Der Mann, den sie beim Verfassungsschutz "Corelli" nannten, war sehr umtriebig. Wenn sich irgendwo in der Republik Rechtsextremisten trafen, war Corelli meist nicht weit.
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz galt er als Top-Quelle. Und das Amt ließ sich seinen V-Mann einiges kosten: Insgesamt 296 842,83 Euro kassierte Corelli während seiner 18-jährigen Spitzeltätigkeit. So steht es in einem geheimen Bericht des Sonderermittlers Jerzy Montag, den Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR einsehen konnten.
Der Grünen-Politiker Montag hat den Fall "Corelli" im Auftrag des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags untersucht. Die Abgeordneten wollten im Zusammenhang mit den NSU-Ermittlungen mehr über Corelli erfahren. Das Ergebnis ist ein gut 300 Seiten starker Bericht, in dem der Sonderermittler akribisch die Geschichte des V-Manns nachzeichnet.
In der rechten Szene trug Corelli den Spitznamen "HJ Tommy", im bürgerlichen Leben hieß er Thomas Richter. Im vergangenen Jahr starb er überraschend mit 39 Jahren - an einem Zuckerschock. Der Mann mit den vielen Identitäten soll unter unerkanntem Diabetes gelitten haben. Fremdeinwirkung ist durch Experten und Gutachten ausgeschlossen worden. Der plötzliche Tod wurde trotzdem zum Politikum - denn Corelli könnte Kontakte zu den NSU-Terroristen gehabt haben.
Vier V-Leute unter sich
Der ehemalige V-Mann starb, bevor die Ermittler ihn zu einem Datenträger befragen konnten, der von Corelli stammte und auf dem schon vor Jahren von einem "Nationalsozialistischen Untergrund" die Rede war. Eine solche CD schlummerte jahrelang in der Ablage des Bundesamts für Verfassungsschutz, ohne dass jemand die Brisanz bemerkt haben will.
Die Auswertung der CD sei "grob regelwidrig" gewesen, schreibt Montag. "Sie ist schlicht unterlassen worden." Gefunden wurde der Datenträger letztlich von den Beamten des Bundeskriminalamts - der Verfassungsschutz "war nicht in der Lage, sie im eigenen Haus zu finden".
Corelli hatte dem Verfassungsschutz im Laufe der Jahre sehr viel Material geliefert. Über Neonazi-Bands, über rechte Foren, Personen und Veranstaltungen. Er hatte auch Zugang zu einer Ku-Klux-Klan-Gruppe in Baden-Württemberg, der außer Corelli zeitweise sogar Polizisten angehörten. Einer der Beamten war später der Truppführer der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 vom NSU ermordet wurde. Die ersten Informationen, dass Polizisten in dem rassistischen Geheimbund mitmachten, stammten von Corelli.
Bei dessen Arbeit sei es wegen der problematischen V-Mann-Dichte in der Neonazi-Szene mitunter zu "skurrilen" Situationen gekommen, heißt es in dem Bericht des Sonderermittlers: So hätte sich Corelli einmal mit den damaligen Klan-Anführer in einem Chat über zwei weitere Rechtsextremisten ausgetauscht. Was sie wohl nicht wussten: Alle vier Personen waren V-Leute.
Für Corelli war die Arbeit als Spitzel weit mehr als nur ein Nebenerwerb. Er verdiente damit zeitweise mehr Geld als mit seinem regulären Job bei einem Lederwaren-Händler; zumal das Amt ihm auch großzügig Auslagen erstattete. Von 2002 an kam Corelli auf Beträge von mehr als 1000 Euro im Monat - steuerfrei.
Auffällig sei, so der Sondermittler Jerzy Montag, dass zugunsten von Corelli "häufig Sonderprämien etc. ausgezahlt wurden, wenn seine umfangreiche EDV-Anlage ganz oder teilweise beschlagnahmt oder eingezogen wurde". Damit sei "der mit der strafrechtlichen Maßnahme verfolgte Ahndungseffekt wirtschaftlich konterkariert" worden. Im Klartext: Der Geheimdienst hat die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft hintertrieben.
Unter anderem wurde dem V-Mann auch Geld für Autos und zum Begleichen von Schulden gegeben. Zudem fielen Kosten für die "Unterbringung durch befreundeten Auslandsdienst" und "Kosten einer Sprachschulungsmaßnahme im Ausland" an.
Corelli war in der Szene eine Art Internet-Experte. Er betrieb mehrere Internetseiten selbst und wurde von Kameraden um Unterstützung in Computerfragen gebeten. Die Beamten des Verfassungsschutzes bekamen durch den Spitzel Zugang zu zahlreichen Chats und geschlossenen Foren. Sie kannten zum Teil auch Corellis Passwörter. Sie hießen zum Beispiel "landser", "nazi" und "verrat" - für Jerzy Montag einer von mehreren Hinweisen darauf, dass der Spitzel, anders als von einem Beamten des Verfassungsschutzes dargestellt, selbst ein überzeugter Rechtsextremist war.
Corelli stellte auch Speicherplatz für das Neonazi-Magazin Der Weisse Wolf zur Verfügung, in dem bereits nach der Jahrtausendwende eine Grußbotschaft mit NSU-Bezug auftauchte. Corelli war in vielen Online-Foren unterwegs. Einer seiner Beiträge endete am 13. Juni 2006 mit den Worten: "In diesem Sinne: Heute ist nicht aller Tage..." Diesen aus der Zeichentrickserie "Der rosarote Panther" bekannten Spruch benutzen später auch die NSU-Terroristen.
Bei Vernehmungen hat Corelli Kontakte zum NSU bestritten. Sein Name fand sich jedoch 1998 auf einer Kontaktliste von Uwe Mundlos. Mindestens ein Treffen der beiden - vor Mundlos' Untertauchen - gilt als belegt. Denn Corelli gab Daten über Mundlos weiter ans Amt. Das war 1995. Das Treffen soll bei der Bundeswehr gewesen sein, vermutlich im Sanitätszentrum in Gera. Über den NSU lieferte Corelli den Behörden dann jedoch keine Informationen - soweit sich dies aus den Akten ergebe, die er habe einsehen können, heißt es vorsichtig in Montags Bericht.
Corelli kam aus Halle an der Saale. Er hatte seine Dienste zunächst dem Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt angeboten, auch vom nordrhein-westfälischen Inlandsgeheimdienst kassierte er mal Geld. Später übernahm ihn das Bundesamt und führte ihn mit einer zweijährigen Unterbrechung von 1994 bis 2014. Nach einer Enttarnung im Jahr 2012 lebte Corelli unter neuem Namen in Paderborn, weiterhin betreut von Beamten des Bundesamts. Als sie ihn im April 2014 besuchen wollten, lag er tot auf dem Bett. Vor seinem Tod soll er im Internet noch nach Ärzten gesucht haben.
Corelli ist mehrmals straffällig geworden, unter anderem wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen des Zeigens von Bildern mit Hakenkreuzen im Internet. Bei einer Hausdurchsuchung wurde die Kampschrift "Der Weg vorwärts" gefunden. Darin wird für eine zellenartige militante Organisation plädiert, die Anschläge auf Migranten verüben soll. Durchsuchungen gab es bei Corelli häufiger, die Polizei wusste wohl im Regelfall nicht, dass er V-Mann war.
In einem Fall vor 20 Jahren sei aber das Bundeskriminalamt (BKA) vom Verfassungsschutz gebeten worden, dieses vor Maßnahmen zu informieren. Das BKA ließ sich offenbar darauf ein. Es sei "befremdlich", so Jerzy Montag, dass ein Verfassungsschützer als Zeuge im NSU-Untersuchungsausschuss sich dazu verstiegen habe, dass es solch Einflussnahmen nie gegeben habe.
Es sei "vielfach" gegen Thomas Richter alias Corelli ermittelt worden, heißt es in dem Bericht für das Kontrollgremium. Obwohl der V-Mann immer wieder dazu angehalten worden sei, keine Straftaten zu begehen, "zeigt seine Entwicklung, dass dies in rechtsextremistischen und neonazistischen Szenen nicht möglich ist". Die Belehrungen des V-Manns durch seine V-Mann-Führer seien ihm "unehrlich" vorgekommen, schreibt der Sonderermittler. Eine Vielzahl der begangenen Straftaten müsse sich das Bundesamt für Verfassungsschutz "zurechnen lassen".
Querulant bei der Bundeswehr
Der Sonderermittler Jerzy Montag erhielt Zugang zu Akten nicht nur beim Bundesamt für Verfassungsschutz, sondern auch bei anderen Behörden. Nach offenbar intensiven Recherchen machte er beispielsweise auch die alten Wehrpflichtakten von Thomas Richter alias Corelli ausfindig. Bei seiner Musterung gab Richter an, die Hauptschule ohne Abschluss verlassen und keinen Beruf erlernt zu haben.
Richter schrieb, er wolle den Dienst mit der Waffe verweigern; der Brief wurde aber offenbar nicht als offizieller Antrag gewertet. Da er nicht zum Einberufungstermin erschien, suchten ihn die Feldjäger. Schließlich ging er doch zur Bundeswehr, wo er umgehend über zahlreiche angebliche Gebrechen klagte. Er erwähnte damals auch, dass sein Vater Diabetes gehabt habe.
Bei der Bundeswehr erschien er den Vorgesetzten schnell als Querulant. Ihm wird eine "Leistungsfunktionsstörung" attestiert. Schließlich stellte Richter doch noch einen richtigen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Ihm wurde stattgegeben.
Es sei "auffällig", schreibt der Sonderermittler, dass ein Mann, der seit seinem 16. Lebensjahr in einer neonazistischen Umgebung sozialisiert wurde, "sich plötzlich als pazifistischer Kriegsdienstverweigerer outet". Und es sei nicht ausgeschlossen, dass der Verfassungsschutz seinem Spitzel bei der Verweigerung sogar noch geholfen habe.