Die gebürtige Dresdnerin und jetzt in Berlin lebenden Publizistin und DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier (65) äußert sich im Interview über 25 Jahre deutsche Einheit, ihre DDR-Sozialisation und die Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland.
Leipzig.
Frau Klier, 1988 hatte die DDR Sie gegen Ihren Willen ausgebürgert. Hätten Sie eine Wiedervereinigung damals für möglich gehalten?
Das hat zu diesem Zeitpunkt niemand für möglich gehalten. Die DDR schien so fest im Griff der Sowjets, dass an eine deutsche Wiedervereinigung gar nicht zu denken war.
Viele DDR-Bürger wären froh gewesen, dem realexistierenden Sozialismus zu entkommen. Warum wollten Sie nach Ihrer Ausbürgerung 1988 eigentlich zurück in die DDR?
Nicht, weil es dort so schön war. Aber Stephan Krawczyk und ich hatten eine unabhängige Kulturebene entwickelt, die ehrlich mit den Problemen umging, die die Menschen bewegt haben. 1986 etwa hatten wir in Ost-Berlin die Solidarische Kirche gegründet, zu der auch viele Pfarrer und kirchliche Jugendmitarbeiter gehörten. Viele junge Leute klammerten sich an uns, weil die Repression durch den Staat immer schlimmer wurde.
Dabei hatten Sie 1968 ja zunächst selbst versucht, die DDR zu verlassen. Sie wurden aber gefasst und zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt...
... von denen ich elf absitzen musste. Das war eine furchtbare Zeit. Ich war 18 und hatte bis dahin keine Vorstellung, was Haft bedeutet. Ich war in Dresden in der Schießgasse inhaftiert. Unten waren die Männer untergebracht, in der obersten Etage die Frauen. Ich musste mir die Zelle mit drei weiteren Frauen teilen – Prostituierte und Kleinkriminelle. Dort ging es so brutal zu, wie man es heute nur aus amerikanischen Filmen kennt. Die drei versuchten, die Neue zu entjungfern. Irgendwann reichte es mir. Da habe ich rot gesehen und der Anführerin eine Lektion erteilt. Ich bekam drei Tage und drei Nächte Einzelhaft in einer dunklen Kellerzelle. Dort musste man die ganze Zeit stehen. Erst nachts wurde eine Holzpritsche heruntergelassen, auf die man sich legen konnte.
Was hat Ihnen damals Halt gegeben?
Ich habe mir gesagt: Drei Tage kann ich durchhalten. Im Kopf habe ich Lieder komponiert und mir Theaterszenen ausgedacht. Und ich habe viel gebetet. Nach drei Tagen kam ich in dieselbe Zelle. Das gehörte zu den Gemeinheiten gegen politische Häftlinge; sie wurden schlimmer behandelt als Kriminelle. Angefasst hat mich nun aber keine mehr. Vielmehr entwickelten sich Gespräche. Ich war dann für sie fast so etwas wie eine Seelsorgerin. Ich habe ihnen zugehört und Lebensratschläge gegeben. Das hatten sie so zuvor noch nicht erlebt.
Politisch unbequemen Bürgern, darunter vielen Christen, blieb in der DDR die ersehnte berufliche Laufbahn häufig verwehrt. Sie durften nicht studieren oder Abitur machen. Sie aber konnten nach Ihrer Haft in Leipzig an der Theaterhochschule ein Studium aufnehmen...
Damit war ich eine Ausnahme – genaugenommen eine von dreien, die mir bekannt sind. Außer mir ging es noch Uwe Kockisch so, der Schauspieler wurde, und dem Neffen von Vize-Geheimdienstchef Markus Wolf, der später Medizin studierte. Auch sie hatten versucht, die DDR zu verlassen. Ich erfuhr erst viel später, dass sich die Leiterin der Leipziger Theaterhochschule für mich stark gemacht hatte.
Stichwort Kirche: Sie haben in den 70er und 80er Jahren nicht nur die evangelische Kirche in der DDR als zu leisetreterisch kritisiert, sondern auch die im Westen.
In den 80er Jahren wurde im Westen der Slogan Wandel durch Annäherung propagiert. Tatsächlich handelte es sich aber um einen Wandel durch Anbiederung, der von ganz vielen vertreten wurde, etwa von Erhard Eppler, Egon Bahr, Oskar Lafontaine oder Gerhard Schröder. Die DDR zu kritisieren war überhaupt nicht mehr angesagt. Aber es gab auch Pfarrer und Kirchenmitarbeiter, die uns Bürgerrechtler willkommen geheißen haben.
Welchen Zustand attestieren Sie den Kirchen heute? Vor einigen Jahren bezeichneten Sie sie als „saft- und kraftlos“.
Vieles, was die evangelische Kirche heute von sich gibt, ist absolut verwechselbar. Sie versucht es allen recht zu machen und verliert dadurch ihr Profil. Mir fehlen leidenschaftliche Gestalten wie der gegenwärtige Papst Franziskus.
Themenwechsel. Was sagen Sie Menschen, die 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit fordern?
Völliger Blödsinn! Wir haben uns im vergangenen Jahr ausführlich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Das ist 100 Jahre her. Aber zum ersten Mal ist es gelungen, die Ursachen für den Ausbruch dieses Krieges so darzustellen, wie sie wohl tatsächlich waren. Bisher hatte jede Nation ihre eigene Sicht darauf. Jetzt erst ist es gelungen, differenziert auf dieses Ereignis zu schauen. Das zeigt, wie man mit Geschichte umgehen muss. Diese Zeit brauchen wir auch, um die DDR-Diktatur aufzuarbeiten. Mein persönliches 11. Gebot lautet deshalb: Du sollst Dich erinnern!
Aber gerade viele junge Deutsche können das Thema „DDR“ genauso wenig hören wie wir einst die Geschichten unserer Großeltern von Flucht und Vertreibung...
Meine Erfahrung ist eine andere. Wahr ist: Die DDR ist für viele junge Menschen genauso weit weg wie das Römische Reich. Sie wissen, was Justin Bieber gestern gemacht hat, aber nichts über die Menschrechtssituation in der DDR. Deshalb hängt so viel davon ab, dieses Wissen möglichst interessant und ansprechend zu vermitteln. Ich bin häufig in Schulen. Und ganz egal, ob es da um das Ende des Zweiten Weltkriegs geht oder um die DDR – die Schüler sind meist so fasziniert, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Wenn der Stoff spannend rübergebracht wird, gehen sie mit.
Zurück zu den aktuellen Herausforderungen: Deutschland erwartet in diesem Jahr bis zu eine Million Flüchtlinge. Auf der einen Seite gibt es fast grenzenlose Hilfsbereitschaft , andererseits hat auch PEGIDA wieder Zulauf.
Ich fürchte, die riesige Begeisterung, die wir in Deutschland angesichts des Flüchtlingszustroms gegenwärtig erleben, wird nicht anhalten. Meine Sorge: Wo wird die ganze Flüchtlingskrise hinführen? Ginge es nur um die Menschen, die bislang gekommen sind, könnte man sicher sagen: Das schaffen wir als Europäer. Aber ein Ende ist ja noch lange nicht abzusehen. Wenn es gelingt, hier die Generation der Studenten zu mobilisieren, könnte es klappen. Denn sie sind schon jetzt global aufgestellt, sind mehrsprachig und voller Elan.
Sie geben der DDR eine Mitschuld am Erstarken des Rechtsextremismus, der sich auch in Angriffen auf Asylbewerberheime zeigt.
Die DDR war ein rassistisches Land. Das Unbehagen der Funktionäre und auch der meisten DDR-Bürger galt jedem Abweichen von der Norm – grellen Haarfarben von Punkern ebenso wie „Negern“ oder „Fidschis“, wie die Gastarbeiter aus Mosambik und Vietnam genannt wurden. Sie wurden in abgesonderten Wohntrakts untergebracht, die offiziellen Gaststätten waren ihnen verwehrt. Sie durften die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen und sollten gar nicht erst Deutsch lernen. Vor allem standen vietnamesische Frauen unter Abtreibungszwang. Wehrten sie sich dagegen, mussten sie auf eigene Kosten die Heimreise antreten. Das lässt noch heute jeden Rechtsradikalen für die DDR schwärmen.
Ist Deutschland in den 25 Jahren auch innerlich zusammengewachsen?
Ich meine, die innere Einheit ist geglückt – nicht zuletzt angesichts der vielen deutsch-deutschen Ehen und Beziehungen. Allerdings leidet der Osten nach wie vor unter dem massenhaften Exodus während der 40 Jahre DDR. Vor allem in den 50er Jahren hat fast die gesamte kritische Intelligenz das Land verlassen. Wenn man aber in einer Kleinstadt 80 Prozent der geistig und moralisch Besten in die Flucht schlägt, dann wirkt das lange nach. Teilweise setzt sich das bis heute fort. Da bleiben oft nur die Rechtsradikalen und die Genossen der SED, die sich heute Linke nennen und es auf merkwürdige Weise geschafft haben, in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr mit der DDR und ihrem nachwirkenden Rassismus in Verbindung gebracht zu werden. In den Städten – besonders den Universitätsstädten – sieht es besser aus, weil immer neue junge Leute nachkommen – und zwar aus aller Herren Länder. Dort ist diese Enge der DDR kaum noch zu spüren.
Was erwarten Sie von den nächsten 25 Jahren im wiedervereinten Deutschland?
Wir erleben gerade einen großen Umbruch – durch die Flüchtlingswelle und die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen. Deutschland wird 2040 also viel globaler sein als heute.
Von Matthias Pankau