Mit seinem Besuch im sächsischen Heidenau, wo Rechtsradikale seit Tagen Flüchtlinge terrorisieren, wollte SPD-Parteichef und Vizekanzler Sigmar Gabriel gestern Flagge zeigen. Aus Angst vor Randalen weigerten sich Asylbewerber in Leipzig, in die Unterkunft in Heidenau umzuziehen.
Von Jürgen Kochinke und Dieter Wonka
Heidenau. Es ist Montagmittag kurz vor zwölf Uhr. Weiße Segeltuchplanen
verdecken den Außenstehenden den Blick auf das frühere Betriebsgelände
des pleite gegangenen Praktiker-Baumarkts in Heidenau nahe Pirna. Einige
wenige Asylbewerber stehen auf dem Vorplatz des ehemaligen Baumarkts
und schauen auf das, was da passiert. Denn klar ist: Nachdem es gleich
mehrmals zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und
randalierenden Neonazi-Hooligans gekommen ist, geben sich nun die
Politiker die Klinke in die Hand. Erst erschien Sachsens Regierungschef
Stanislaw Tillich (CDU) samt weiterer Kabinettsmitglieder, und jetzt hat
sich Bundesprominenz angesagt. Vize-Kanzler und SPD-Bundeschef Sigmar
Gabriel will sich in dem 16000-Seelen-Städtchen das anschauen, was
derzeit für Schlagzeilen sorgt: jenen zweistöckigen Flachbau, der früher
ein Baumarkt war - und nun als Notunterkunft für Asylbewerber dient.
325 Flüchtlinge sind momentan hier. Die Zahl der Duschen ist von zwei
auf acht erhöht worden, seit vorgestern. Auch Toiletten gibt es
inzwischen ein paar mehr. Man muss nicht mehr ewig lange anstehen. Auf
einem dreckigen Teil des Betonbodens der Halle ist mit Kordeln ein
Viereck abgesperrt. Große Legosteine, drei Kinderteppiche mit einer
großstädtischen Verkehrssituation drauf sollen zwei, drei Dutzend Kinder
jeden Alters auf andere Gedanken bringen. Eine vielleicht 35-jährige
Mutter streicht ihren vier Kindern über die Haare. Eines der kleinen
Mädchen friert im dünnen T-Shirt. Man ahnt die Leidensgeschichte einer
Flucht, die, so ihr Vater aus dem Jemen, vier Monate gedauert hat. Seit
Tagen habe man nicht geduscht. Bestimmt könne dieser wichtige Mann doch
ein Zimmer, allein für ihre Familie, organisieren. Oder etwa nicht? Aus
der Begleitung von Gabriel wird signalisiert, man könne nicht in die
vorgeschriebenen Ablaufpläne eingreifen.
Dutzende Journalisten und Kamerateams haben sich am Zaun rund um das
Gebäude platziert, Security-Leute achten mit finsterer Miene darauf,
dass keiner in den Innenbereich vordringt. Daneben warten Schaulustige
auf den Gast aus Berlin. Warum sie gekommen sind? Sie habe Gabriel im
Fernsehen gesehen, meint eine Frau, nun will sie sich ihn persönlich
anschauen.
Wirklich viel zu sehen bekommen die Zaungäste aber nicht. Dafür
entwickelt sich zwischen drei Heidenauer Männern und einer Frau ein
handfester Disput. Es geht ums Streitthema Asyl. Die anderen
europäischen Länder seien schuld, meint ein älterer Mann, der sich an
sein Fahrrad krallt: "Die nähm' doch geene Nescher mehr auf", so gehe
das nicht weiter. Die Frau will das nicht stehen lassen, doch bevor sie
zum Konter ansetzen kann, bringt ein anderer "die Politiker" ins Spiel.
"Die müssen handeln", meint er, "die ducken sich doch nur weg."
Das zumindest kann man Gabriel nicht vorwerfen. Nach seinem Besuch bei
den Flüchtlingen spricht er Klartext, schließlich hat er registriert,
dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen ihres langen Schweigens zum
Thema auf herbe Kritik gestoßen ist. Also legt Gabriel los. Deutschland
dürfe diesem "rechtsradikalen Mob" keinen Millimeter Raum geben, ruft er
in die Mikrofone. Die Rechtsextremen hielten sich für die Vertreter des
"wahren Deutschlands", das aber seien sie keineswegs. "In Wahrheit sind
es die undeutschesten Typen, die ich mir vorstellen kann."
Doch damit ist Gabriel noch nicht am Ende, er holt kurz Luft und zieht erneut rigoros blank. "Bei uns Zuhause würde man sagen, das ist Pack, was sich hier 'rumgetrieben hat." Nun aber sei es wichtig, die Täter rasch zu ermitteln. "Für die gibt's nur eine Antwort: Polizei, Staatsanwaltschaft und nach Möglichkeit für jeden, den wir erwischen, das Gefängnis." Gleichzeitig fordert er die Bürger auf, nicht wegzuschauen, weder in Heidenau noch sonst irgendwo. Ob im Freundeskreis, im Betrieb oder Sportverein - wo rechtes Gedankengut geäußert werde, müsse Kante gezeigt werden. "Wer hierher kommt und Parolen brüllt, Brandsätze oder Steine schmeißt, im Internet dazu aufruft, Leute umzubringen oder körperlich zu verletzen, diejenigen haben nur eine einzige Antwort von jedem von uns verdient: Ihr gehört nicht zu uns, euch wollen wir nicht." Von denen aber lässt sich an diesem Montagmittag keiner dort blicken.
Das Terrain hat wenig zu bieten. Mitten in einem Gewerbegebiet steht der
zweistöckige Bau, rundherum nur Super- und Möbelmärkte, Autohäuser und
Werkstätten - sonst nichts. Vor allem aber kein Wohngebäude weit und
breit. Und überhaupt gleicht Heidenau hier eher einer Vorstadt irgendwo
im Niemandsland zwischen Dresden und Pirna im Landkreis Sächsische
Schweiz-Osterzgebirge. Genau dieser Kreis aber war es, der in der
Vergangenheit oft genug durch Neonazi-Hetze auffällig geworden ist.
Schließlich holte die rechtsextreme NPD hier beachtliche Ergebnisse bei
Wahlen, und die längst verbotene, tiefbraune Kameradschaft Skinheads
Sächsische Schweiz (SSS) stammte ebenfalls genau aus der Region.
Dem will Gabriel etwas entgegensetzen, wenn er sagt, dass die
Flüchtlinge auch eine Chance für Deutschland seien. Jene 500000 bis
600000 Asylsuchenden, die in diesem Jahr kommen und ein Bleiberecht
hätten, könnten das "Land jünger und attraktiver" machen. Gleichzeitig
sagte er Ländern und Kommunen Rückendeckung vom Bund zu. Denn der könne
dafür sorgen, eigene Liegenschaften unkompliziert für den Asylbereich
zur Verfügung zu stellen. Dann ist Gabriel am Ende. Schnell wechselt er
noch ein paar Worte mit seinem Parteifreund, Sachsens
Wirtschaftsminister Martin Dulig, sowie dem Heidenauer Bürgermeister
Jürgen Opitz (CDU), und schon ist er weg.
Die Mitarbeiter im benachbarten Möbelhaus scheint das wenig zu berühren.
Immer mal wieder haben sie hinüber geschaut zu Mikrofonen, im Grunde
aber plagen sie andere Sorgen. Es geht um die eigene Kundschaft. "Das
wird schon weniger werden", meint ein Mann, der gerade Kartons in ein
Lager bringt. "Die meisten haben doch Angst, hierher zu kommen." Am Ende
blieben sie ganz weg. Wovor sie Angst haben? "Nicht vor den
Asylbewerbern", sagt der Mitarbeiter, "von denen geht keine Gefahr aus."
Bedrohlich seien vielmehr "die anderen". Damit meint er jene
Randalierer von ganz rechts außen, die Heidenau derzeit unsicher machen.