktionen machen unaufmerksam, unkontrolliert und bringen niemandem etwas.

profil: Medienberichten zufolge haben sich deutsche Polizeieinheiten in dieser Situation geweigert, weiter vorzugehen. Sie auch?
Berger: Bei Beratungen über das weitere Vorgehen haben einige der Kommandanten Bedenken geäußert. Sie hielten ein sofortiges Vorrücken angesichts des vorbereiteten Hinterhalts für zu riskant. Da fiel mehrmals der Begriff "Himmelfahrtskommando". Ausdrücklich geweigert hat sich meiner Wahrnehmung zufolge aber keiner.

profil: Die WEGA war ganz vorne dabei. Wie kam es denn dazu?
Berger: Wir waren zu diesem Zeitpunkt unmittelbar hinter den ersten Wasserwerfern positioniert, als von dem für uns an diesem Tag zuständigen Kommandanten – übrigens einem erfahrenen Spitzenmann – der Auftrag kam: "WEGA, wenn Sie bitte in die erste Linie vorziehen." Dort standen schon Kollegen aus Bayern und haben gesagt: "Wir machen gemeinsam die Räumung." Es hat uns in dieser Situation einigermaßen überrascht, dass diese heikle Aufgabe trotz der Anwesenheit zahlreicher anderer deutscher Einheiten ausdrücklich uns übertragen wurde. Gleichzeitig haben wir das als einen großen Vertrauensbeweis seitens der Einsatzleitung gesehen.

profil: Hat man in so einer Situation Angst?
Berger: Wenn ich sagen würde, dass das spurlos an uns vorübergegangen ist, wäre es gelogen. Aber Angst ist der falsche Ausdruck: Man ist angespannt. Wir waren zu diesem Zeitpunkt den dritten Tag mit insgesamt weniger als drei Stunden Schlaf im Dienst. Da erlebst du die Situation schon sehr surreal: Es brennt, es raucht, es wird geschrien, es ist finster, der Boden ist von den Wasserwerfern aufgewaschelt, dreckig und glitschig, irgendwer hat die Kanaldeckel herausgenommen. Man verliert das Gefühl für Zeit und Raum. Es fliegen Flaschen und Steine, einmal wurde ungefähr 15 Meter vor uns ein Molotow-Cocktail von einem Dach geworfen und ist in Flammen aufgegangen.

profil: Was macht man da mit den eigenen Aggressionen?
Berger: Ich könnte gar nicht sagen, dass die Aggressionen so groß waren. Wir waren in einem Funktionsmodus: Schauen, dass nichts Gröberes passiert, Emotionen wegschalten und auf die Arbeit konzentrieren.

profil: Es gab aber auch Szenen, die Polizisten beim brutalen Vorgehen gegen gewaltlose Demonstranten zeigen.
Berger: Die Gefahr, dass man härter vorgeht als notwendig und sich Aggression an jemandem entlädt, der sich nichts Schlimmes zuschulden kommen lässt, vielleicht einfach nur provoziert oder sich in den Weg stellt, die gibt es. Das dürfte natürlich nicht sein. Aber jeder hat seine Belastungsgrenze. Wenn man stundenlang beschimpft, provoziert, gedemütigt und mit allem beworfen wird, was Gott verboten hat, und dann gibt es bei der Räumung immer noch Gegenwehr, kann sie erreicht sein.

profil: Die WEGA soll aber auch bei der Auflösung einer gewaltlosen Demo ("Color the red zone", Anm.) ordentlich zugelangt haben.
Berger: Wir hatten den Auftrag, diesen Protestzug von der Fahrtroute der Staatsgäste des G20-Gipfels fernzuhalten. Die Demonstranten wiederum haben, teils auch mit Stößen und Tritten, unsere Sperre zu durchbrechen versucht. Das haben wir mit Körperkraft, Pfefferspray und vereinzelten Schlagstockeinsätzen verhindert. Im Internet hat es anschließend geheißen, wir seien nicht freundlich, aber auch nicht über die Maßen brutal vorgegangen.

profil: Der größte Teil dieses Protestzugs war aber trotzdem friedlich.
Berger: Es waren aber auch Angehörige der linksautonomen Szene dabei, teilweise vermummt – bloß nicht in Schwarz, sondern mit blauer Regenkleidung. Und die Aktion war Teil der sogenannten "Mehrfinger"-Taktik, die darauf abzielte, zeitgleich an mehreren Orten Polizeikräfte zu binden. Anderen Aktivisten sollte damit die Möglichkeit gegeben werden, durch das Sicherungsnetz zu schlüpfen. Das hat es aber auch dem Schwarzen Block ermöglicht, andere Bereiche für Sachbeschädigungen und Brandstiftungen zu nutzen. Die gewaltlosen Demonstranten haben also bewusst oder unbewusst dazu beigetragen, dass ihre friedlichen Anliegen von den Gewaltbereiten in den Dreck gezogen wurden.

profil: Haben Sie Gewalt in diesem Ausmaß in Ihrer Zeit als Polizist schon einmal erlebt?
Berger: In der Gesamtdimension nicht. Ich bin seit über 20 Jahren bei der WEGA und war bei zig Demonstrationen im Einsatz oder als Beobachter dabei – sowohl im Inland als auch im Ausland. Da sieht man schon ein bisschen was. Aber in dieser Dimension habe ich es noch nicht erlebt, und das haben auch die deutschen Einheiten in Hamburg so formuliert. In Hamburg waren wir zudem baff, mit wie viel Hass und Antipathie uns generell begegnet wurde. Wenn wir an Lokalen vorbeigefahren sind, sind Flaschen geflogen oder Beschimpfungen gegrölt worden. Bei Einsatzfahrten wurden wir konstant behindert. Wenn wir irgendwo darum gebeten haben, aufs Klo gehen zu dürfen, hat es geheißen: Nein. Von den Pickerln mit Slogans wie "Bullen sind keine Menschen" und "Tod der Polizei" rede ich da noch gar nicht.

profil: Der oft gehörte Kampfruf "Ganz Hamburg hasst die Polizei" stimmte also?
Berger: Das auch wieder nicht. Wir wurden immer wieder von Bewohnern und Passanten angesprochen, die uns für unseren Einsatz gedankt und immer wieder betont haben, was sich hier zeige, sei nicht das "echte Hamburg". Autofahrer ließen ihre Seitenscheiben runter, um uns alles Gute für den Einsatz zu wünschen. Anrainer versorgten uns mit Kaffee.

profil: Aber wohl kaum von den Demonstranten.
Berger: Nicht unbedingt. Wir haben auch Gespräche mit Demonstranten geführt. Es ist ja nicht so, dass wir wie im Klischee dastehen und mit einem "Fascho-Zugang" nur darauf warten, jemanden niederdreschen zu können, weil wir jeden, der demonstriert, als Feind sehen. Es sind immer wieder Leute gekommen und haben gefragt, wie wir den G20-Gipfel sehen. In einer Pause sind wir im Kreis gestanden, fünf Demonstranten, vier Polizisten, und haben uns ganz normal unterhalten. Sagt einer: "Schade, dass ihr Hamburg und den Protest so erlebt." Mit solchen Leuten kann ich absolut mit.

profil: Medien haben die Szenerie mit einem Bürgerkrieg verglichen.
Berger: Am Anfang ist mir auch kein anderer Begriff eingefallen. Letztlich hat es mich aber noch mehr an Guerillakampf in einer Besatzungszone erinnert, auch mit dem Wissen, dass wir nicht wirklich gewinnen können. Du glaubst, dich einen Moment entspannen zu können, und peng, peng, peng fliegt schon wieder irgendwas, drei schwarz Vermummte verschwinden in einem Eingang, gleich darauf kommen zwei Häuser weiter wieder drei heraus – rotes Leibchen, Bluejeans, weiße Turnschuhe. Die Häuser sind durch Hintereingänge miteinander verbunden, und du hast es im Urin, dass das dieselben drei Typen sind, kannst sie aber nicht mehr zuordnen. Wir können zwei, drei Tage lang das Schanzenviertel rauf und runter räumen, und am Ende sitzen dort dieselben Leute am Boden, schauen uns an und sagen: "Na, habt’s was gelernt in Hamburg …"

profil: Das haben sie wirklich gesagt?
Berger: Ja, und es klang nicht einmal besonders aggressiv oder bösartig – eher amüsiert, hämisch. Offenbar gehört es zur Arbeitsplatzbeschreibung von Autonomen, dass sie sich ab und zu mit der Polizei matchen müssen.

profil: Und was haben Sie gelernt?
Berger: Wir haben neue Eindrücke von unserem Gegenüber in großer Dimension mitgenommen – etwa, wie differenziert und organisiert die Klientel in Planung und Ausführung handelt. Und wir haben einiges darüber gelernt, wie Polizei trotz akribischer Planung und professioneller Einsatzführung an ihre Grenzen stoßen kann.

profil: Haben Sie, abseits der Gewalt, auch Verständnis für die G20-Proteste?
Berger: In bestimmten Bereichen kann ich es durchaus nachvollziehen, dass man es nicht in Ordnung findet, wenn für so einen Gipfel wahnsinnig viel Geld ausgegeben wird, die erzielten Ergebnisse dann aber eher mau sind. Oder wenn jemand gegen Auswüchse der Globalisierung protestiert, die dazu führen, dass die Ärmeren ausgenutzt werden.

profil: Würden Sie selbst demonstrieren?
Berger: Ich würde es mir nicht antun, da lebe ich in einer anderen Welt. Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Gummikrokodil, einer Badehaube und einer grünen Regenjacke bei 28 Grad einen Tag lang durch die Stadt zu laufen. Ein derartiger Aktionismus tut aber niemandem weh und ist manchmal sogar bewundernswert. Manchmal denke ich mir aber schon: So würde ich nicht gegen eine Polizeisperre anrennen.

* Name von der Redaktion geändert