Im November 2016 reiste ich nach Istanbul, um Freunde zu treffen und die Stadt zu beobachten. Ich bekam Gelegenheit im Rahmen einer Queer-Feministischen Woche im selbstverwalteten anarchistischen Zentrum infial ein Interview mit drei Aktivist_innen zu führen und mit Freund_innen über ihren Alltag in Istanbul zu sprechen.
Taksim - Auffällig in der Gegend rund um Taksim war der geringe Anteil an Menschen mit blonden Haaren. Wer in den letzten Jahren in dieser Gegend unterwegs war hat die Massen an europäischen Besucher_innen gesehen, die sich rund um den Taksimplatz rumtrieben. Das kann durchaus unterschiedlich bewertet werden, auf der einen Seite laufen Boykot Kampagnen, um den für die türkische Wirtschaft wichtige Tourismusbranche zu schwächen und auf der anderen Seite erzählten gerade die Menschen, die es bisher nicht geschafft haben das Land zu verlassen, die es nicht wollen oder können, dass ihnen der Austausch fehlt, die interresanten Gespräche und die spürbare Solidarität. Den Pauschaltourismus zu boykotieren kann durchaus Punkte bringen, individuelle Bildungsreisen und gerade das pflegen von Freundschaften und internationaler Solidarität ist so denke ich nach wie vor wichtig. In verschiedenen Gesprächen schilderten mir Menschen eine gesteigerte Aggressivität im Alltag, so sei Hate-Speech gegen Frauen in der Bahn oder auf öffentlichen Plätzen leider fast schon normalität, gerade Frauen ohne Kopftücher werden häufiger angesprochen und prangern den aktuellen Zustand der Gesellschaft an. Gar nicht weit vom Taksim Platz befindet sich der Stadtteil Tarlabaşı. Die Turbo-Gentrification ist hier nach wie vor im vollen Gange, hinter masiven Bauzäunen werden gewaltige Baumaßnahmen durchgeführt, um den zentral gelegenen Stadtteil in das Wohlhabene Itanbul einzugliedern und damit auch den ärmsten Teilen der Bevölkerung ihren Platz im Zentrum streitig zu machen. Tarlabasi it nach wie vor geprägt von einer verfallenen Bausubtanz und sehr belebten Strassen. Die vielen kurdichen Bewohner_innen sind neben der Sprache auch an den etlichen PKK und HDP Graffitys zu erkennen.
Sehr froh
war ich, als ich das infial besuchte, ein anarchistisches Zentrum mit
Voküs, Selbstverteidigungskursen, Infoveranstaltungen und Filmabenden. Als ich vor
Ort war gab es eine Queer-Feministische Veranstaltungswoche. In diesem Rahmen
hatte ich gelegenheit tolle Gespräche zu führen. Die anarchistische
Szene ist besonders im Vergleich zu den Bevölkerungen der Nachbarschaft
sehr gut gebildet, es wurde viel englisch gesprochen und sich über
theoretische Konzepte ausgetauscht. Vor den Veranstaltungen im infial machten die Aktivist_innen teilweise ihre Hausaufgaben für die Uni. Besonders interresant war für mich
das Verhältnis des sozialen Zentrums zu der Nachbarschaft. Welchen
gemeinsamen Boden gibt es - welche Schwierigkeiten treten auf und können
diese Überwunden werden? Unter dieser Fragestellung führte ich ein
Interview mit drei Mitgliedern des Kollektivs. Gerade die von
infial ausgehende Solidarität mit der HDP hat das Zentrum in der
Nachbarschaft verankert und den kurdischen Bewohnern des Viertels
gezeigt, dass es einen gemeinsamen Grund gibt. Auch, dass die Polizei
mehrmals die Räume des infial im Rahmen der Selbstverteidigungskurse
durchsuchte hat zu Vertrauen zwischen dem Viertel und dem Zentrum
geführt. Bei den 1x wöchentlich stattfindenen Selbstverteidigungskursen
handelt es sich um für deutsche Verhältnisse sehr normales
Kampfsporttraining mit relativ viel Selbstverteidigungsübungen, für die
türkische Polizei Grund genug das Zentrum mehrmals zu durchsuchen und
nachzusehen ob nicht doch heimlich Molotov Cocktails gebastelt werden.
Ein Konfliktpunkt zwischen den infials und der Nachbarschaft findet sich
bei der Gender Politik des Zentrums, so war die Einschätzung, dass im
Viertel teils sehr klare Geschlechterbilder gedacht werden und "das
traditionelle Bild von Famillie weit verbreitet" ist. Ein klarer
Widerspruch zu den queeren, aber auch feministischen Ansätzen, die im
infial diskutiert und auch gelebt werden. So fanden im Rahmen der
Queer-Feministischen-Woche einzelne Veranstaltungen mit verschlossenen
Türen statt, um die Nachbarschaft nicht zu provozieren. Auch Sorge
bereitete den Organisator_innen die Vorbereitung einer Queer-Soli-Party,
zu der neben Transpersonen auch viele Sexarbeiter_innen eingeladen
wurden. Es kam jedoch während der gesamten Queer-Feministischen Woche zu
keinen mir bekannten Übergriffen oder Vorfällen aus der Nachbarschaft.
Insgesamt versucht das infial einen Spagat zwischen einem auf die eigene
Szene ausgerichteten Programm und sozialarbeiterischer Tätigkeiten für
die Nachbarschaft. Aus meiner Perspektive sehr gelungen und als Idee
sicher auch übertragbar auf deutsche Verhältnisse. Beeindruckend war
auch, dass die infial Aktivist_innen zu Zeiten unseres Gesprächs nicht
das Land verlassen wollten, sondern durch eigene Politik von unten den
"Geist der Gezi-Proteste weiterleben zu lassen".
Das Projekt infial mietet die Räume und benötigt dafür Geld, wenn ihr das Projekt unterstützen wollt mit Geld, Workshops, oder Materialien nehmt Kontakt auf zB über : https://infial.noblogs.org/ oder die facebook Seite: facebook.com/infialmekan/