Von Joachim Fahrun
Kreuzbergs Myfest hat den 1. Mai befriedet. Jetzt steht es vor dem Aus. Denn die Wurzeln sind vergessen, es geht vor allem ums Geld.
Die wogende Masse der Köpfe war einfach zu dicht. Kein Durchkommen für die unangemeldete Demonstration der Linksradikalen auf der Oranienstraße. Die Einpeitscher befahlen den Rückzug. An jenem 1. Mai 2011 wollte das letzte Mal ein Protestzug über die Hauptmeile des Stadtteils SO 36 ziehen. Aber die Revolution musste über unbedeutende Nebenstraßen ausweichen. Die Feiernden waren in der Überzahl. Und die sogenannten autonomen Demonstranten verzichteten darauf, sich den Weg gegen Festbesucher freizukämpfen, wie sie es einige Jahre zuvor gegen behelmte Polizisten noch getan hätten. Zuletzt klang es ziemlich hilflos, wenn die sich selbst als revolutionäre Urkreuzberger bezeichnenden Protestler ihr historisches Terrain zwischen Oranienplatz, Mariannenplatz und Lausitzer Platz reklamierten. Es sei ja nicht ganz einfach, so hieß es 2014 in einem Aufruf, als Demo in dem Gewühl rund um das Myfest erkennbar zu bleiben.
Die Idee, den traditionellen Kampfplatz am 1. Mai mit einem großen Straßenfest zu befrieden, ist voll aufgegangen. Wo sich noch 2001 Tausende Polizisten, Autonome und erlebnisorientierte Krawall-Kids stundenlange Straßenschlachten lieferten, tanzten in den vergangenen Jahren Zigtausende Partygäste zu Elektrobeats, kurdischen Klängen oder Punkrock.
Doch trotz dieser Erfolgsgeschichte wird das Myfest nun infrage gestellt. Niemand kann sagen, ob 2016 die 14. Ausgabe folgen wird. Überlegungen, das Festgelände abzuzäunen und die Organisation an einen einzelnen Impresario zu vergeben, wurden verworfen. Das hätte erst recht Ärger gegeben, mitten im Wohngebiet. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) kann die Frage nicht beantworten, ob es im kommenden Jahr wieder ein Fest geben wird.
In den unübersichtlichen Kreuzberger Strukturen, wo oft Drohungen, Häme und Besserwisserei die Debatten begleiten, sind die Interessenlagen nicht einfach auszumachen. Gespräche laufen überaus vertraulich. "Mit uns hat noch keiner verhandelt", sagt Soner Ipekcioglu, Vorstand der inzwischen als Verein eingetragenen Initiative, die das Fest seit Jahren gemeinsam mit dem Bezirk organisiert hat. Monika Herrmann sagt, natürlich sei man mit den Initiatoren im Gespräch.
Inzwischen ziehen Anwohner vor Gericht
Dabei haben sich die Fronten verschoben. In den frühen 2000er-Jahren waren es die Autonomen, die den Festorganisatoren vorwarfen, mit einem kommerziellen Event den "Kiez zu spalten" im Kampf gegen Kapital und Polizei. In endlosen Gesprächen gelang es, gemäßigte Autonome, Wirte, Gewerbetreibende und Anwohner mit Polizei und Bezirksamt auf das gemeinsame Ziel einzuschwören.
Inzwischen aber ziehen Anwohner dagegen vor Gericht, dass das Myfest eine politische Veranstaltung sei. Auch die Polizei möchte das Fest nicht länger als solche klassifizieren und somit einen Teil der Verantwortung übernehmen. Mit dieser Konstellation als Demonstration blieben den Machern ähnlich wie einst bei der Love Parade im Tiergarten zahlreiche Auflagen erspart, die für ein normales Straßenfest gemeinhin gelten. Die Bezirksbürgermeisterin sorgte sich deshalb plötzlich um die Sicherheit und scheut sich, ein privates Fest offiziell auszurichten. Wenn jemand bei einer Panik in den engen Straßenschluchten zu Schaden käme, wäre der Veranstalter finanziell und auch persönlich haftbar, siehe Love Parade in Duisburg. Die Polizei hat zwar etwas gegen das Myfest als politische Veranstaltung, möchte aber das wirksamste Instrument gegen Kreuzberger Randale nicht verlieren.
Denn es ging in SO 36, dem historischen Postzustellbezirk, auch immer um den Ort. 1987 brannte an der Skalitzer- Ecke Wiener Straße, wo sich heute eine Moschee erhebt, ein Bolle-Supermarkt. Demonstranten hatten den Kiez Richtung Westen mit Barrikaden abgeriegelt. Stundenlang traute sich eine überrumpelte Polizei nicht nach SO 36 hinein. Kurz lebte zwischen Mauer und Kottbusser Tor der Traum von einer autonomen Republik Kreuzberg, ohne "Bullen und Kapitalisten". So entstand in der Szene der Mythos vom Revolutionären 1. Mai. Auch wenn die Hausbesetzer in den frühen 90er-Jahren nach dem Mauerfall nach Prenzlauer Berg zogen und heute bürgerliche Gebiete wie der Helmholtzplatz vorübergehend Schauplatz von Straßenkämpfen wurden, blieb Kreuzberg doch das eigentliche Terrain, um den Kampf der Straße gegen Staat, Imperialismus, steigende Mieten und was auch immer auszufechten.
Bis die Nachbarn der Krawalle müde wurden. Der ursprünglich politische Charakter der Straßenkämpfe war selbst aus Sicht vieler Altautonomer zunehmend zu einem Randale-Rummelplatz für Bürgerkinder aus der Provinz und abenteuerlustigen Jung-Türken mutiert. Silke Fischer, früher selbst Hausbesetzerin, Anwohnerin der Oranienstraße und später kurz Kreischefin der Bezirks-SPD, hatte die Idee, den Kiez mit einem Fest zu befrieden. Was damals umstritten war, findet heute allgemein Anerkennung. "Ich war nie der große Freund des Festes", sagte selbst der streitbare CDU-Kreisvorsitzende Kurt Wansner, der mehr als einmal mit seinem CDU-Stand von der Oranienstraße vertrieben worden war. "Aber inzwischen halte ich es für den richtigen Ansatz."
Das Myfest war nie ein klassisches Straßenfest. Es bezog seine Legitimation aus der Teilnahme der Menschen im Kiez. Kneipen und Plattenläden organisierten die Bühnen samt Programm. Rapper aus dem Jugendzentrum zeigten ihr Können. Familienclans verdienten gutes Geld, indem sie den ganzen Tag Bier und Köfte an mehr oder weniger provisorischen Ständen verkauften. Jugendliche unterstützten in farbigen Leibchen die professionellen Sicherheitsleute. Aber der Erfolg des Festes, der Massenandrang und die ökonomischen Erträge zerstörten die fragile Einigkeit im Kiez.
Lukratives Geschäft für Betreiber der 13 Bühnen
Der Bezirk verzichtet darauf, die Meinung der Anlieger abzufragen. Denn sehr viele sind gegen das Fest in der gegenwärtigen Form. Sie haben genug von Krach, Grillrauch und urinierenden Menschen im Hausflur. Die Nachbarn haben den Eindruck, dass eine kleine, gut vernetzte Clique an diesem Tag einen Reibach macht. "Da stehen dann solche Hilfssheriffs im Laden und durchsuchen, ob wir hier vielleicht irgendwo Bier versteckt haben", berichtet eine junge Frau, deren Familie seit 30 Jahren ein Geschäft für Elektronik, Souvenirs und Allerlei betreibt. Denn das lukrative Geschäft teilen sich die Betreiber der 13 Bühnen, die als einzige neben den regulären Kneipen Bier verkaufen dürfen am 1. Mai. Andere Läden müssen an dem Feiertag sogar schließen.
"Drei, vier Leute organisieren das und verdienen, das ist ein unfairer Wettbewerb, der durch den Bezirk gefördert wird", schildert die türkischstämmige Geschäftsfrau von der Oranienstraße ihren Eindruck. Der Köfte-Verkauf sei fast vollständig in der Hand einer Familie. Das Fest sei gut, weil es die Randale unterdrücke. "Natürlich sind wir froh, dass unsere Scheiben nicht mehr eingeschlagen werden", sagt die Geschäftsfrau. Aber sie fragt sich, warum die Organisation und die lukrativen Stände nicht öffentlich ausgeschrieben werden an örtliche Gewerbetreibende und Anwohner, sondern unter der Hand vergeben werden. Denn nur manche Nachbarn dürfen mitmachen, andere würden von den "Hilfssheriffs" abgemahnt. Als ein Laden kürzlich eine Treppe vor seinem Schaufenster aufbaute, um dort gegen geringe Gebühr Selfie-Fotos vor der wogenden Menge in der Oranienstraße anbot, sei das verboten worden. Beim nächsten Mal hätten die Organisatoren die Idee dann selbst übernommen.
Soner Ipekcioglu vom Myfest-Verein sagt, es spreche nichts dagegen, wenn Anwohner am Myfest Geld verdienen, reich seien die meisten ja nicht. Man sei bereit, die Zahl der Bühnen zu reduzieren, um mehr Platz zu lassen. Aber Kosten für Müllabfuhr und mehr Sicherheit seien nicht zu erwirtschaften. Wenn das gefordert würde, könne das Fest nicht stattfinden. An diesem Problem war schon die Love Parade gescheitert, nachdem ihr der Status einer Demonstration abgesprochen worden war.
Die Gründerin will sich öffentlich nicht mehr äußern
Ipekcioglu, der mit seiner Kommunikationsagentur unter anderem die Internetseite des Festes erstellt, vermutet hinter dem derzeitigen Hickhack einen Streit ums Geld. Der Bezirk wolle, dass der Senat mehr bezahle. Der SPD-Abgeordnete Björn Eggert will deshalb eine Anfrage im Abgeordnetenhaus stellen und wissen, um wie viel teurer die Randaleschäden seien im Vergleich zu einer Unterstützung des Festes. "Es ist wichtig, dass es weitergeht", so der Kreuzberger Politiker. Denn viele Menschen würden am 1. Mai ohnehin nach SO 36 kommen, ganz egal, was dort stattfinde.
Bisher zahlte der Senat dem Bezirk 215.000 Euro für das Fest. Die Bühnen kosten laut Bezirksamt allein 95.000 Euro, die Security 53.000, Organisation und fixe Kosten zusammen mehr als 30.000 Euro. Geld sei nicht das Problem, um das es gehe, sagt die Bezirksbürgermeisterin. Daran werde das Fest nicht scheitern. Aber: "Aus heutiger Sicht ist die Frage ,Wird es ein Myfest 2016 geben?' durch das Bezirksamt nicht zu beantworten", sagte Bezirksbürgermeisterin Herrmann.
Es sieht so aus, als fräße die Revolution nun ihre Kinder. "Der ursprüngliche Gedanke, das Verbindende, der Anlass des Myfestes spielt nach 13 Jahren Myfest keine Rolle mehr", schrieb die Gründerin Silke Fischer neulich in einer Internetdiskussion. Öffentlich äußern will sie sich in der aufgeheizten Atmosphäre nicht. Es seien inzwischen zwei Generationen herangewachsen, über die das Thema Randale auf der Oranienstraße hinweggegangen sei. Man könne darüber jammern und nostalgisch zurückschauen, so Fischer. Sie plädiert stattdessen dafür, das Festgelände auszuweiten über das Kottbusser Tor hinaus und bis zum Schlesischen Tor, um die Masse zu entzerren und die Belastung zu verteilen. Aber auch Fischer ist für viele Myfest-Macher und -Profiteure inzwischen ein rotes Tuch. Ihr Mann ist einer der Kläger gegen das Fest als politische Veranstaltung.