Flüchtlingsaufnahme in München: Deutschlands großer Bahnhof im CSU-Stammland
Während die CSU sich mit dem Flüchtlingszustrom noch nicht ganz
angefreundet hat, sieht der Empfang am Münchner Bahnhof anders aus. Straff
organisiert, effizient und dabei noch freundlich - in der Nacht erlebte unser
Autor eine Stimmung, die eher zur Fußball-WM gepasst hätte.
06.09.2015, von RAINER MEYER
Nur die CSU ist in der Lage, so konsequent auf Worte ganz andere Taten folgen zu lassen. „So kann's ja nicht weitergehen“, gibt Bayerns Sozialministerin Emilia Müller erkennbar gefordert mit Blick auf die Asylkrise zu Protokoll. Entsetzt von den Entwicklungen der letzten Tage pflichtet ihr CSU-Generalsekretär Scheuer bei, der „massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nur nach Deutschland“ müsste gestoppt werden. Dafür legt man sich auch mit der Kanzlerin an.
Und die CSU- geführte Regierung des Bezirks Oberbayern sorgt derweilen für patriotische Gefühlsausbrüche am Hauptbahnhof, wie man sie dort allenfalls nach Siegen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft erlebt: GER- MA-NY, rufen die Flüchtlinge, die von freundlichen Helfern und Polizisten zum Starnberger Flügelbahnhof geleitet werden, und GER-MA-NY schallt es von den wartenden Mengen hinter den Absperrungen zurück. Nur in einem straff organisierten, von Sekundärtugenden geprägten Land ist es möglich, die Ankunft und Verteilungen von über 5000 Flüchtlingen an einem Tag so zu organisieren, dass der Betrieb des Bahnhofs nicht gestört wird, die Flüchtlinge warme Winterkleider bekommen, und geordnet und gut versorgt zu ihren im Neonlicht der großen Stadt funkelnden Reisebussen gelangen. Bayern klagt, Bayern strengt sich an, Bayern funktioniert.
An der Organisation nichts auszusetzen
Vergessen sind die Bilder, als München selbst der Notstand in seiner überfüllten Erstaufnahmestelle drohte, und nichts erinnert an die erschütternden Szenen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin, oder an den Ostbahnhof in Budapest. Verwaltung, Polizei, Stadt, Hilfsdienste und freiwillige Helfer haben eine Organisation auf die Beine gestellt, an der nichts auszusetzen ist. In einem Zug, der Teilnehmer des inzwischen schon zur Ikone gewordenen Fußmarsches in Ungarn bringt, sind Mitglieder einer syrischen Familie, deren Angehörige sie hinter den Absperrungen erwarten.
Zu gern würden die Ankommenden gleich über die Gitter klettern, aber mit aller Freundlichkeit bittet sie der Übersetzer weiter, und die Familie pflichtet bei: Da in den Bahnhof hinein, sich registrieren lassen, das geht ganz schnell, keine Sorge, man trifft sich nachher, alles wird gut. Niemand hat Angst, die Polizei könnte jemanden festhalten oder gegen seinen Willen in ein Lager stecken. Der Freistaat, in dem die Müllers und Scheuers das Sagen haben, tritt den Beweis an, dass sich die Flüchtlinge in Budapest nicht zu viel von ihm versprochen haben. Sie vertrauen ihm. Sie können sich auf ihn verlassen. Sie spielen mit und machen der Familie keine Schande.
Vermutlich steht deshalb neben den selbstgemalten Tafeln mit der Aufschrift „Willkommen in München“ in drei Sprachen auch eine mit dem Text „Danke Polizei München – Menschen respektieren“. Mit Herzchen. Weil die Polizei für die Menschen da ist. Der Bahnhof ist voll von Sicherheitskräften, und sie arbeiten reibungslos zusammen: Die Wartezeiten für die Flüchtlinge auf dem Weg zur Erfassung und medizinischen Kontrolle sind minimal. Helfer sorgen dafür, dass die Bahnsteige sauber bleiben, Sanitäter sind sofort zur Stelle, wenn sie gebraucht werden. Das THW bläst Luftballons auf und knotet sie zu Tieren, damit Kinder etwas zum Spielen haben, während ihre Eltern durch die medizinische Untersuchung gehen. Aber oft ist das improvisierte Spielzeug gar nicht nötig: Schon wenn die Flüchtlinge dann die letzten Meter zur Aufnahme gehen, brandet der Applaus auf, und von allen Seiten werden Stofftiere und Süßigkeiten für die Kinder gereicht.
Organisierter Überfluss
Es ist genug da, die Spendenbereitschaft der Münchner hat dafür gesorgt, dass ein nicht endender Strom von Obst, Getränken und kleinen Mahlzeiten zu den von der Reise sichtbar strapazierten Menschen gelangt, und der Müll sofort wieder entsorgt wird. Aber trotz des organisierten Überflusses wird auch von normalen Menschen mit Geschenken gewunken, tütenweise haben Münchner Spielsachen herbeigetragen, und so erschöpft, dass sie achtlos daran vorbei laufen würden, sind die wenigsten. Sofort entspinnen sich Gespräche: Was passiert jetzt, wo geht es hin, wie kann man bleiben - wer hier Verwandte oder Freunde hat, ist nicht begeistert von der Vorstellung, jetzt gleich weiter verlegt zu werden. Für diese Menschen ist, CSU hin, Flüchtlingsstopp her, diese Stadt das Ziel.
Denn auf der anderen Seite der Absperrung tragen die Freunde keine schmutzigen Kleider. Auf der anderen Seite lebt und zeigt man die Annehmlichkeiten des westlichen Lebensstandards, und das GER-MA-NY, das sie meinen und inzwischen gut kennen, trägt Markenkleidung, italienische Handtaschen und modische Brillen. Vier junge Mütter, die an den rot-weißen Bändern vorbei ihre Geschenke verteilen, könnten genauso gut durch die Maximilianstraße schlendern: Sie sind hier, erzählen sie, weil sie der neuen Generation der Ankommenden einen rauschenden Empfang bereiten wollen. Über all dem hängt ein riesiges Plakat mit der gerade absolut grotesken Werbebotschaft „In vier Stunden nach Wien“. Reporter sagen etwas von europäischen Lösungen in Kameras. Eine junge Mutter beratschlagt über das Gitter hinweg mit Freunden, wie sie eine Münchner Lösung organisieren kann. Sie ist angekommen und will hier bleiben. Von Aleppo über die Türkei, Kos, Mazedonien. Serbien, Ungarn und Österreich, vom vorderen Orient bis zum Starnberger Flügelbahnhof ist München der beste Ort.
Verkennung der Realität
Ein paar Kilometer entfernt tagt das CSU-Präsidium und überlegt in bizarrer Verkennung der von ihr selbst geschaffenen Realität, was man jetzt noch tun kann, da das Schengensystem zusammengebrochen ist. Hier filmen Handys die Ankommenden und die Ankommenden mit Handys die Jubelnden, sie machen das V-Zeichen und zeigen Herzen in alle Richtungen. Das sind die Bilder, die über die eingerichteten Hotspots verbreitet werden, nach Ungarn, nach Griechenland und in all die Lager des Nahen Ostens. Niemand weiß dort, wer ein Herr Scheuer oder eine Frau Müller ist. Aber dass man hier keine Angst haben muss, dass man gut behandelt wird und in einem verlässlichen, funktionierenden Staat lebt – eben GER-MA-NY – das wird hier am Hauptbahnhof bewiesen, selbst in Ausnahmesituationen wie an diesem Wochenende. Was machen Sie, wenn das so weiter geht, frage ich einen Polizisten. Weiter, sagt er. Was soll man tun.
Draußen füllt sich ein weiterer Bus, die Helfer schieben das Absperrgitter beiseite, und für die Flüchtlinge beginnt der letzte Teil der Reise, irgendwo hin, wo man noch Platz für sie findet. Die anderen Bundesländer haben schnell und undiplomatisch geholfen, und nun rollen sie an Plakatwänden vorbei, auf denen Männer und Frauen in bayerischer Tracht zum Oktoberfest einladen. Die Menschen winken ihnen zu, sie winken zurück. „Auf geht's zur Wiesn“, verkünden die Plakate, und in den Münchner Umlandgemeinden sucht man, egal ob rot, schwarz oder grün regiert, fieberhaft Wiesen für Traglufthallen, um all die Menschen aufzunehmen. Der sture, unbeugsame Wille der Verwaltung schafft Busse herbei, stellt Zelte auf und organisiert Helfer, und der sture, unbeugsame Wille bringt die Flüchtlinge durch alle Strapazen hierher.
Hier beginnt die deutsche Lösung
Hier endet die Flucht, die Zeit der Entbehrung, hier beginnen die Geschenke, die Stofftiere, das Kinderlachen und die Chancen für ein besseres Leben in Sicherheit und Frieden. Die Politik verhandelt über eine europäische Lösung, die viele europäische Länder auf gar keinen Fall haben wollen, und der vor und hinter den Absperrgittern eine Absage erteilt wird. Kaum jemand blieb in Österreich zurück, keiner will mehr nach Ungarn. Am Starnberger Flügelbahnhof beginnt die deutsche Lösung, und sie ist vorbildlich, bestens organisiert und gut zu den Menschen.
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet im Stammland der CSU das Vorbild Deutschland hell erstrahlt. Aber die CSU macht das auch wirklich gut. Da kann sie sagen, was sie will: Kein böses Wort am Bahnhof. Alle sind froh, begeistert, und geklatscht wird für wirklich alle, die hier helfen.