Selbsterfüllende Prophezeiung: Hat Wertheims Oberbürgermeister den Brandanschlag provoziert?

Brandspuren sind am Sonntag nach dem Feuer in der geplanten Notunterkunft für Flüchtlinge zu sehen. In der Sporthalle standen seit Samstag 330 Betten.
Erstveröffentlicht: 
20.09.2015

Die Worte von Wertheims Oberbürgermeister waren drastisch: die Stadt stünde vor dem Kollaps. Nach dem Feuer in einer leeren Flüchtlingsunterkunft muss der OB sich Fragen lassen, ob er den Brandanschlag herbeigeredet hat.

 

Eine Kleinstadt nimmt Hunderte Flüchtlinge auf. Sie werden versorgt und umsorgt – vor allem auch dank vieler einheimischer Helfer. Dann sollen weitere Hunderte Flüchtlinge kommen. Das schaffen wir nicht mehr, stöhnt die Stadtverwaltung. Plötzlich bricht ein Feuer aus.

Die Stadt wollte das zweite Flüchtlingsquartier nicht. Es waren doch schon 600 Schutzbedürftige in der Stadt, in Wertheim, Main-Tauber-Kreis, 22 500 Einwohner. Die zweite, bereits geplante und mit gut 300 Betten ausstaffierte Notunterkunft hätte weitere Menschen aufnehmen können. Doch Oberbürgermeister Stefan Mikulicz war strikt gegen die Belegung – die ehrenamtlichen Helfer seien am Ende ihrer Kräfte, es drohe der Kollaps. "Ich rate dringend davon ab, die Halle zu belegen, da wir von der Stadt nicht für die Sicherheit garantieren können."

Wenige Stunden nach dem Besuch von Bilkay Öney brannte die Sporthalle

Das sagte der Christdemokrat am Samstagnachmittag, als Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) zu Gast war und sich ein Bild von der Lage vor Ort machte. Nur wenige Stunden später, mitten in der Nacht, erwies sich die Warnung von Mikulicz auf makabre Art als wahr: Es brannte lichterloh in der Turnhalle. Die Feuerwehr rückte mit einem Großaufgebot an, die Löscharbeiten dauerten bis in den Morgen. Die Polizei vermutet Brandstiftung, das Haus ist einsturzgefährdet.

Damit steht fest: Zusätzliche Flüchtlinge kommen vorerst nicht mehr nach Wertheim, die kleine Stadt im nördlichsten Zipfel Baden-Württembergs, fast schon in Bayern. Die Stadt, die zuletzt dank des aufopferungsvollen Einsatzes Ehrenamtlicher eigentlich positiv in Erscheinung getreten war in der Flüchtlingskrise. Der Verein "Willkommen in Wertheim" hatte vor gut einer Woche seine Arme weit ausgebreitet für die erste Gruppe von Flüchtlingen, bis zu 16 Stunden täglich kümmerten sich die Ehrenamtlichen seither um die 600 neuen Nachbarn. Sie verteilten Bekleidung und Essen, halfen bei Organisatorischem.

Hilfsbereitschaft und Verdruss

Doch so groß die Hilfsbereitschaft auch ist, zugleich wuchs der Verdruss. Denn die Helfer fühlten auch alleingelassen mit dem Flüchtlingsthema. Erst Mitte Oktober sollte das Notquartier umgewandelt werden in eine offizielle Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea) – mit staatlichem Personal, klare Strukturen und Registrierungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge, damit diese endlich ihr Asylbewerberverfahren starten können.

Noch bevor die Sorgenfalten geglättet werden konnten, wurde ein zweites Notquartier geplant – eine Turnhalle nur wenige hundert Meter entfernt von der ersten, bereits belegten Unterkunft. In dem neuen Gebäude wurden Betten aufgebaut – theoretisch hätten jederzeit Flüchtlingsbusse vorfahren können. Dem OB war das zu viel. Er sandte Ende vergangener Woche einen Hilferuf an die Landesregierung. Die Folgen der Unterbringung Hunderter neuer Flüchtlinge in der zweiten Unterkunft wären nicht abzuschätzen, mahnte er. "Ich bin höchst bestürzt, das kann nicht gut gehen."

Die Landesregierung kam in Person von Integrationsministerin Öney nach Wertheim. Sie versicherte am Samstag zwar, man wolle das zweite Notquartier nicht nutzen. "Wir wollen Wertheim nicht überstrapazieren." Doch sie fügte hinzu: "Garantieren kann ich aber nichts. Ich kann keine Zusagen machen, ob die Turnhalle belegt wird oder nicht." Stunden später schritt Ermittlungen zufolge ein Brandstifter zur finsteren Tat, Zeugen berichteten von einer dunkel gekleideten Person, die in ein dunkles Auto stieg.

Vorerst sollen nun keine weiteren Flüchtlinge nach Wertheim kommen

Zum Glück war niemand in der Halle, hörte man am Sonntag immer wieder von erleichterten Bürgern, die den Tatort besuchten. Wie geht es weiter? Der Stabsstellenchef der Landesregierung, Hermann Schröder, sagte: "Es kommen keine weiteren Flüchtlinge nach Wertheim, da es die Notunterkunft nicht mehr gibt."

Rathauschef Mikulicz zeigt sich bestürzt und betont, seine offene, hilfsbereite Stadt werde sich weiter mit großem Einsatz um die Flüchtlinge kümmern. Aber hat er mit seinem hartnäckigen Widerstand gegen das zweite Quartier nicht unfreiwillig böse Geister beschworen, die er nun nicht mehr los wird? "Ich habe das getan, um deutlich zu machen, wie leistungsfähig dieser Stadtteil ist", sagt er. "Ich würde dies wieder tun."

Bei Feuer wohl Brandbeschleuniger eingesetzt

Bei dem Feuer in einer geplanten Flüchtlingsunterkunft in Wertheim ist wahrscheinlich Brandbeschleuniger eingesetzt worden. "Von der Spurenlage her sieht es nach Brandbeschleuniger aus", sagte Stadtbrandmeister Ludwig Lermann am Montag. "Die Untersuchungen sind aber noch nicht abgeschlossen." Brandermittler wollten sich am Montag erneut den Tatort ansehen. Die Polizei vermutet, dass das Feuer in der Nacht zu Sonntag absichtlich gelegt wurde; ein fremdenfeindlicher Hintergrund wird nicht ausgeschlossen.

Nach dem Brandanschlag wurde eine Ermittlungsgruppe von zehn Beamten eingesetzt. Sie wollen nun unter anderem Anwohner befragen, wie ein Polizeisprecher sagte. Zwei Zeuginnen hatten angegeben, in der Nacht zum Sonntag eine dunkel gekleidete Gestalt gesehen zu haben, die in einem Wagen davon fuhr.

Verletzt wurde bei dem Feuer niemand. "Hinweise auf einen Brandanschlag gab es im Vorfeld keine, sonst hätten wir vor Ort mehr Präsenz gezeigt", sagte der Polizeisprecher. Am Sonntagabend hatten sich laut Polizei zwischen 600 und 800 Bürger in Wertheim zu einem Schweigemarsch versammelt, um gegen Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren.