"Die Unterscheidung zwischen Amok und Terror spielt keine Rolle mehr"

Erstveröffentlicht: 
21.07.2016

Der Philosoph Franco Berardi sieht Terroristen als Menschen, die selbst leiden und durch dieses Leiden zu Verbrechern werden. Er spricht von einer "islamistischen Verzweiflung".

Von Karin Janker

 

Der Bundesinnenminister nennt das Attentat in einem Zug bei Würzburg einen Fall "im Grenzgebiet zwischen Amoklauf und Terror". Auch beim Täter von Nizza ist nicht klar, ob es sich um einen vom IS beauftragten Terroristen handelte oder um einen Einzeltäter, der nicht religiös-ideologisch motiviert war. Wo verläuft die Grenze zwischen Terrorangriff und Amoklauf? Der italienische Philosoph Franco "Bifo" Berardi beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch "Helden. Über Massenmord und Suizid" unter anderem mit dieser Frage.

 

SZ: Herr Berardi, Sie bezeichnen Selbstmordattentäter und Amokläufer im Titel Ihres Buchs als "Helden". Ist das nicht eine Zumutung für Opfer und Angehörige?


Franco Berardi: Ich verwende die Bezeichnung "Held" nicht in ihrer wörtlichen Bedeutung, sondern in einer paradoxen Verkehrung: Die jungen Männer, die Terrorakte, school shootings oder andere Formen des sogenannten erweiterten Suizids begehen, glauben, dass sie durch ihre Taten zu Helden werden. Sie fühlten sich zuvor als Verlierer und glauben, nun endlich ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

 

Das Besondere an Ihrer Studie zu Massenmord und Suizid ist, dass Sie die Manifeste und Abschiedsbriefe, die Täter wie Breivik oder die beiden Columbine-Schützen hinterlassen haben, tatsächlich gelesen haben. Ihre Arbeit zeugt von einem so intensiven Interesse an den Mördern, dass es bisweilen befremdet.


Dieses Befremden empfand ich auch mir selbst gegenüber. Nach dem Amoklauf in Aurora 2012, wo ein junger Mann sich als "Joker" verkleidete und auf die Zuschauer einer Batman-Premiere schoss, war ich von einer geradezu perversen Faszination erfüllt. Wie getrieben las ich plötzlich alles über dieses und ähnliche Verbrechen. Damals entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben.

 

Sie betrachten in "Helden" Terrorangriffe und Amokläufe, führen beide auf eine psychische Störung des Täters zurück. Aber gibt es nicht einen wesentlichen Unterschied zwischen islamistischem Terror und einem school shooting: nämlich die ideologische Motivation von Terroristen?

 

Die Unterscheidung zwischen Amok und Terror spielt keine Rolle mehr, sie ist historisch überholt. Wir haben es beim islamistischen Terror nicht mehr mit einem bewussten politischen Akt zu tun wie noch zu Zeiten des RAF-Terrorismus. Hinter den Taten in Nizza und Würzburg ist keine politische Strategie erkennbar. Viel wichtiger ist es daher, die psychopathologische Seite dieser Verbrechen zu untersuchen. Hier sehe ich große Gemeinsamkeiten zwischen Amokschützen und Terroristen.

 

Nämlich welche?


Sie wollen einen Moment lang die Sieger sein. Diese Täter sind keine Serienmörder, die sich sadistisch für das Leid ihrer Opfer begeistern. Es sind Menschen, die selbst leiden und aufgrund dieses Leidens zu Verbrechern werden. Ich spreche deshalb von einer "islamistischen Verzweiflung", die die Menschen befallen hat, die zu Terroristen werden. Das hat weniger mit Religion zu tun als mit den Folgen des globalen Kapitalismus.

 

Nach Attentaten wie zuletzt in Würzburg und Nizza ringen Öffentlichkeit und Medien bei der Suche nach einer Erklärung dennoch mit der Frage: War der Täter womöglich radikaler Islamist? Warum klammern Sie diese Frage aus?


Weil die Religion für Attentäter nur eine marginale Rolle spielt. Viel entscheidender sind Frustration, Depression, Verzweiflung - erst dann kommt, wenn überhaupt, die Religion ins Spiel. Psychische Krankheit kann jeden treffen. Es geht mir nicht darum, Kranken einen Stempel aufzudrücken. Was mich interessiert, ist, wenn Menschen leiden - und wenn sie Leiden verursachen. Diesen Menschen müssen wir helfen, um solche Verbrechen zu verhindern. Daher widme ich mich den Kranken, versuche mich in ihr Leiden hineinzuwühlen, um es zu begreifen. Ich will das Böse verstehen - das ist der einzige Ausweg aus der Hölle.

 

Worin sehen Sie die Ursache dieses Leidens, das manche Menschen dazu bringt, mit Äxten auf andere loszugehen oder sich selbst auf einem Marktplatz in Bagdad in die Luft zu sprengen?


Ein Grund, den man aus dem Testament von Mohammed Atta, einem der Attentäter auf das World Trade Center 2001, herauslesen kann, ist das Gefühl, ein Verlierer zu sein.

 

Aber Atta gehörte zur Mittelschicht in Ägypten, er war kein Außenseiter der Gesellschaft.


Dennoch empfand er tiefe Demütigung und Isolation. In unserer Welt regiert der Neo-Liberalismus, jeder steht mit jedem in Konkurrenz. Sie mit Ihren Kollegen, wir im Westen mit den Menschen im Osten. Dieser ständige Druck kann psychische Krankheiten auslösen. Man muss den Tätern kein Verständnis entgegenbringen, aber man muss einsehen: Das sind Monster, die wir mitgeschaffen haben.

 

Inwiefern?


Schuld daran ist auch das Internet. Wir leben in einer Zeit, in der wir nicht mehr miteinander verbunden sind, sondern wo jeder Einzelne mit dem Internet verbunden ist. So vereinsamen wir. Kommunikation ist nichts Verbindendes mehr, sie findet heute weitgehend ohne jeglichen physischen Kontakt statt.

 

Aber das war doch bereits zu Zeiten des Telefons so.


Ja, aber es ist eine Frage der Quantität. Am Telefon verbrachte man nicht Stunde um Stunde in der Illusion, mit irgendwem verbunden zu sein. Man telefonierte kurz, dann traf man sich. Breivik dagegen, das wissen wir heute, saß bisweilen 16 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm. Die daraus entstehende Entfremdung kann zu psychischen Störungen führen.

 

Ihre Diagnose betrifft fast alle Menschen weltweit, wir alle leben im digitalen Zeitalter. Wie könnte man Ihrer Meinung nach das Leiden verhindern, das diese Menschen empfinden und auch das, das sie anderen zufügen?


Indem wir unseren Mitmenschen Aufmerksamkeit schenken. Wir sind überhaupt nicht mehr in der Lage, uns jemandem aufmerksam zu widmen, nicht einmal mehr uns selbst. Wir müssten den Menschen, die aus Syrien und Afghanistan zu uns nach Deutschland oder nach Italien kommen wollen, mit Aufmerksamkeit begegnen - und damit meine ich nicht, indem die Medien über sie berichten, sondern wir alle im täglichen Leben. Wir haben die Aufmerksamkeit für unsere Mitmenschen verlernt, weil wir uns nur noch als Konkurrenten im Kampf ums Überleben sehen.

 

Zur Person: Der italienische Philosoph und Medientheoretiker Franco "Bifo" Berardi, geboren 1949 in Bologna, publizierte Bücher und Essays zu Themen wie der Sprache des Neoliberalismus ("Der Aufstand. Über Poesie und Finanzwirtschaft"). Zuletzt erschien bei Matthes & Seitz sein Buch "Helden. Über Massenmord und Suizid", in dem er der Frage nachgeht, was Massenmörder über den Zustand unserer Gesellschaft aussagen.