Während die Polizei in der Bundesrepublik in den 1980er-Jahren fieberhaft nach der RAF-Terroristin Inge Viett fahndete, lebte diese als Eva-Maria Sommer schon unauffällig in der damaligen Bezirkshauptstadt.
Von Butz Peters
„Sie haben aber eine schöne Uhr“, sagt Eva-Maria Sommer, die neue Mitarbeiterin in der Dresdner Großdruckerei „Völkerfreundschaft“, zu der Betriebsärztin. „Die ist aus dem Westen, aus Pforzheim“, entgegnet die Dresdnerin nicht ganz ohne Stolz. „Dann ist sie nicht schön“, antwortet resolut die Neue. Die Ärztin ist verblüfft. Die Frau Ende 30 hat etwas Freches. Aber auch etwas Geheimnisvolles. Ihr sei klar gewesen, dass sie unter dem „Schutz der Stasi“ gestanden habe, sagt die Ärztin im Ruhestand heute – mehr als 30 Jahre nach dem Gespräch über die Uhr 1983.
Was damals in der Druckerei auf der Riesaer Straße 32 keiner wusste: Das Energiebündel Eva-Maria, burschikos, drahtig und knapp über 1,60 klein, heißt in Wahrheit Inge Viett. Als „Deutschlands Terroristin Nr. 1“ wird sie in der Bundesrepublik gesucht. 100 000 D-Mark sind „für Hinweise, die zu ihrer Festnahme führen“ ausgesetzt.
Inge Viett ist eine der schillerndsten Figuren des deutschen Linksterrorismus. Ihre politische Radikalisierung beginnt, als sie 1968, gegen Ende der Studentenbewegung, in eine Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg zieht. Zuvor hatte die gelernte Kinderpflegerin – geboren 1944 in Stemwarde östlich von Hamburg – als Sportlehrerin, Stripteasetänzerin auf St. Pauli, Haushälterin auf Sylt und Kraftfahrerin gearbeitet.
Anfang 1972 entscheidet sie sich für den „bewaffneten Kampf“ und stößt zur „Bewegung 2. Juni“: die „kleine Schwester“ der RAF, die ihr Unwesen in Berlin treibt. Auf ihr Konto geht eine Reihe politisch motivierter Schwerststraftaten wie der Mord an Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann 1974, die Entführung des CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz 1975 und etliche Banküberfälle.
Schnell erlangt Viett in der Gruppe eine – wie sie es nennt – „orientierende Funktion“. Zweimal wird sie verhaftet. Zweimal gelingt ihr die Flucht aus dem Berliner Frauengefängnis Lehrter Straße. Die linke Szene in der Frontstadt bejubelt die „Ausbrecherkönigin“. Vietts Credo: „Die Pflicht eines jeden Gefangenen ist die Flucht.“
Ende der Siebzigerjahre lebt sie unerkannt in Paris: Dort trifft sie RAF-Mitglieder – für die ist die Metropole zur Fluchtburg nach dem deutschen Herbst 1977 geworden. RAF-Chefin Brigitte Mohnhaupt plagt eine Sorge: Rund die Hälfte ihrer Mannschaft hat die Nase vom „bewaffneten Kampf“ voll. Susanne Albrecht, Silke Maier-Witt und sechs andere wollen sich absetzen. So schnell es geht. Die Rest-RAF will eine „konsensuale Lösung“ und für die Aussteiger ein „sicheres Versteck“ besorgen. Im Gespräch sind Mosambik und Angola.
Um herauszufinden, wie man eine solche Operation am besten organisiert, fliegt Viett im Mai 1980 nach Ostberlin zu ihrem Kontaktmann bei der DDR-Staatssicherheit. Harry Dahl, Oberst bei der „Terrorabwehr“, war einst als Stasi-Agent in Afrika. Er warnt: Acht Weiße in Schwarzafrika fallen schnell auf! Dann fragt er, ob die RAF schon einmal daran gedacht habe, „die demobilisierten Kämpfer zu uns zu bringen“.
Von der Offerte ist die RAF begeistert. So entwickelt sich die
Verbindung zwischen den westdeutschen Terroristen und der ostdeutschen
„Terrorabwehr“ – die Stasi löst sozusagen das „Entsorgungsproblem“ der
RAF. Ein Vierteljahr später steigt Susanne Albrecht im Ostbahnhof in
Berlin-Friedrichshain aus dem Zug. Die zukünftigen DDR-Staatsbürger
hatte die „RAF-Stasi-Ausstiegskoordinatorin“ Inge Viett – sie hatte sich
mittlerweile der RAF angeschlossen – in Prag verabschiedet. Sie selbst
fliegt in den Südjemen.
Zwei Jahre später, 1982, taucht auch
Viett in die DDR ab, als zehnter und letzter RAF-Aussteiger.
Mittlerweile wird sie auch wegen versuchten Mordes im Westen gesucht. In
Paris hatte sie einen Polizisten rollstuhl-invalide geschossen, weil er
sie kontrollieren wollte.
Vor dem Schritt in den Osten war sie
zu der Einsicht gekommen, zehn Jahre, nachdem sie in den Untergrund
abgetaucht war und nach etlichen Rückschlägen in ihrem
Terroristinnenleben, dass „der bewaffnete Kampf keine Perspektive“ hat –
und damit sie „auch keine“. So ist die DDR für sie zum letzten Ausweg
geworden. Deshalb bringt sie ihr, so formuliert sie es später, „einen
fast zärtlichen Respekt“ entgegen.
Die ersten sechs Monate wird
Viett von der Stasi im Plattenbaumeer in Berlin-Marzahn versteckt. Auf
den DDR-Alltag bereiten sie Stasi-Männer vor. „Ich war gerade im
Supermarkt“, sagt sie. „Kaufhalle“, wird sie geduldig korrigiert. Zum
wiederholten Mal. Pauken muss sie die gebräuchlichen Abkürzungen des
DDR-Alltags: „EOS, POS, NSW, SW, AWG, KWV…“
Weil das Risiko ihrer
Entdeckung in der Hauptstadt der DDR für die Staatssicherheit zu groß
ist, muss sie fort. Die drei für ihre Zukunft entscheidenden Fragen
stellt ihr ein Stasi-Offizier: „Welcher Beruf würde dir Spaß machen, in
welcher Stadt möchtest du leben, und wie möchtest du heißen?“ „In der
zweit- oder drittgrößten Stadt“ der DDR, antwortet das Großstadtgewächs,
wenn Berlin schon nicht geht. „Repro-Technik“, weil sie aus dem
Terroruntergrund über mannigfaltige Fälscher-Erfahrungen verfügt, und
„Eva-Maria Sommer“. Der neue Name klingt nach sonniger Perspektive.
So fängt „Eva-Maria Sommer“ als Repro-Fotografin im Grafischen Großbetrieb „Völkerfreundschaft“ in Dresden
an. Frühjahr 1983. Gedruckt werden im Stadtteil Dresden-Pieschen jede
Menge Parteisachen und Bücher für Westverlage. Die Tagesschicht beginnt
um 6.45 Uhr. Erschrocken ist Viett allerdings über „den äußeren Eindruck
der materiell-technischen Ausrüstung in der Foto-Abteilung“, berichtet
sie später: „chemiezernagte Becken und Schalen, ausgetretene Fußböden,
schäbige Möbel, der schmucklose Pausenraum.“ Sie schluckt. Aber schon
bald fühlt sie sich wohl „in unserer alten Photographie“. Ihre letzte
Chance.
In Dresden lebt sie unter der Legende einer Übersiedlerin
aus der BRD. Denn trotz Stasi-intensiv-Schulung war ihr klar, dass sie
unmöglich als DDR-Bürgerin durchgehen konnte. So nun aber vermögen ihre
Arbeitskollegen nicht nachvollziehen, wieso die Singlefrau aus dem
Westen in den Osten zog. Kurz vor vierzig.
Schwierig sind für sie
auch die Diskussionen in ihrem Arbeitskollektiv. In der Regel enden die
mit einem Vergleich „äußerer Erscheinungen“: „Trabi gegen Audi, Rügen
gegen Mallorca, Westberlin gegen Ostberlin“, erinnert sie sich, „da ging
die DDR natürlich immer nach Punkten K.o.“ Mit ihren alten BRD-linken
Kampfbegriffen wie „Verdinglichung“, „Warenbeziehungen“ und
„Entsolidarisierung“ kann sie in der DDR nicht punkten. Oft schweigt
sie. Aber ihre Arbeitsdisziplin war stets vorbildlich, berichtet die
damalige Dresdner Betriebsärztin. Immer pünktlich. Tadellos die
„Aufgabenerfüllung“.
Nach der ersten Zeit in einem kargen Zimmer
im Bauarbeiter-Wohnheim bekommt Viett eine Wohnung im
Plattenbau-Neubauviertel Prohlis: Prohliser Allee 31. 34Quadratmeter. 36
Mark. Sie verdient 800. Kein Vergleich zu ihren früheren Leben in
Berlin, Hamburg und Paris: „Viel zu wenige Kaufhallen und viel zu wenige
Straßenbahnlinien.“ Das öffentliche Verkehrswesen findet sie
„abenteuerlich und unberechenbar“. Wer in Dresden zu spät kommt, so
nimmt sie wahr, der entschuldigt sich: „Die Straßenbahn…“ Stets eine
unwiderlegbare Behauptung.
Schon nach einem halben Jahr in
Dresden bekommt sie einen Lada – gemessen an ihren West-Maßstäben für
sie „ein bescheidenes durchschnittliches Auto“. Doch schnell spürt sie
den Neid der „Völkerfreundschaft“-Kollegen, weil sie so schnell an einen
„DDR-Mercedes“ gekommen ist. So wechselt sie zum Trabi. Aber den
empfindet sie als technische Katastrophe; die Entwicklungsingenieure
hätten „allesamt die Prügelstrafe verdient“.
Ihre Lebensgefährtin
lernt sie durch eine Kleinanzeige in der Sächsischen Zeitung kennen:
„Suche Wanderfreundin für gemeinsame Stunden...“ annonciert sie im
Herbst 1983. Die Eisenbahnerin zeigt ihr „die schönsten Ecken von dem
kleinen Land“, meint Viett im Rückblick: das Bielatal, die Sächsische
Schweiz, die uralten Kiefern der Boddenlandschaften im Norden. Den Darß.
Hiddensee im Novembersturm. Widerstehen können ihm nur Menschen und
Bäume in Schräglage.
Nach dreieinhalb Jahren endet Vietts
Dresden-Zeit abrupt. Bei einem Westbesuch hatte sich eine Bekannte von
ihr auf dem Hauptbahnhof von Frankfurt am Main ein
Terroristen-Fahndungsplakat angesehen. Sie erkennt, dass die gesuchte
Inge Viett genauso aussieht wie „EvaMaria“ in Dresden. Eindeutig ist das
auf dem Plakat angegebene besondere „Identifizierungsmerkmal“: eine
„Narbe am rechten Zeigefinger (1 cm lang, 3. Glied, Fingerunterseite)“.
Genau so eine Narbe hat „Eva-Maria“.
Als Viett mitbekommt, dass
die Frau ihr Geheimnis kennt, sind für sie die Konsequenzen klar:
„Dresden vergessen, alles vergessen, was jetzt ist, verschwinden.“ Aber
ihr Herz. Sie will nicht weg. Doch ihr ist klar: Ein Fehler könnte
„unübersehbaren Schaden für die DDR bedeuten“. Der Abschied von
Elbflorenz fällt ihr, wie sie später resümiert, „unsagbar schwer“: ihre
Freundin, Semperoper, Zwinger, Brühlsche Terrasse, Altmarkt und
Elbsandsteingebirge … Alles aus und vorbei. Adieu.
Ihren
Schnell-Abgang organisiert die Staatssicherheit. Freunden und Kollegen
sagt Viett, dass sie kurzfristig beschlossen habe, in den Jemen
auszuwandern. Aber sie fliegt nicht nach Aden, sondern zieht in eine
Stasi-Wohnung in Berlin. Dort bekommt sie eine neue Legende. Ein
Dreivierteljahr nach ihrem Dresden-Abgang taucht sie in Magdeburg auf.
Nach
der stasi-gefälschten Papierlage ist sie nun DDR-Bürgerin, „Witwe“ und
heißt „Eva-Marie Schnell“. Dort arbeitet sie im Schwermaschinenkombinat
„Karl Liebknecht“ im Sozialwesen. Zudem als IM für die Stasi. Magdeburg
ist für sie „Provinz“.
Sieben Monate nach dem Fall der Mauer wird
sie dort verhaftet, Juni 1990. Eine Nachbarin hatte sie auf einem
Fahndungsplakat erkannt und der Polizei gemeldet, um die auf sie
ausgesetzte Kopfprämie zu kassieren. 1992 verurteilt das
Oberlandesgericht Koblenz sie zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe wegen
versuchten Mordes. Nachdem sie die Hälfte abgesessen hat, wird sie 1997
vorzeitig entlassen.
Heute lebt Inge Viett am westlichen Stadtrand von Berlin. Sie ist Rentnerin und dreiundsiebzig.
Der
Autor: Dr. Butz Peters, Publizist und Rechtsanwalt, schrieb drei
Bestseller über die Geschichte des Linksterrorismus in Deutschland. Er
lebt in Dresden. In diesem Jahr erschien von ihm „1977 – RAF gegen
Bundesrepublik“ (576 Seiten, Droemer).