Bericht vom 19.12.2015: Aufenthalt im besetzten Haus in Thessaloniki und die Situation in Mazedonien nach der Räumung von Idomeini
Vernetzung und Support in Thessaloniki
Seitdem wir vor ca. 6 Tagen in Thessaloniki angekommen sind, wohnen wir in einem wunderschönen großen Haus, das vor eineinhalb Wochen als Unterkunft für zurückgedrängte Refugees besetzt wurde. Es liegt zentral in der Stadt und hat Platz für fast 150 Menschen. Aktuell wohnen wir hier mit etwa 85 Leuten, es werden aber täglich mehr.
Die Stadt Thessaloniki hat das Haus vor vielen Jahren einer Kirche geschenkt, die seitdem nichts daraus gemacht hat. Es war schon 2006 besetzt, dann 2013 nocheinmal. Es wurde jedes Mal geräumt und dann wieder besetzt. Das Squat (die Besetzung) ist momentan super wichtig für Menschen, die am Grenzübergang Idomeni aufgrund “falscher” Nationalität nicht nach Mazedonien gelassen werden, deren offizielle griechische Aufenthaltspapiere abgelaufen sind und/oder die der Abschiebung in griechische Internierungs- und Abschiebelager auf den Inseln entkommen wollen. Gleichzeitig ist das Squat – neben einem solidarischen Zusammenleben und dem politischen Akt der Besetzung an sich- ein Ort für politische Vernetzung zwischen transnationalen Aktivist*innen und Refugees, um gemeinsam Perspektiven für die “illegalisierten” Refugees zu entwickeln, Öffentlichkeit für die rassistische EU-Politik zu schaffen und praktische Solidarität zu zeigen.
Jeden Tag gibt es ein oder mehrere Plena bzgl. der räumungsbedrohten Situation des Hauses, des Zusammenlebens und der Lage der Leute, die weiterreisen wollen. Es ist unsere Basis des Aktivismus an den Balkangrenzen, der Versuch einer größeren Vernetzung, sowie der Aufbau einer Unterstützungsstruktur von unten.
Die Plenumsstrukturen sind teilweise schwierig, da sie überwiegend auf Griechisch stattfinden und eine Flüsterübersetzung nicht immer gut gelingt. Gestern hatten wir jedoch ein großes Treffen für alle auf Englisch mit lauter Übersetzung auf Arabisch. Es ging darum, über die Situation in Mazedonien zu berichten: über Gefahren, aber auch darüber, dass es trotz aller Kriminalität auch Menschen schaffen, Deutschland oder andere EU-Staaten zu erreichen. Abends waren wir alle zusammen auf einer antirassistischen Demonstration, wo auch Menschen ohne Papiere die Möglichkeit hatten ihre Forderungen zu stellen und zu protestieren – mit UNHCR-Decken als Transparente :)
Eine Räumung des Hauses steht in den kommenden Tagen an. Der Pastor, dem das Haus gehört, war vor einigen Tagen hier und hat die bunten Kirchenfenster kaputtgeschlagen, wahrscheinlich als Drohung. Es gibt aber auch immer wieder solidarische Menschen, die hier vorbeikommen und uns Essen oder Sachen für die Kinder bringen. Viele der hier lebenden Menschen, besonders diejenigen, deren Papiere abgelaufen sind (Sanspapiers) haben Angst vor Polizeikontakt und der permanent drohenden Verhaftung und Abschiebung. Überwiegend geht es um die sogenannten “Wirtschaftsflüchtlinge”. Viele Menschen, die im Squat ankommen, stammen aus Marokko, Algerien, Iran, Gambia, etc. Mit einer solchen Staatsangehörigkeit haben die Flüchtenden praktisch keine Chance auf eine legale Reise über den Balkan. Alle haben ihre guten Gründe ihr Herkunftsland zu verlassen und nach einem anderen, vielleicht besseren Leben woanders zu suchen. Das in Frage zu stellen, darf einfach nicht sein! Es ist eine frustrierende und teilweise verzweifelte Situation für die meisten. Da legale Fluchtwege derzeit lediglich für syrische, irakische und afghanische Refugees bestehen – und auch das wird vermutlich nicht mehr lange der Fall sein – sind alle anderen gezwungen, sich auf lebensgefährliche, entwürdigende und illegalisierte Routen zu begeben. Sie fallen dabei oft in die Hände von kriminellen Mafiabanden in Mazedonien oder Bulgarien, die die Menschen überfallen, abziehen, ausrauben und misshandeln. Dennoch gibt es gerade keine andere Möglichkeit außer sich über Grenzen “schleppen” zu lassen.
Aber auch schöne Begegnungen nehmen hier viel Raum ein. Gemeinsames Essen, Halaitanzen, Musikmachen, voneinander lernen. Eine Iranerin hat hier ihr Kopftuch abgelegt, sich die Haare abgeschnitten und will sich jetzt tätowieren und piercen lassen :) Es entstehen Freundschaften und Beziehungen.
Immer wieder kommen Menschen zum Squat zurück, die es bereits zwei- oder dreimal nach Mazedonien oder Bulgarien geschafft haben und dann in den Wäldern oder Bergen entweder von der Mafia überfallen oder von der (oft in die Mafiastrukturen involvierte) Polizei aufgegriffen und zurück nach Griechenland gedrängt wurden. Viele mussten gewaltsame Erfahrungen machen. Sie können weder weiter noch zurück, ohne sich wissentlich in Lebensgefahr zu begeben.
An der griechischen Grenze
Ein Teil unserer 6er-Crew ist neulich die griechische Grenze abgefahren, um Bordermonitoring jenseits der offiziellen Wege zu machen. Aber aufgrund der extrem kriminalisierten Handlungsoptionen (jahrelange Haft für Transport von “Illegalisierten” sogar innerhalb der Landesgrenzen!), blieb uns vor allem das Verteilen von Informationen, Ausstatten mit Landkarten, Taschenlampen, Geld etc.
Wir waren einen Tag in Idomeni, am griechisch-mazedonischen Grenzübergang, wo mazedonisches Militär rassistische Grenzkontrollen macht und Menschen nach den genannten Nationalitäten selektiert. Es wurde vor wenigen Wochen ein einige Kilometer langer Grenzzaun mit NATO-Stacheldraht gebaut, der 24h/7 von Polizei und Militär – mit Panzern(!!) – bewacht wird. Hier kommen viele Busse mit Flüchtenden aller Nationalitäten an. Diese Menschen werden einzeln kontrolliert und wenn die Nationalität nicht stimmt, abgewiesen und (kostenpflichtig!) zurück nach Athen transportiert. Wo bis vor zwei Wochen noch ein großes Camp war, wo Tausende protestiert haben und in den Hungerstreik gegangen sind weil sie nicht weitergelassen wurden, sieht mensch nach der Räumung nur noch die Reste: Zelte, Decken, Thunfischdosen und Slogans der Protestierenden. Es ist ein krasser Anblick. All die Menschen wurden nach der Räumung des Idomeni-Camps nach Athen gebracht; in ein Fußballstadion, das vor drei Tagen wegen einer Veranstaltung ebenfalls geräumt wurde. Alle zurückgedrängten Menschen werden nun in große Lager auf die griechischen Inseln gebracht und von dort aus entweder zurück in die Türkei oder direkt in die Herkunftsländer abgeschoben. Was sich hier gerade abspielt ist Menschenverachtung und Rassismus pur!
Vernetzung und Austausch in Mazedonien
Wir sind anschließend nach Skopje, in die Hauptstadt Mazedoniens, gefahren, um uns dort im einzigen existierenden sozialen Zentrum mit lokalen Aktivist*innen zu treffen und mehr über die Situation und antirassistischen Aktivismus im Land zu erfahren. Nach den ganzen schrecklichen und gewaltsamen Erlebnissen mit Mafia und korrupten Strukturen, war es gut zu sehen, dass es dort auch Leute gibt, die politisch und antirassistisch aktiv sind.
Dort wurde uns erzählt, dass noch bis zum 20.Juli 2015 alle Refugees, die Mazedonien durchquert haben, “illegalisiert” worden sind es deshalb für sie keine Möglichkeiten gab, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Daher liefen viele Menschen an den Zugschienen entlang (ca. 6 Tage dauert es Mazedonien zu Fuß zu durchqueren). Über 40 Menschen wurden dabei von Zügen überfahren und sind gestorben. Hunderte sind diesen Sommer auch die Highways entlanggegangen und immer wieder wurden Leute auf ihrem Weg von Mafiabanden überfallen und ausgeraubt. Es gibt scheinbar nicht viele Menschen, die Refugees unterstützen, aber einige, die z.B. nachts die Highways abfahren, um Leute, die zu Fuß unterwegs sind oder auf “Schlepper” warten mit Essen, Wasser, Schuhen etc. zu versorgen. Ein Imam in Skopje, der seine Moschee im Sommer für Menschen auf der Flucht geöffnet hatte, um dort Essen auszugeben, wurde verhaftet und sitzt jetzt für 5 Jahre im Gefängnis.
Bei dem Treffen mit den mazedonischen Aktivist*innen haben wir zusammen beschlossen, ein transnationales Vernetzungstreffen in Skopje zu machen. Das findet heute Abend statt (Samstag, 19.12.15). Es werden aktive Leute aus Mazedonien, Bulgarien, Griechenland, Slowenien, evtl. Kroatien und Deutschland teilnehmen.
Auf der Suche nach unseren Bekannten
Am nächsten Tag haben wir uns aufgeteilt. Ein Auto ist nach Tobanovce in das Camp an der mazedonisch-serbischen Grenze gefahren, das andere in das Registrierungszentrum in Skopje.
Im Zentrum haben wir versucht die Spur von den drei Menschen, die wir bei der ersten Durchfahrt durch Mazedonien am Highway, kurz nachdem sie überfallen wurden, getroffen haben, zu verfolgen um herauszufinden, wohin die Polizei sie gebracht hat. Sie wollten uns im Zentrum keine Informationen geben, haben uns aber schließlich eine asylsuchende Person “mitgegeben”, um uns das Headoffice von MYLA (Macedonian Young Lawyers Association) zu zeigen. Diese Frau erzählte uns, dass sie vor zwei Monaten aus München zurück nach Serbien abgeschoben worden war (Stichwort Balkanaktionsplan!). Sie und ihre Kinder wurden nachts von der Polizei geweckt, hatten 15 Minuten Zeit um ihre Sachen zu packen um dann in Polizeibegleitung mit dem Flugzeug nach Serbien abgeschoben zu werden. Widerlich! Aus Mazedonien muss sie in den nächsten acht Tagen ausgereist sein. Sie will versuchen in die Schweiz zu kommen.
Leider konnten wir keine Informationen über unsere Refugee-Freunde herausfinden und können nur hoffen, dass sie nicht in irgendeinem Abschiebegefängnis sitzen, nach all den schrecklichen Erlebnissen, die sie schon machen mussten.
Die Frau hat uns erzählt, dass in dem Registrierungzentrum gerade einmal neun Personen sind, weil niemand in Mazedonien bleiben will.
Begegnungen auf dem Highway – Schlepper
Auf der Rückfaht nach Thessaloniki haben wir nachts eine Person allein und zu Fuß auf dem Highway getroffen – mitten im Nirgendwo. Er wirkte panisch und es war schwierig zu kommunizieren, da er gehörlos war. Wir konnten ihm zumindest eine Taschenlampe, Wasser und ein bisschen Essen mitgeben.
20 Minuten später auf einem leeren Rastplatz haben wir Pause gemacht. Es standen zwei Personen mit Gepäck draußen und plötzlich kam ein kleines Auto angerast – vermutlich die “Schlepper”. Sie haben geparkt, Licht und Motor abgeschaltet und gewartet. Wir hatten das Gefühl die Aktion durch unsere Anwesenheit zu blockieren. Deshalb sind wir losgefahren. Dann sprang einer der beiden Typen aus dem Auto und hat uns zum Anhalten gewunken. Für uns fühlte sich die Situation bedrohlich an, weshalb wir so schnell wir konnten wegfuhren.
Durch viele Gespräche mit LEGIS (einer Geflüchtete unterstützende Organisation in Mazedonien), den Aktivist*innen, MYLA und Refugees, die von ihren Erfahrungen berichten und unseren eigenen Erlebnissen bekommen wir gerade immer mehr das Gefühl, einen kleinen Einblick in die Schlepper- und Mafiastrukturen zu bekommen. Es wirkt wie ein großes, organisiertes, kriminelles Netzwerk, das die Angewiesenheit der illegalisierten Flüchtenden ausnutzt – als Resultat der EU-Politik, die Menschen Bewegungsfreiheit systematisch verweigert und somit dazu beiträgt, dass kriminelle Strukturen entstehen können und andere ihnen ausgeliefert sind.
Solidarität kennt keine Grenzen! Open all borders for everyone!
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http://openborder.noblogs.org/post/2015/12/20/bericht-vom-19-12-2015-auf...
see also http://openborder.noblogs.org/post/2015/12/22/call-for-supporting-refuge...