Ein helles Land im dunklen Europa

Erstveröffentlicht: 
05.09.2015

Noch nie wirkten Deutschland und die Deutschen so weltoffen und freundlich wie heute. Woran liegt das? Wie lange wird das so bleiben?

 

Von Matthias Koch

 

In dieser Woche ergaben in Deutschland viele kleine Szenen ein großartiges Ganzes. Beispiel: München, Dienstag, Hauptbahnhof. Da nimmt ein bayerischer Polizist seine Dienstmütze ab, setzt sie einem Flüchtlingsjungen auf - und erntet ein anfangs vorsichtiges, dann immer befreiteres Lächeln eines Erdenbürgers, der soeben zum ersten Mal seine kleinen Füße auf deutschen Boden gesetzt hat.


Die Freundlichkeit der deutschen Stellen hat System. Schon als die Flüchtlinge ausstiegen schlugen die Beamten ganz andere Töne an als die grantigen Grenzer auf dem Balkan oder in Ungarn. "Sie sind nicht verhaftet", betonten die deutschen Uniformierten auf Englisch. "Sie sind willkommen." Eine junge Frau, die mit einem kranken Kind auf dem Arm ausstieg, wurde beruhigt; sie solle sich keine Sorgen machen, draußen vor dem Bahnhof warte auch ein Arzt. Und dann gab es die größte Überraschung: Berge von Lebensmitteln, die viele Münchner heranschleppten, dazu Spielzeug, Babynahrung und Windeln.


Deutschland ist anders, als viele dachten. Diese Entdeckung machten Gäste aus aller Welt schon im Jahr 2006, in den sommerlich-sonnigen Fußballweltmeisterschaftswochen, die als Sommermärchen in Erinnerung blieben. Damals notierten etwa amerikanische Journalisten, so entspannt, so menschlich, so freundlich hätten sie das Land, das einst Adolf Hitler zujubelte, nie erlebt.


Jetzt folgt eine noch unglaublichere Geschichte: Deutschland weicht auch im Moment der ernsten Belastung durch einen nie dagewesenen Flüchtlingsstrom nicht ab von seinem Bemühen, die netteste Nation Europas zu sein.


Zwar hat auch die Gewaltbereitschaft zündelnder Ausländerfeinde gefährlich zugenommen. Jeden Tag, jede Nacht könnte eine Tragödie geschehen. Doch die breite Mehrheit der Deutschen steht hinter der Kanzlerin und der von ihr beschriebenen Linie der Hilfsbereitschaft.


Angela Merkels Ton ist ohne Pathos. "Deutschland tut, was moralisch und rechtlich geboten ist. Nicht mehr und nicht weniger." So sprach die Kanzlerin am Donnerstag in die Mikrofone der in- und ausländischen Medienvertreter.


Bankenrettung, Fukushima und der Atomausstieg, Griechenland, jetzt die Flüchtlinge: Merkel hat im Umgang mit Krisen Routine. Längst folgt sie bei deren Bearbeitung einem Muster. Einmal mehr spricht sie jetzt von einer "nationalen Aufgabe" - und verbittet sich damit, ohne es auszusprechen, jeglichen Parteienstreit. Einmal mehr auch kündigt sie an, binnen kurzer Zeit ungewöhnlich viele Neuregelungen gleichzeitig vom Stapel zu lassen, etwa zur Entbürokratisierung der Flüchtlingshilfe. Die Bundesländer werden, egal wer dort regiert, im Bundesrat am Ende brav die Hand heben. Denn Merkel stellt im Gegenzug auch mehr Geld des Bundes für Hilfen vor Ort zur Verfügung. "Package deals" dieser Art produziert das Kanzleramt bei Bedarf en masse; die Große Koalition wirkt dabei geräuschdämmend.


Am wichtigsten aber für die emotionale Lage der Nation war Merkels quer durch die politischen Lager gelobter unaufgeregter Grundton: "Wir schaffen das."


Solche Zuversicht ist derzeit europaweit einmalig. Ängstliche Dänen wandten sich bei den jüngsten Wahlen massenhaft den Rechtsextremen zu. Die Polen machten einen zugeknöpften Nationalisten zum neuen Präsidenten. Ungarn versuchte diese Woche, Flüchtlinge auszutricksen und in Lager zu transportieren, in die sie nicht wollten; erstmals seit sehr langer Zeit fuhren wieder mit Menschen überfüllte Züge durch Europa zu Zielen, die den Insassen verschwiegen wurden.
In dieser Düsternis wirkt, was derzeit in Deutschland geschieht, umso lichtvoller. Bundespräsident Joachim Gauck hantierte jüngst mit einem Gegensatzpaar, das schon den Historiker Sebastian Haffner in seinem 1940 zuerst auf Englisch erschienenen Buch beschäftigte: "Germany: Jekyll & Hyde". Gauck fragte sich: Wird "Dunkeldeutschland" sich durchsetzen oder das helle Land?


Derzeit, so scheint es, hat der böse Hyde im Bewusstsein der Deutschen nicht viel zu melden. Ihre dunklen Seiten zeigen in Europa gerade die anderen. Der konservative Londoner Außenminister Philip Hammond zum Beispiel wurde jüngst düsterer denn je: Wenn erst "Millionen marodierende Afrikaner" durch Europas Metropolen zögen, orakelte er, sei es vorbei mit dem europäischen Wohlstandsniveau, wie man es seit Generationen gewohnt sei.


In Frankreich hofft die rechtsextreme Marine Le Pen darauf, im Wahljahr 2017 als Gewinnerin dazustehen. Der Konservative Nicolas Sarkozy will wie sie mit Abschottung Punkte sammeln. Einst empfahl er mit Blick auf Kriminelle, man müsse Frankreichs Vorstädte "kärchern". In der Debatte um eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik fällt er jetzt erneut durch eine seltsame Wortwahl auf: Wenn das Abwasserrohr breche, müsse man es abdichten, dozierte Sarkozy. "Da kann der Klempner nicht sagen: Ich habe die Lösung - wir behalten die Hälfe in der Küche, tun ein Viertel ins Wohnzimmer, ein Viertel ins Schlafzimmer, und wenn das nicht reicht, bleibt noch das Kinderzimmer."


Stimmen dieser Art sind in Deutschland kaum zu hören. Und wenn doch, dann nur aus politisch einflussarmen Parteien wie der AfD. Bei Infratest dimap blieb die Partei diese Woche wie zuletzt unter der Fünf-Prozent-Marke.


Wie lange aber wird das so bleiben? "Wir haben auch ein bisschen Glück derzeit", heißt es in Führungskreisen der Großen Koalition. Man ahnt, dass die derzeit erstaunlich stabile Stimmung im Laufe des Winters kippen könnte: Was, wenn nun noch von Osten her Flüchtlinge kommen, weil der Ukraine-Krieg wieder aufflammt? Droht dann irgendwann doch eine Überforderung?


Noch wirken diverse Sonderfaktoren zugunsten von Offenheit und Hilfsbereitschaft der Deutschen. Der Arbeitsmarkt hat einen höheren Bedarf an Nachwuchs als in anderen EU-Staaten, nicht nur aus konjunkturellen, sondern auch aus demografischen Gründen. Hinzu kommt: Das Vertrauen der Bürger in die Politik ist hier größer, die Feindseligkeit der Parteien untereinander geringer als anderswo. Sogar Schwarze und Grüne, die noch vor wenigen Monaten die Flüchtlingspolitik als Feld ihrer größten Differenzen markierten, nähern sich mittlerweile an, wie ein diese Woche veröffentlichtes gemeinsames Papier von Jens Spahn (CDU) und Boris Palmer (Grüne) zeigte. Die Union blickt entspannter als früher auf mehr Einwanderung, die Grünen tauen auf für den Gedanken, Bewerber aus sicheren Balkanstaaten fernzuhalten.


Viele Deutsche wundern sich über sich selbst angesichts eines Wirgefühls, das die Nation überspannt wie ein leuchtender Regenbogen. Ein neuer Nationalstolz ist spürbar, der ausgerechnet aus der Relativierung des Nationalen seinen Kick bezieht. Diesen neuen Stolz der Deutschen ließ Merkel anklingen, als sie diese Woche in aller Bescheidenheit festhielt: "Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen - das war nicht immer so."