Hauptstadt der Krawalle

Erstveröffentlicht: 
16.06.2015

Leipzig sucht nach den jüngsten gewalttätigen Ausschreitungen nach einer angemessenen Antwort. Und mancher beschwört den berühmten Bürgersinn.

 

Leipzig

In Leipzig sind sie stolz auf ihren Bürgersinn, ihre Zivilcourage. Sie haben 1989 die SED zum Teufel gejagt, indem Zehntausende friedlich, mit Kerzen in der Hand und Angst im Bauch, um den Innenstadtring zogen. Sie haben in den Jahren um die Jahrtausendwende den Neonazis und ihren Aufmärschen die Stirn geboten. Und als die Islamfeinde von Pegida im Januar mit einem Ableger auch Leipzig erreichten, stellten sich ihnen 30 000 in den Weg. Legida ist seitdem auf ein mageres Häuflein von wenigen hundert geschrumpft, dominiert von Rechtsextremisten. Aber gegen die Linksautonomen, so scheint es, kommen sie in Leipzig einfach nicht an. 

 

Leipzig ringt um Fassung


Eine gute Woche nach der jüngsten Gewaltorgie ringt die Stadt immer noch um Fassung, um Erklärungen und um eine angemessene Antwort. In der Nacht zum vorvergangenen Sonnabend hatten 100 teils vermummte Randalierer in der Innenstadt mit Brandsätzen und Steinen Scheiben, Wartehäuschen und Autos demoliert; auch das Bundesverwaltungsgericht und das US-Konsulat wurden attackiert.

 

Es ist der vorläufige Endpunkt einer Chronik der Gewalt. Januar: Im Wochenabstand fliegen Steine auf eine Polizeiwache im linksalternativen Stadtviertel Connewitz und auf Schaufenster im Zentrum. Im März ist die Staatsanwaltschaft das Ziel von Randalierern, im April die Ausländerbehörde. 

 

Christian Wolff beschwört den Bürgersinn


Manche, wie Christian Wolff, beschwören nun den Leipziger Bürgersinn. Der ehemalige Pfarrer der Thomaskirche, ein ebenso streitbarer wie geachteter Mann, erinnert an Christian Worch. Es ist eine ganze Weile her, da hatte der damals bundesweit bekannte Neonazi Jahr für Jahr Aufmärsche in Leipzig organisiert, bis er schließlich 2007 entnervt aufgab. Das lag an internen Querelen innerhalb der rechten Szene. Aber nicht nur.

 

Von Anfang an, daran erinnert nun Wolff, hätten sich wesentliche Teile der Stadtgesellschaft dem rechtsradikalen Treiben friedlich entgegengestellt, „der jeweilige Oberbürgermeister, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, viele Einzelpersonen“. Das breite Bürgerbündnis trug auch dann noch, als nach Worchs Rückzug lokale Nazi-Größen in die Bresche sprangen. Was das mit Linksautonomen zu tun hat? Noch einmal Christian Wolff: Die Stadtgesellschaft habe sich nicht zurückgelehnt „und diesen Gruppen den Protest überlassen“. Bei den Neonazis nicht. Und im übrigen auch bei Legida nicht.

 

Die selbst ernannten Retter des Abendlandes sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. Linke Gewalt aber kommt immer wieder, allem friedlichen Protest zum Trotz.

 

Bernd Merbitz sieht da einen Zusammenhang. Als zum Jahresende 2014 bekannt wurde, dass es die von Rechtsradikalen gesteuerte Legida-Bewegung geben wird, war das für die linksautonome Szene wie ein Weckruf, meint Leipzigs Polizeipräsident. Pegida und Co seien wie ein „Katalysator“ für die „linksextremistische Szene“, die „goldene Zeiten“ anbrechen sehe. Merbitz, ein alter Haudegen in sächsischen Polizeidiensten, rechnet damit, dass noch mehr passiert. Er spricht mittlerweile von „kriegerischen Angriffen“ gegen die Polizei. Die Gewalt der Leipziger Szene wirke zudem einladend auf Gleichgesinnte in anderen Städten. „Es tritt ein sich selbst verstärkender Effekt ein.“

 

Dabei ist das alles nicht neu. Blick in den sächsischen Verfassungsschutzbericht: Demnach hat sich der Schwerpunkt der autonomen Szene im Freistaat in den zurückliegenden Jahren deutlich von Dresden nach Leipzig verschoben. Der Geheimdienst rechnet der grundsätzlich als gewaltbereit eingestuften Szene 360 Angehörige zu, die Hälfte davon in Leipzig. Und weiter: Für „unangemeldete Aktionen“ ließen sich jeweils 100 bis 200 Leute mobilisieren, Tendenz steigend. 

 

Entwicklungen sind nicht neu


„Wir erleben nichts Neues, sondern eine Häufung“, beschreibt denn auch Polizeichef Merbitz, was sich gerade in Leipzig abspielt. Weder die Polizei noch das Rathaus hätten es verhindert, dass sich die linksextremistische Szene in den vergangenen Jahren derart entwickelt habe. „Für beide Seiten kein Ruhmesblatt“, findet Leipzigs oberster Polizist.

 

Er hat nun eine Sonderkommission gebildet, sie sucht mit Plakaten nach Zeugen der jüngsten Ausschreitungen. Merbitz hätte gerne mehr Beamte für den Kampf gegen den Linksextremismus, auch die Lokalpolitiker rufen nun nach mehr Polizei. Womit das Thema in der Landespolitik angekommen ist: Die CDU, die zusammen mit der SPD seit dem vergangenen Sommer in Sachsen regiert, fordert ein hartes Vorgehen. Die Linke, seit 1990 die große Oppositionspartei im Landtag, hält mehr Polizisten für schädlich und provozierend. Sie fürchtet, die Union und die Sozialdemokraten wollten nun einen Überwachungsstaat einführen. Die Linke würde lieber eine tiefschürfende Ursachenforschung betreiben.

 

Merbitz’ Dienstherr, Innenminister Markus Ulbig (CDU), hat auf den Ruf nach mehr Polizeipräsenz zunächst mit dem wolkigen Versprechen einer „vollen Unterstützung“ reagiert. Um die Forderungen wenige Tage später in einem Interview als „populistisch“ abzulehnen. Christian Wolff, der streitbare Pfarrer im Ruhestand, ist fassungslos: „Wie aber sonst“, fragt er, „will man denn Straftaten vereiteln, wenn nicht durch die Polizei?“.