Die unsägliche Wahrheit

Erstveröffentlicht: 
01.04.2016

Der junge Italiener Giulio Regeni wurde in Kairo gefoltert und getötet. Seither jagen sich abenteuerliche Thesen und Theorien. Für Italiens Regierung ist der Fall ein Dilemma.

 

Der Auftritt einer trauernden Mutter bewegt Italien. Mit ihrem Mut, ihrer Stärke, dem unterdrückten Schmerz. Paola Regeni, die Mutter von Giulio Regeni, der vor zwei Monaten in Kairo getötet wurde, brach vor einigen Tagen ihr Schweigen und erzählte den Medien vom letzten Bild, das sie im Kopf trage von ihrem Sohn – aus der Leichenhalle. «Sein Gesicht war ganz, ganz klein, so schlimm haben sie ihn hergerichtet. Es war nicht mehr sein Gesicht, ich erkannte ihn nur an der Nasenspitze.» Sie habe nicht weinen können, sagte sie, sie leide unter einer Weinblockade. «Ausgerechnet ich, die ich tausendmal geweint habe wegen eines romantischen Lieds, wegen einer Kinderzeichnung.» Wahrscheinlich löse sich die Blockade erst, wenn sie erfahre, warum ihr Sohn, der in Cambridge studierte und für Forschungszwecke in Kairo weilte, ein fröhlicher und weltoffener junger Mensch aus Triest, gefoltert und getötet wurde. Mit 28 Jahren.

 

Sollte die Wahrheit aber weiterhin verschleiert bleiben, sei sie bereit, das Foto zu zeigen, dieses Bild eines ganz, ganz kleinen Gesichts. Es soll dann auf dem Gewissen derer brennen, die die Wahrheit hintertreiben oder sie nicht entschieden genug fordern.

 

Spuren der Qual


Giulio Regeni war am Abend des 25. Januar in Kairo verschwunden, dem Jahrestag der Revolution. Er wollte von seiner Wohnung im Stadtteil Doqqi in ein Café im Zentrum auf der anderen Nilseite, um dort mit einem Freund dessen Geburtstag zu feiern. Doch Regeni kam nie an. Zuletzt gesehen wurde er bei der U-Bahn-Station Behus, in der Nähe seiner Wohnung. Die Strassen waren an jenem Tag weitgehend menschenleer. Unterwegs waren nur Polizisten und zivil gekleidete Agenten der Staatssicherheit. Das liess bald den Verdacht aufkommen, dass der Sicherheitsapparat am Verschwinden des Studenten beteiligt sein könnte, zumal der Geheimdienst in Ägypten regelmässig Menschen verschwinden lässt. Meist tauchen sie Wochen später in Gefängnissen wieder auf und tragen Spuren von Folter und Misshandlung. Die Regierung bestreitet das vehement. Doch Nichtregierungsorganisationen haben Dutzende Fälle dokumentiert.

 

Am 3. Februar fand ein Taxifahrer Regenis Leiche in einer Grube am Stadtrand. Er war nur am Oberleib bekleidet, und, wie sich später herausstellen sollte, sein Körper war entstellt von den Folgen schwerster Folter, die über Stunden, wahrscheinlicher aber über Tage gewährt haben muss. Er trug Brandmale von Zigaretten am Körper, Blutergüsse von Schlägen, Spuren von Elektroschocks. Nägel waren ihm ausgerissen worden, er hatte Blutungen im Kopf erlitten. Teile seiner Ohren waren abgetrennt. Sieben Rippen waren gebrochen – und ein Halswirbel, vermutlich die Ursache seines Todes.

 

Es begann ein Reigen der Theorien und Versionen. Ein hoher Polizeioffizier in Gizeh – der Provinz, in der die Leiche gefunden wurde, sprach sofort von einem Verkehrsunfall. Bald wurde bekannt, dass der Offizier selbst schon einmal wegen Folter eines Gefangenen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Noch am selben Tag trat der Staatsanwalt auf und sagte, Regenis Körper weise Anzeichen von Misshandlungen auf. In der Folge kamen immer neue Thesen dazu – nur jene Version nicht, die Italiens Behörden, viele ausländische Beobachter und auch Regenis Familie für die wahrscheinlichste halten, nämlich die, dass Elemente des Sicherheitsapparates für den Tod des Doktoranden verantwortlich sind.

 

Innenminister Magdi Abdel Ghaffar, der früher Chef der Terrorabwehr des Geheimdienstes war, bestreitet jede Verwicklung: Solche Unterstellungen seien inakzeptabel, sagte er. Regeni sei nicht festgenommen worden, und sein Ministerium habe erst zwei Tage nach seinem Verschwinden von dem Fall erfahren.

 

Ein heikles Thema


Dennoch hält sich der Verdacht. Regeni hatte an einer Doktorarbeit über informelle Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen gearbeitet. In Ägypten ist das ein heikles Thema, weil das Regime diese Bewegungen als Bedrohung auffasst. Zudem schrieb Regeni unter einem Pseudonym einige Artikel für das linke italienische Blatt «Il Manifesto». Das dürfte der ägyptischen Staatssicherheit kaum verborgen geblieben sein. Ausländer hat die Behörde ohnehin im Visier, ganz besonders Leute, die sich in regimekritischen Kreisen bewegen.

 

Dann, vergangene Woche, teilte das Innenministerium plötzlich mit, man habe eine Bande von vier Männern aufgespürt, die sich als Polizisten ausgegeben und Ausländer ausgeraubt hätten. Die Männer hätten das Feuer auf Polizisten eröffnet, als diese versuchten, sie zu stellen. Darauf hätten die Beamten alle vier Verdächtigen erschossen. Später gaben die Ermittler bekannt, sie hätten Regenis Pass, seine Studentenausweise, seine Kreditkarte und sein Handy im Haus der Schwester eines der getöteten Verdächtigen gefunden, in einer roten Tasche mit italienischer Flagge.

 

Doch warum sollten mutmassliche Entführer Regeni gefoltert haben, wenn sie doch nur sein Geld wollten? Und warum sollten sie seinen Pass und andere persönliche Gegenstände aufbewahren, wenn sie ihn getötet hätten? In Italien nahm man diese bislang letzte, zumindest abenteuerliche Version als einzige Verhöhnung auf.

 

Ägyptens Generalstaatsanwalt höchstpersönlich hat die Ermittlungen nun übernommen und ein neues Untersuchungsteam aufgestellt. Es seien Beweisstücke an verschiedenen Orten gefunden worden, begründete er seinen Entscheid. Und diese Beweisstücke wollen die Italiener sehen, und zwar allesamt – am kommenden Dienstag, dem 5. April. Dann werden die ägyptischen Ermittler in Rom von ihren italienischen Kollegen erwartet.

 

Das Datum gilt den Italienern als Ultimatum. Die Ägypter sollen dann endlich zeigen, dass sie es ernst meinen mit der Wahrheitssuche, dass sie die Mörder Regenis tatsächlich finden, benennen und bestrafen wollen. Mitbringen sollen sie zum Beispiel die Listen mit allen Telefonnummern, die Regenis Handy in den zwei, drei Monaten vor dessen Tod angerufen haben, und die Mitschnitte aller bisherigen Verhöre. Man werde sich nicht mit einer «Scheinwahrheit» zufriedengeben, sagt Italiens Premier Matteo Renzi, sondern nur mit der «echten Wahrheit». Die Würde der Familie und des Landes stehe auf dem Spiel.

 

Renzis Scheu


Renzi muss so reden. In den vergangenen Wochen warf ihm die Opposition vor, sein Protest sei nur Pantomime, Ägypten führe Italien vor. Der Druck wächst mit jeder fragwürdigen These aus Kairo etwas mehr, mit jeder Aktion für Regeni, mit jeder unvergossenen Träne der Mutter. Es gibt Fackelläufe und Sitzproteste für Regeni, Petitionen in den sozialen Medien. Der Appell «Wahrheit für Regeni» steht gedruckt auf Spruchbändern vor Hunderten Gemeindehäusern und vor Regionalverwaltungen. Am Wochenende sollen auf allen Fussballplätzen des Landes, Serie A und B, Trikots mit der Aufschrift «Verità per Giulio Regeni» getragen werden.

 

Und doch scheut sich Renzi vor einem allzu eklatanten Vorgehen gegen Kairo. Es war schon die Rede davon, ob man nicht den italienischen Botschafter nach Rom abberufen sollte, um ein diplomatisches Zeichen zu setzen, oder ob man Ägypten auf die Liste unsicherer Länder setzen sollte, was dessen Fremdenverkehr träfe. Beides würde die Beziehungen der beiden Partner arg belasten, beides wurde bisher verworfen.

 

Es sind historisch gewachsene, wirtschaftlich bedeutende Beziehungen. Italien ist Ägyptens zweitwichtigster Handelspartner in Europa. Man tauscht Güter und Dienste für mehr als 5 Milliarden Euro jährlich aus, in allen möglichen Sektoren – und es wird jedes Jahr etwas mehr. Der italienische Energiekonzern ENI ist seit 1954 in Ägypten tätig und fand erst vor einigen Monaten ein gigantisches Gasfeld vor der ägyptischen Küste, geschätzte 850 Milliarden Kubikmeter Gas. Ägypten würde damit seinen Bedarf für etliche Jahre abdecken können, autonom. Und die ENI soll es fördern. Man will sich also nicht verkrachen, um fast keinen Preis.