Es wird eng im Flüchtlingswohnheim: In Freiburg kommen seit Jahresbeginn immer mehr verzweifelte Roma aus dem Kosovo an. Die Stadt fühlt sich vom Land im Stich gelassen.
Den Grund, warum sie hier ist, würde Ceija Majoré (*Name geändert) am liebsten vergessen. In ihren Händen knetet die zierliche Romafrau einen kleinen Schlüsselanhänger aus Plüsch. Ein Mann habe sie mit seinem Auto überfahren wollen, erzählt sie, und schaut runter auf ihren dunklen abgewetzten Rock. Er habe sie erwischt, ihr das linke Bein gebrochen. Der Knochen musste mit einer Metallplatte geschient werden. Die Schmerzen beim Gehen erinnern sie noch immer an das fürchterliche Erlebnis. In Polje im Kosovo, wo sie herkomme, habe man sie und ihre Kinder auch geschlagen. "Wir mussten weg, wir sind einfach losgefahren, egal wohin", sagt Ceija Majoré.
Ein Mann mit einem kleinen roten Kombi habe sie mitgenommen – sie, ihren
Mann und die vier Kinder. Details wisse sie nicht, es sei Nacht
gewesen, sie habe mit den Kindern auf der Rückbank geschlafen. Vor drei
Wochen stand die Familie dann im Freiburger Flüchtlingswohnheim St.
Christoph. Warum gerade dort? "Ich weiß es nicht", sagt Ceija Majoré.
Jetzt steht sie in einem Wohncontainer, trägt eine zu große
Trainingsjacke und Filzpantoffeln. In den Häusern des
Flüchtlingswohnheims war kein Platz mehr. Deshalb hat man ihre Familie
notgedrungen da untergebracht, wo vorher das Werkzeug des Hausmeisters
lagerte.
Infolge des Bürgerkriegs in der ehemals serbischen Provinz Kosovo Ende der 90er-Jahre flohen rund 3000 Roma nach Baden-Württemberg, 690 Roma kamen nach Freiburg. Im April haben Deutschland und Kosovo ein Rücknahmeabkommen unterzeichnet, seitdem ist für viele Flüchtlinge der Abschied näher gerückt. In Freiburg ist die Entwicklung gegenläufig. Hier sind seit Januar rund 140 Roma-Flüchtlinge hinzugekommen, die Unterkünfte sind inzwischen überfüllt. Nirgendwo sonst im Land gab es zuletzt einen vergleichbaren Zustrom. In der Stadtverwaltung gibt es lediglich Vermutungen darüber, warum die neuen Flüchtlinge ausgerechnet Freiburg ansteuern. Sie alle sagen, sie kämen aus dem Kosovo, ausweisen können sie sich nicht.
Fakt ist: Seit Jahresbeginn dürfen serbische Staatsbürger für 90 Tage
ohne Visum in EU-Länder reisen. Fakt ist auch, dass der Gemeinderat 2006
mit einer Resolution seinen Willen unterstrichen hat, sich für ein
Bleiberecht der langjährig in Freiburg lebenden Roma einzusetzen –
Familien, deren Kinder hier geboren sind und die zum Teil selbst für
ihren Lebensunterhalt sorgen. Dieses politische Bekenntnis, sie könnte
sich herumgesprochen haben.
Diese Beliebtheit führt Freiburg an seine Grenzen. "Wenn es so
weitergeht, müssen wir Notunterkünfte in Turnhallen einrichten", sagt
Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach (SPD). Es gebe keine
Kapazitäten mehr, Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen.
Oberbürgermeister Dieter Salomon von den Grünen hat die Landesregierung
in einem Brief um Hilfe gebeten. Die Flüchtlinge mögen gerecht auf die
Städte und Landkreise verteilt, die Last müsse geteilt werden.
Schließlich würden die neuen 140 Flüchtlinge Freiburg allein in diesem
Jahr voraussichtlich eine Million Euro kosten.
Der christdemokratische Innenminister Heribert Rech lässt kühl auf das
Aufenthaltsgesetz und die Asyl-Zuständigkeitsverordnung verweisen. "Es
gibt eine klare Regelung, nach der unerlaubt eingereiste Ausländer in
der Stadt oder in dem Landkreis bleiben, wo sie aufgetaucht sind",
erklärt seine Sprecherin Alice Loyson-Siemering. Weil die Roma bei ihrer
Ankunft keine Ausweise vorlegen konnten, besitzen sie den Status
"illegale Ausländer" – und müssen in Freiburg bleiben. Dieses Verfahren
habe sich bewährt, erläutert Loyson-Siemering. "Den anderen Städten wäre
es nicht zu vermitteln, dass sie plötzlich Flüchtlinge aus Freiburg
aufnehmen müssen." Dass Freiburg an seinem Problem selbst schuld sei,
sagt in Stuttgart niemand offen. Doch immerhin bemerkt die Sprecherin:
"Eine gewisse Wirkung kann man der Resolution des Gemeinderats zu den
Roma sicher nicht absprechen."
Bei Sozialarbeiterin Petra Geppert im Wohnheim St. Christoph klingelt
das Telefon. Eine Studentin ist dran, die eine Patenschaft für ein
Flüchtlingskind übernehmen will. "Das kommt recht häufig vor", sagt
Petra Geppert. Es gibt eine ehrenamtliche Hausaufgabenhilfe für die
Kinder und einen Deutschkurs für Frauen. 1991 wurde das
Flüchtlingswohnheim St. Christoph eröffnet, seither arbeitet Petra
Geppert hier. Sie kennt alle Bewohner und hat zuletzt häufiger gehört,
dass die Ankunft der neuen Flüchtlinge nicht eben für Begeisterung
gesorgt hat. "Es wird voller und enger auf dem Gelände", sagt Petra
Geppert – für das Zusammenleben wird es nicht einfacher.
Bekim Lugar ist empört. "Das sind nicht unsere Leute", sagt der
Familienvater, der in einer der Reihenhauswohnungen auf seinem Sofa
sitzt. "Die Roma, die seit Jahresbeginn hier angekommen sind, stammen
alle aus Serbien und nicht, wie sie behaupten, aus dem Kosovo", ist
erüberzeugt. Seine Dreizimmerwohnung ist anspruchsvoll eingerichtet,
sauber tapeziert, und auch der große Flachbildschirm funkelt noch neu.
Er hat dafür gearbeitet, vier Jahre als Reinigungskraft, dann hatte er
einen Bandscheibenvorfall.
Lugar erzählt, dass auch er vor elf Jahren mit seiner Frau und den zwei
Söhnen illegal mit dem Fischerboot über die Adria nach Italien und
weiter nach Deutschland gekommen sei. Aber er sei eben vor dem
Bürgerkrieg geflohen, er wurde mit Waffen bedroht und aus dem Haus
gejagt. Dass nun Jahre nach dem Bürgerkrieg neue Roma in St. Christoph
auftauchen, passe ihm gar nicht. "Für uns Alte ist das schlecht", sagt
er unumwunden. Er meint damit auch, dass der Vorplatz unterdessen oft
von Kindern bevölkert ist.
Doch der fünffache Vater fürchtet nicht nur um seinen Freiraum auf dem
Gelände des Flüchtlingswohnheims. Er hat auch Angst vor einer
Abschiebung. Dabei ist seine Familie eine von wenigen in St. Christoph,
die nicht nur eine Duldung, sondern eine beschränkte
Aufenthaltsgenehmigung besitzen. Lugar fürchtet, dass alte und neue Roma
über einen Kamm geschoren werden könnten, sollte die Stadt bei der
Flüchtlingsaufnahme an ihre Grenzen kommen. Und er hat Angst um seinen
Ruf. Bei einem Besuch im Sozialamt habe er erfahren, dass die Neuen in
den umliegenden Supermärkten geklaut hätten und nun der Polizei bekannt
seien. "Ich habe noch nie Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt",
beteuert Lugar.
Der Konflikt unter den beiden Roma-Gruppen überrascht den Freiburg
Gemeinderat Coinneach McCabe von der Grünen Alternativen Liste wenig.
"Roma ist ein Begriff, der diesen Menschen von außen aufgestülpt wird,
deswegen ist es ein Trugschluss, ein Zusammengehörigkeitsgefühl aller
Roma zu erwarten", sagt McCabe, der Stellvertreter im Ausländerbeirat
der Stadt war. Er hat eine eigene Erklärung für die Schwierigkeiten, die
die Stadt Freiburg nun mit den neuen Flüchtlingen hat: "Hätte man die
lange in Freiburg lebenden Roma früher in normale Wohnungen umgesiedelt,
gäbe es jetzt nicht das Platzproblem." Flüchtlingswohnheime seien
Übergangsorte.
Dass die Landesregierung die Stadt Freiburg in dieser Situation allein
lässt, ist für McCabe eine Retourkutsche dafür, dass der Gemeinderat
2006 mit seiner Resolution einen höheren moralischen Standard in der
Flüchtlingspolitik gesetzt hat. Dass Freiburg die Flüchtlingswelle durch
die Resolution selbst zu verantworten hat, hält McCabe für nicht
plausibel. Schließlich habe auch der Gemeinderat in Konstanz 2006 ein
ähnliches Papier beschlossen – dort landen derzeit aber nicht vermehrt
Flüchtlinge.
Bukuria Elezi hat in der Küche ihres Wohncontainers gerade einen Topf
mit Pasul, einem Bohneneintopf, auf den Herd gestellt. Seit dem 12.
April ist die Familie in Freiburg, zu diesem Zeitpunkt waren die letzten
freien Plätze in den Häusern des Wohnheims bereits belegt. Die kleine
Frau mit den großen goldenen Kreolenohrringen erzählt, sie sei aus
Buhanovac nach Freiburg gekommen, auch sie mit einem Kombi. "Die Zeiten
haben sich sehr verschlechtert und unsere Kinder wurden zuletzt von
Kosovo-Albanern malträtiert", klagt sie.
Es ist Mittagszeit. Im Raum nebenan, auf dem Sofa, schläft Matteo,
Bukuria Elezis neun Monate alter Sohn. Ihr Mann ist einkaufen mit der
neuen Chipkarte, die alle neuen Flüchtlinge vor ein paar Tagen bekommen
haben. Davor gab es für die Familie Essen auf Rädern und Taschengeld.
Nun können sie mit einem begrenzten Budget auf der Karte bargeldlos
selbst einkaufen und wieder kochen, was sie wollen und was ihnen
schmeckt. Aber sie verfügen über kein Bargeld mehr, mit dem sie
eventuelle Schlepper bezahlen können. Tatsächlich sind in den zwei
Wochen nach Einführung der Chipkarten keine neuen Flüchtlinge gekommen.
Einen Zusammenhang hält Hans Steiner vom Büro für Migration und
Integration der Stadt dennoch für Spekulation. "Ich fände es komisch,
wenn eine Gemeinderatsresolution und ein paar Euro eine Völkerwanderung
auslösen würden", sagt Steiner. Es handle sich nicht um ein Freiburger
Problem, sondern um ein europäisches. Die Situation der Roma im Kosovo
und in Teilen Serbiens sei weiterhin von Diskriminierung, Ausgrenzung
und Armut geprägt. Und das Kosovo sei trotz Rücknahmeabkommen
"eigentlich nicht in der Lage, diese Menschen jetzt zurückzunehmen". Und
Kinder, die hier geboren wurden und nur Deutsch sprechen, "haben im
Kosovo", sagt Steiner, "jetzt ohnehin keine Perspektive".