"Integration auf Sächsisch"

Erstveröffentlicht: 
10.06.2015

Syrische Flüchtlingsfamilie darf nach missglückter Abschiebung vorerst in Stollberg bleiben

 

Von Roland Herold


Leipzig. Der Begriff "gelebte Integration auf Sächsisch" stammte von Innenminister Markus Ulbig (CDU) selbst. Ulbig war Anfang April unter dem Eindruck der Pegida-Demonstrationen in Dresden bei der syrischen Flüchtlingsfamilie Merjan in Stollberg zu Besuch gewesen. Dort hatte er ein "Herzlich Willkommen" auf eine Tafel geschrieben, sich auf der Couch und in freier Natur mit den Syrern ablichten lassen und anschließend die Begegnung PR-wirksam auf Facebook gepostet.


Die syrische Familie - der depressive und suizid-gefährdete Vater, die risikoschwangere Mutter sowie die vier Kinder - hatten gerade eine neue Wohnung bezogen. Die drei älteren Kinder sprechen bereits sehr gut Deutsch, die anderen warteten auf einen Deutschkurs, der am 20. Mai beginnen sollte.


Zwei Tage zuvor jedoch, in der Nacht vom 18. zum 19. Mai, klopfte die Polizei an der Tür der Familie und brachte sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zum Flughafen Berlin-Schönefeld, von wo aus sie nach Bulgarien abgeschoben werden sollte. Denn die Merjans waren von dort eingereist und hätten demzufolge auch dort einen Asylantrag stellen müssen. Selbst Sachsens Ausländerbeauftragter Geert Mackenroth hob die Hände. Der Härtefallkommission sei es nicht möglich, einzugreifen. Die Merjans wussten darum, hofften nach dem Besuch Ulbigs, dem sie das Problem anvertrauten, jedoch auf ministeriale Gnade. Stattdessen kam die Polizei.


Auf dem Flughafen in Berlin eskalierte die Situation dann. Die vier syrischen Kinder mussten mit ansehen, wie sich ihr Vater und ihre schwangere Mutter so sehr gegen die Beamten wehrten, dass sich schließlich die Besatzung der bulgarischen Maschine weigerte, die Abgeschobenen an Bord zu nehmen.


Der öffentliche Aufschrei der Empörung danach war entsprechend groß: Die Grünen und Linken sprachen von einer inhumanen Abschiebepolitik des Freistaats und davon, dass der Familie falsche Hoffnungen gemacht worden seien. Die Kirche in Stollberg, die sich um die Flüchtlinge kümmerte, kritisierte die "Realitätsferne" des sächsischen Ausländergesetzes.


Nur Innenminister Ulbig ging auf Tauchstation. Seine Sprecher erklärten, der Fall sei zwar misslich, aber rechtens.Gestern nun zog das Verwaltungsgericht in Chemnitz die Reißleine. Die 5. Kammer ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage der syrischen Familie gegen deren Rückführung nach Bulgarien bis zur Entscheidung der Verfahren in der Hauptsache an. Die Merjans gehörten laut Begründung aufgrund ihrer besonderen familiäre Situation zu einer Personengruppe mit gesteigertem Schutzbedürfnis, der im Einzelfall eine Rückführung nicht zuzumuten sei, hieß es weiter.


Die Freude im Innenministerium über die Atempause der Besuchten las sich dann gestern so: "Nach gescheiterter Durchsetzung der Ausreisepflicht wird routinemäßig vorübergehend eine Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz erteilt. Die zuständige Untere Ausländerbehörde des Landkreises Erzgebirgskreis prüft bei veränderten Lebensumständen daraus resultierende Reflexe auf das künftige Aufenthaltsrecht der Familie."


Für die Merjans geht damit das Bangen in eine neue Runde. Die Familie befindet sich gegenwärtig in Stollberg in Obhut der Kirche. Von der "gelebten Integration auf Sächsisch" hat sie aber bereits mehr als genug erlebt.