Sie wollten verhindern, dass Neonazis ihren Kiez wie angedroht in Schutt und Asche legen – und dann besorgten sie es selbst: Bis zu 1000 militante Linksautonome haben am Sonnabend im Leipziger Süden für teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände gesorgt. Die Bilanz dieser schlimmsten Krawalle seit Jahren: 69 zum Teil schwer verletzte Polizisten (zur Zahl der verletzten Gegendemonstranten lagen noch keine konkreten Angaben vor), 50 demolierte Dienstfahrzeuge, 23 Tatverdächtige in Gewahrsam, 50 Strafverfahren wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz sowie wegen Drogendelikten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt vor allem gegen Steinewerfer wegen schweren Landfriedensbruchs. Nach Angaben des sächsischen Innenministeriums waren insgesamt 1600 Polizeikräfte aus vier Bundesländern im Einsatz.
Aufgrund von martialischen Aufrufen diverser Neonazi-Kameradschaften und aus der linksextremen Szene hatten Stadt und Polizei ohnehin Gewalttätigkeiten befürchtet (die LVZ berichtete). Eine derartige Eskalation sorgte dann aber doch für einen nachhaltigen Schock. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) kritisierte gestern Abend gegenüber dem MDR den Verfassungsschutz: „Wie ist es möglich, dass der Verfassungsschutz so wenig weiß und dass wir nicht informiert sind?“
Während die Rechtsextremisten am Sonnabend – nach Angaben der Initiative „Durchgezählt“ 130 bis 150 – auf einer von der Polizei abgesperrten 500-Meter-Route von 14.30 bis 15.50 Uhr weitgehend ungestört aufmarschierten, wüteten weit mehr als einen Steinwurf entfernt die Linksautonomen über Stunden hinweg.
Barrikaden brannten in der Südvorstadt, Scheiben von Geschäften gingen zu Bruch, Haltestellen und Fahrzeuge wurden zerstört. Eine Orgie der Gewalt, begleitet von John Lennons Song „Imagine“, der über die Karl-Liebknecht-Straße schallte, während Müllcontainer in Flammen aufgingen.
Die vermummten Gewalttäter brachen faustgroße Steine aus dem Gehweg heraus und schleuderten diese auf die Einsatzkräfte. Allein am Südplatz war die Anzahl der Wurfgeschosse der Polizei zufolge „deutlich dreistellig“. Die Chaoten griffen sogar Feuerwehrleute und andere Einsatz- und Hilfskräfte an, so Polizeisprecher An-dreas Loepki. Bei den schweren Straßenschlachten am Südplatz und an der Kreuzung Karl-Liebknecht-/Kurt-Eisner-Straße gelang es der Polizei erst mit mehreren Wasserwerfern, die Autonomen in Schach zu halten. Die Beamten setzten auch Reizgas ein, das rund um die Karl-Liebknecht-Straße auch bei Unbeteiligten für tränende Augen und zeitweise erheblichen Hustenreiz sorgte.
„Die acht friedlichen Demonstrationen, die als Protest gegen den Aufzug der Rechtspopulisten stattfanden, waren in diesen Gewaltexzessen wenig wahrnehmbar“, so Loepki. „Zudem konnten sich die Gewalttäter immer wieder und viel zu oft unter friedliche Protestteilnehmer mischen, wobei es aus polizeilicher Sicht wünschenswert gewesen wäre, wenn sich die friedlichen Protestteilnehmer stärker abgegrenzt hätten.“
Die militante linke Szene setzte in der Auswertung andere Prioritäten. „Randalemeister Leipzig, autonome 1te Liga! Den Titel habt ihr euch redlich verdient und mit der netten kleinen Weihnachtsfeier heute gekrönt“, heißt es in einem Kommentar im Szeneportal Indymedia. „Hamburg gratuliert zum Sieg!“ Andere üben maßvolle Manöverkritik: „Etwas mehr Entschlossenheit wäre angebracht gewesen“, so ein anonymer Schreiber. „Ca. 1000 Leute bekommst Du so schnell nicht wieder zusammen.“ Und ein weiterer Indymedia-Nutzer merkt an: „Dennoch habe ich das Gefühl, dass auf direkte Konfrontation mit dem Bullenvolk (direkt an den Nazirouten) zurückhaltend und zögerlich reagiert wird. Wieso? Lasst uns zukünftig von allen Seiten verstärkt drangsalieren.“ Dass man überhaupt eine derartige Randale anzetteln konnte, hat einem Indymedia-Kommentator zufolge vor allem einen Grund: „Es klappt trotzdem nur, weil die Politik in LE Euch lässt und in allem unfähig ist …“
Die Polizei wollte nach den massiven Krawallen nichts mehr zulassen. Polizeisprecherin Maria Braunsdorf berichtete gestern auf LVZ-Nachfrage von einer „ziemlich starken Nachsicherung“. Es seien nach wie vor sehr viele Einsatzkräfte auf der Straße. So wurde etwa der schon Anfang des Jahres von Autonomen attackierte Polizeiposten in Connewitz in den Nachtstunden besonders bewacht. Zumal es Hinweise auf mögliche weitere Krawalle gab. In Netzwerken der linken Szene kursierte ein Aufruf, in den sogenannten ACAB-Tag reinzufeiern. Das steht für die häufig genutzte Beleidigung „All Cops Are Bastards“ und wird gemäß der Buchstabenfolge im Alphabet am 13. Dezember begangen. Doch nach Angaben der Polizei kam es in der Nacht und gestern zu keinen weiteren schweren Zwischenfällen.
Während der Neonazi-Demo ist offenbar die Wohnung eines der Organisatoren verwüstet worden. Gestern Nachmittag tauchte auf dem linken Szeneportal Indymedia ein Bekennerschreiben auf. Demnach haben Autonome bei Ex-Legida-Chef Silvio Rösler in Leutzsch eingebrochen. Rösler war Anmelder des Aufzugs der rechtsextremen „Offensive für Deutschland“. „Silvios Inneneinrichtung, seine Mikrowelle, Ofen, Cerankochfeld, und 2 Apple Geräte (Ipad, Imac) fielen einer Axt, 6 Liter Bitumen und unserer Gegnerschaft zur politischen Rechten zum Opfer“, so die anonymen Verfasser. Von der Polizei gab es dazu noch keine Bestätigung. F. D.
Kommentar
Die einen (Neonazis) provozieren gezielt mit der Anmeldung von Demonstrationen ausgerechnet im linksalternativ geprägten Stadtviertel Connewitz, die anderen (Linksautonome) springen übers hingehaltene Stöckchen und missbrauchen die Situation für Randale mit der Polizei. Politische (Demo-)Aussagen? Fehlanzeige auf beiden Seiten. Die Polizei? Gerade einmal so stark, um das Schlimmste zu verhindern. Die „normalen“ Gegendemonstranten? Gelingt es nicht, sich deutlich von den linken Krawall-Touristen aus halb Deutschland zu distanzieren. Der Ruf „Keine Gewalt“ verhallt in den Straßenschluchten, wird von beißendem Qualm und eiskaltem Wasser erstickt.
Hier wird ein hohes Gut in Deutschland, das freie Versammlungsrecht, mit Füßen getreten. Denn mit einer Demonstration im eigentlichen Sinne hat all dies nichts mehr zu tun. Leipzig darf kein Dauerschauplatz für diese Gewalt werden. Leipzig ist es leid, mit jährlich knapp 40 linksautonomen Anschlägen von Chaoten zum Randalemeister dieser Republik gekürt zu werden. Leipzig ist es leid, fast jede Woche durch die Legida-Anhängerschaft mit ihren rechten Demos und daraus resultierenden Gegenveranstaltungen in eine Art Ausnahmezustand-Geiselhaft genommen zu werden.
Zu alledem schweigen, den Exzess verharmlosen, dulden – das alles hilft Leipzig nicht weiter. Dass dazu gestern klare Worte auch von OBM Burkhard Jung fielen, ist gut. Noch besser sind konkrete Taten. Dazu ist der Einsatz aller klar Denkenden gefragt. Seit diesem Wochenende des Schreckens in Leipzig mehr denn je.